Sandgruber und Maderthaner beim Symposion zum Februar 1934
Wien (pk) - Beim Symposion über die Ereignisse des Februar 1934 erinnerte Roman Sandgruber
einleitend an die Opfer, die der österreichische Bürgerkrieg vom 12. bis zum 15. Februar 1934 forderte:
zweihundert Tote auf Seiten der Sozialdemokraten, 124 Opfer bei Heer und Heimwehr, zudem Hunderte Verletzte sowie
einen hohen Anteil von Frauen und Kindern unter den Opfern. Sandgruber machte auf die blutige Spur aufmerksam,
die die politische Gewalt durch die Erste Republik zog - von 1918 bis zum Bürgerkrieg im Jahr 1934 waren bereits
217 Menschen aus politischen Gründen getötet und 642 schwer verletzt worden.
Diese Situation habe sich durch das Hereinbrechen der Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929 verschärft, sagte
der Historiker und zeigte anhand ökonomischer Daten auf, dass Österreich schwerer und hartnäckiger
getroffen wurde als andere Länder. Dies deshalb, weil Österreich am Beginn der Dreißiger Jahre
immer noch an den wirtschaftlichen Folgen des Zerfalls der Habsburgermonarchie sowie der Hyperinflation, den hohen
Zinssätzen und geringer Investitionsbereitschaft litt. Dazu kamen der Zusammenbruch des Außenhandels
und die Kapitalvernichtung infolge von Bankenzusammenbrüchen, die den wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum
sehr eng machten. Außerdem übte Deutschland ab 1933 politische und wirtschaftliche Pressionen auf Österreich
aus.
Sandgruber wies auch auf Versäumnisse der österreichischen Wirtschaftspolitik hin, die kurzfristig keine
Erfolge zeigte und langfristig ihre Bewährungsprobe nicht habe antreten können. Die österreichische
Arbeitslosenrate erreichte im Jahr 1933 mit 27,2 % ihren Höhepunkt und lag im Jahr 1937 immer noch bei 21,7
%. Dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland im selben Zeitraum von 30,1 % auf 4,6 % gedrückt werden konnte,
sei nur vordergründig als Erfolg der nationalsozialistischen Beschäftigungspolitik zu deuten. "Diese
Politik war ein gefährliches Spiel mit dem Feuer", führte der Wirtschaftshistoriker aus. Sie war
auf verdeckter Verschuldung öffentlicher Haushalte, getarnter Geldschöpfung sowie auf Gewalt und Zwang
aufgebaut. Die Neuverschuldung des Deutschen Reiches erreichte 1933 und 1934 jeweils die halbe Höhe der gesamten
Steuereinnahmen. Schon 1938 sei die Situation so verfahren gewesen, dass Deutschland den Ausweg nur mehr in der
Beraubung verfolgter Gruppen und in der Ausbeutung eroberter Gebiete suchen konnte.
Im Zuge der Krise stieg die Anhängerschaft der NSDAP in Österreich ab 1931 zeitverzögert zu Deutschland
sprunghaft an. Hatte sie bei den Nationalratswahlen 1930 nur 3 % der Stimmen gewinnen können, erreichten sie
1932 bei den Landtagswahlen in Vorarlberg 11 %, in Niederösterreich 14,1 %, in Wien 17,4 % und in Salzburg
20,8 % sowie bei Gemeinderatswahlen in Innsbruck und Landeck 1933 jeweils mehr als 40 %.
An dieser Stelle zitierte Sandgruber den renommierten britischen Historiker Eric Hobsbawm, der in Wien aufgewachsen
war und die Jahre 1933 und 1934 als junger Kommunist in Berlin erlebte. In seiner kürzlich erschienen Autobiographie
macht Hobsbawm den bürgerlichen Parteien in Deutschland den Vorwurf, gegen Hitler nicht die Notbremse gezogen,
die Wahlen verhindert und der Welt damit die Tragödie des Nationalsozialismus erspart zu haben. Der österreichische
Ständestaat habe dies versucht, sagte Sandgruber. Er sei gescheitert, weil es ihm nicht gelang, die Machtergreifung
des Nationalsozialismus zu verhindern, weil er vor allem die Wirtschaftskrise nicht bewältigen konnte und
weil er die Österreicher nicht hinter sich zu sammeln und ihnen nicht die propagierte eigenständige Identität
zu vermitteln vermochte.
