Autoritäre Entwicklungen im Europa der Zwischenkriegszeit  

erstellt am
12. 02. 04

Referat von Dan Diner beim Symposion über den Februar 1934
Wien (pk) - In seinem Einleitungsreferat beim Symposion über die Ereignisse des Februar 1934 ging sodann Dan Diner auf die "Entwicklung zur Diktatur im Europa der Zwischenkriegszeit" ein. Was die Ausführungen seiner Vorredner betrifft, so merkte er eingangs ein, dass es eine undankbare Aufgabe sei, über eine Bürgerkriegssituation zu sprechen. Das beste Beispiel des wohl eklatantesten Bürgerkrieges der Zwischenkriegszeit biete der spanische Bürgerkrieg. Seit dem Tode Francos habe es bis vor einem Jahr keine öffentliche Rede, keinen öffentlichen Diskurs über den Bürgerkrieg gegeben. Jetzt existiere ein Diskurs, führte Diner weiter aus, aber keiner, der politisch sei, sondern einer, der gleichsam eine Neutralisierung der Gedächtnisse nach sich ziehe. Insofern sei er auch dankbar dafür, dass er nicht beauftragt sei, über die österreichischen Verhältnisse und den Februar 1934 zu sprechen; dies würde er als Einmischung in fremde Gedächtnisse empfinden.

Er wolle vielmehr einen Überblick bzw. eine Panoramasicht über die Entwicklung zur Diktatur im Europa der Zwischenkriegszeit bieten, erklärte Dan Diner. Es möge erstaunen, aber man könne davon ausgehen, dass bereits am 27. März 1930 jene Entwicklung begann, die Europa in die Krise stürzte. An diesem Tag erfolgte nämlich in Deutschland eine überaus dramatische Weichenstellung von der Demokratie hin zur Diktatur; und dies gerade in einem Land, dessen pivotale Bedeutung für das Schicksal Europas offenkundig war. Diner wies darauf hin, dass am 27. 3. 1930 das letzte parlamentarische Kabinett der Weimarer Republik stürzte, die sozialdemokratisch geführte Koalitionsregierung unter Kanzler Hermann Müller. Eigentlich ging es nur um eine Lappalie, nämlich die geplante Erhöhung der Arbeitslosenversicherung um ein Viertel Prozent, was jedoch von der SPD-Fraktion abgelehnt wurde und was schließlich zum Sturz der Regierung Müller führte, erklärte Diner. Die deutsche Sozialdemokratie war in eine Falle gelaufen, ihr waren alle weiteren Optionen politischen Handelns verbaut. Die um den mit den Ausnahmeparagraphen ausgestatteten Reichspräsidenten Hindenburg versammelten Kräfte hatten längst auf den mit Notverordnungen regierenden Zentrumsmann Heinrich Brüning gesetzt. Es galt nämlich, die Sozialdemokratie als republik- wie demokratietragende Partei Weimars von der Macht fern zu halten und einen autoritären Regimewechsel einzuleiten. Die rigorose Deflationspolitik Brünings heizte die Arbeitslosigkeit an und durch die Ausschreibung von Neuwahlen übertrug der als "Hungerkanzler" geschmähte Brüning die vom sozialem Elend angefachte Radikalisierung der Straße in die Reihen des Reichstages.

Das Ergebnis war schließlich die Selbstblockade des Parlaments durch eine 1932 von den so genannten Antisystemparteien erreichte negative Mehrheit, von NSDAP und KPD. Bereits vor dem Ende des nicht mehr allzulangen Weges zur Kanzlerschaft Hitlers, am 30. Jänner 1933, hatte die Demokratie also ausgespielt, resümierte Diner.

Der 30. Jänner 1933 ist die negative Zeitikone deutscher, europäischer und weit über Europa hinausreichender Geschichte. Alle weiteren auf die Katastrophe des alten Kontinents zustrebenden Ereignisse finden sich auf dieses Ursprungsdatum zurückgeführt, meinte Diner. Zwar waren die Ereignisse des März 1933 und des Februar 1934 eigenständige österreichische Vorgänge gewesen, dennoch standen auch sie im Schatten Deutschlands. Die Zwischenkriegszeit sei ein Gedächtnisraum von ganz besonderer Eindringlichkeit. Diese Zeit zwischen Demokratie und Diktatur wird sowohl in der seriösen Geschichtsschreibung als auch in der populären Erinnerung als eine Zeit der verpassten Chancen, der nicht eingeschlagenen Wege gesehen. Die Epoche zwischen den Weltkriegen sei zudem zeitlich ebenso kurz wie in dramatischer Weise ereignisreich, führte Diner weiter aus. Sie stehe im Zeichen eines ihr vorausgegangenen epochalen Einschnitts, nämlich dem Ersten Weltkrieg und seiner Folgen. Diese Urkatastrophe der europäischen Geschichte führte zu einer Zeitenscheide; Krieg und Revolution sowie die Konstitution von neuen Staaten und Nationen gingen Hand in Hand.

Die zu den Unterlegenen gehörenden Staaten wurden zudem von Erhebungen geschüttelt, von Revolution und Konterrevolution. Die revolutionären Erhebungen erfolgten gerade dort, wo Vielvölkerreiche unter dem Druck der Kriegsereignisse auseinander brachen. Aus ihren Trümmern gehen dann im wesentlichen solche Gemeinwesen hervor, die "sich als Nationalstaaten dünkten, aber nicht weniger multinational komponiert waren, als eben jene Imperien, die sie zu Grabe getragen haben". Die folgende Zeit war daher durch zahlreiche Minderheiten- und Grenzstreitigkeiten geprägt, was Diner durch zahlreiche Beispiele illustrierte. Wegen der erfolgten Gebietsverluste und Gebietsgewinne standen sich in Zentraleuropa "weiß und rot eingefärbte Nationen" feindlich gegenüber. Diese Unterscheidung decke sich im großen und ganzen mit jenen künftigen politischen Gegnerschaften von solchen Staaten, die eine territoriale Revision begehrten und solche, die den Status quo von 1919 zu sichern trachteten.

Das vom Völkerbund ausgehende System der kollektiven Sicherheit in Europa stand "auf tönernen Füßen", und dies von Anfang an, konstatierte Diner. Allein durch den Umstand, dass die Vereinigten Staaten der Genfer Liga nicht beigetreten waren und sich 1920 aus Europa in die amerikanische Isolation zurückzogen, wurde der alte Kontinent sich selbst überlassen. Hitlers Aufstieg und seine Politik der Revision des Pariser Friedens von 1919 in den 30er Jahren bedeutete die Verschärfung einer Tendenz, die bereits zuvor angelegt wurde. Das Beispiel Polens etwa verdeutliche, dass nicht erst die Wirtschaftskrise 1929 dazu beigetragen hat, parlamentarische Demokratien in autoritäre Regime umzuformen.

Der Verfall der parlamentarisch-demokratischen Ordnung setzte schon in den 20er Jahren ein, ergänzte der Vortragende. Dabei lassen sich nach Auffassung Diners verschiedene Typen der diktatorischen Umformung in Europa erkennen. Einerseits gab es autoritäre Regime, deren wesentliches Ziel es war, den bloßen territorialen Zusammenhalt des Gemeinwesens zu garantieren (z.B. Polen und Jugoslawien). Das faschistische Italien wiederum trage ein neues, ein korporatistisches Motiv in das Regime der Diktatur hinein: Italien huldigte dem totalitären Staat. Totalitär wurde auch das nationalsozialistische Deutschland, da es sich der Gesellschaft gegenüber "anstaltlicher Gewalt bediente". In Südosteuropa, von der iberischen Halbinsel bis zum Balkan, färbte sich die Karte - bei nicht unerheblichen Unterschieden der Regime untereinander - in den 20er und 30er Jahren diktatorisch ein. Ebenso ist eine östliche Nord-Süd-Achse diktatorischer Einfärbungen von Regimen zu beobachten, vom Baltikum bis zum Balkan. Die Regime im Westen und Norden Europas hingegen bewahrten ihren parlamentarisch demokratischen Charakter.