Die Entwicklung der Zweiten Republik zeige hingegen ein völlig anderes Gesicht: Konsens statt Konflikt, Partnerschaft
statt Konfrontation, Wachstum und Wohlstand statt Stagnation und Not. Dies sei zuvorderst der weltwirtschaftlichen
Entwicklung, der Westorientierung Österreichs, aber auch der Lernfähigkeit der österreichischen
Parteien zu danken - zu einem kleinen Teil aber auch dem Ständestaat, der Österreich für die Nachkriegszeit
den überparteilichen Gewerkschaftsbund und die Sozialpartnerschaft hinterlassen habe, schloss Roman Sandgruber.
Auch Wolfgang Maderthaner beleuchtete zunächst die Auswirkungen der im Herbst 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise
in Österreich, die alle Schichten und Klassen der österreichischen Gesellschaft betroffen und tief greifende
Auswirkungen auf das Gesellschaft, Kultur und politisches System nach sich zog. Die enorme Schrumpfung des BIP
nach 1929 um 25 %, der Rückgang des Produktionsindex um 33 %, der Löhne um 30 % und die zunehmende Beschäftigungslosigkeit
in der Arbeiterschaft auf mehr als 30 % führten zu einem dramatischen Rückgang der Lebenshaltung in der
arbeitenden Bevölkerung, den der Historiker mit Daten zum Rückgang des Brennstoffverbrauchs, der Benützung
öffentlicher Verkehrsmittel und über die Halbierung der Geburtenrate illustrierte.
Von der Krise schwer getroffen waren auch die bürgerlichen Schichten. Die Konkurse und Firmenzusammenbrüche
nahmen auf das Doppelte zu, auch die Verschuldung bäuerlicher Betriebe stieg. Während die Sozialdemokratie
ihr Wählerpotential halten konnte, zeigen die Wahlergebnisse der Dreißigerjahre eine starke Zunahme
nationalsozialistischer Stimmen auf Kosten bürgerlicher Wähler.
Die Weltwirtschaftskrise löste in Österreich auch eine Krise der parlamentarischen Demokratie aus. Die
Werte der gesellschaftlichen Moderne waren bei den bürgerlichen Verlierern der Inflation sowie der politischen
und gesellschaftlichen Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Monarchie diskreditiert. Als Beispiel für die
Attraktivität, die vormoderne, romantische, am Mittelalter orientierte Utopien für deklassierten bürgerlichen
Schichten gewannen, nannte Wolfgang Maderthaner das Buch "Der wahre Staat" aus dem Jahr 1921, mit dem
der Wiener Volkswirtschaftsprofessor Othmar Spann die theoretische Grundlage für die spätere berufsständische
Ordnung gelegt hatte. Ende der zwanziger Jahre ergänzte Othmar Spann die Wirtschaftsstände in seinem
auf den Romantiker Adam Müller zurückgreifenden Gesellschafts- und Staatsmodell "Staatsstand",
mit dem er den Heimwehren - mit denen er inhaltlich und persönlich eng verflochten war, eine besondere Rolle
zudachte.
Es war Bundeskanzler Dollfuß, der an sich in der demokratischen Tradition der Bauernschaft stand, der mit
der parlamentarischen Demokratie brach, sich mit den Heimwehren verband und sich dem Einfluss Mussolinis unterwarf,
um sich vor dem Dritten Reich zu schützen. In seiner Trabrennplatzrede im September 1933 sprach Dollfuß
bereits alle Elemente des Ständestaates an: die neue österreichische Identität gegenüber Deutschland,
die erneuerte Reichsidee mit einer spezifischen katholischen Mission Österreichs im Sinne eines sozialen und
christlichen österreichischen Staates. Der Ständestaat verstand sich als Alternative zur gesellschaftlichen
Moderne, zum liberal verfassten Kapitalismus und zum egalitären Sozialismus; er habe den Gesellschaftsvertrag
im Sinne der Aufklärung suspendiert, sagte Maderthaner. |