Die Verwandlung Deutschlands in eine Diktatur ganz besonderen Typs lasse sich nicht mit dem Hinweis auf andere in der Zwischenkriegszeit autoritär regierte Länder vergleichen. Ebenso sei dem Versuch, zur Erklärung dieses Enigmas historisch weit zurückliegende Vergangenheiten ins Spiel zu bringen, so genannte Sonderwege, mit Skepsis zu begegnen. Im Vergleich mit anderen Ländern falle auf, dass die als konstitutionelle Monarchien verfassten Gemeinwesen, wie England, Belgien, Niederlande und die skandinavischen Länder, die Erschütterungen durch die Weltwirtschaftskrise unter Wahrung ihres politischen Regimes unbeschadet überstanden. Dabei steche ins Auge, dass keines dieser Länder, außer England und Belgien, vom Weltkrieg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Tatsache war jedoch, dass Deutschland für die in der Zeit des Wilhelminismus geprägten Menschen ein gänzlich anderes Land geworden war. Es schien, als wanke das Reich, aller bewährten und traditionellen Bindungen ledig, von Krise zu Krise. Die ständig und immer wieder insinuierte Kausalität von 1919 und 1933 sei aber demagogisch, betonte Diner. Schließlich erfolgte die nationalsozialistische Machtergreifung nicht unmittelbar nach dem Weltkrieg, sondern nach einer Phase der Erholung und Stabilisierung.

Wenn man das Deutschland der Zwischenkriegszeit mit England und Frankreich vergleiche, so stelle sich die Frage, warum diese Länder die große Wirtschaftskrise 1929 überwanden, ohne einer autoritären Versuchung zu erliegen. Dies sei freilich nicht ganz zutreffend, meinte Diner, da autoritäre Züge ganz unterschiedlicher Art auch den beiden Mutterländern der Demokratie anhafteten. In Frankreich aber brach die Krise nicht so massiv ein, was wohl auch daran gelegen war, dass sich die Kreditaufnahmen des Landes zuvor in Grenzen gehalten haben. Auch die Arbeitslosigkeit befand sich in Frankreich auf vergleichsweise niedrigem Niveau.

Auf politischer Ebene wurde trotz vieler Konflikte in den Parlamentsausschüssen immer wieder Übereinstimmung zwischen den Parteien gesucht. Dort kam die Traditionsbildung der politischen Klasse zur Geltung und es wurden die ideologischen Differenzen neutralisiert. In England wiederum wurde die Krise aufgrund der politischen Kultur des Konsenses und des sich in Krisenzeiten bewährenden - im Prinzip wenig demokratischen - Mehrheitswahlrechtes bewältigt, urteilte Diner. 1931 wurde ein die nationalen Gegensätze ausgleichendes "national government" gebildet, wodurch sich die britische Bevölkerung im Grunde einem selbst verfügten Autoritarismus unterstellte. England erholte sich viel schneller von der Krise und mit staatlicher Unterstützung gelang es z.B., mehr als 1 Million Menschen mit Wohnraum zu versorgen. Solche Maßnahmen des national government neutralisierten die Massenarbeitslosigkeit, bis sie sich durch die Kriegskonjunktur gänzlich auflöste.

In Deutschland hingegen diktierten Ideologie und sektorale Interessen das Verhalten der Parteien, die es nicht vermochten, den Anforderungen der Massengesellschaft und den institutionellen Vorgaben von Parlamentarismus und Republik zu entsprechen. Die von ihnen getragenen schwachen staatlichen Institutionen wurden von der Wucht des Projektils der Weltwirtschaftskrise unumwunden durchschlagen. Das war die Lage, mit der die deutsche Sozialdemokratie am 27. März 1930 unter der Kanzlerschaft Hermann Müllers konfrontiert war. Sie trage ohne Zweifel ein gehöriges Maß an Verantwortung für den Verfall der republikanischen Institutionen. Schuldig an der sich daraus entwickelnden Katastrophe waren jene Kräfte des ancien regime, die von Anfang an beabsichtigt hatten, die Republik, die Demokratie und den Parlamentarismus zu zerstören. "Sie ließen die Schotten der Institutionen fluten und verhalfen so Hitler zur Macht", schloss Diner.
     
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