Bonn (alphagalileo) - Im Gehirn wirken verschiedene Müdemacher; einer davon
ist der Botenstoff GABA. Bislang vermutete man, dass Baldrian irgendwie in den GABA-Regelkreis eingreift. Dabei
gibt es auch noch ein ganz anderes „Müdigkeits-Molekül“, das Adenosin: „Adenosin induziert Schlaf“, sagt
Christa Müller, Professorin für Pharmazeutische Chemie in Bonn. „Wenn man Tiere dauerhaft wach hält,
häuft es sich in ihrem Gehirn mehr und mehr an.“ Das Molekül bindet an bestimmte Nervenzell-Rezeptoren,
die Adenosin-Rezeptoren vom Typ A1. Damit setzt es eine Kettenreaktion in Gang und macht letztlich schläfrig.
Sein Gegenspieler Koffein kann an dieselben Rezeptoren andocken. Ähnlich wie ein falsches Puzzleteil nicht
zum richtigen Bild führt, blockiert Koffein jedoch lediglich A1-Rezeptoren, bewirkt dort aber keine Reaktion.
Folge für den Kaffeetrinker: Er wird wach.
Lignan macht muntere Männer müde
Als Professor Müller auf eine Publikation stieß, in der beschrieben wurde, dass Baldrian-Extrakt
an Adenosin-Rezeptoren binden kann, wurde sie daher hellhörig. „Wir wiederholten die Versuche und konnten
bestätigen, dass wässrig-alkoholische Vollextrakte aus der Baldrianwurzel zumindest im Gehirn von Ratten
an den A1-Rezeptor binden können. Außerdem konnten wir erstmals zeigen, dass der Extrakt die Rezeptoren
aktiviert, ähnlich wie Adenosin. Versuche mit gentechnisch produzierten menschlichen Rezeptoren ergaben ein
ähnliches Ergebnis.“ Nun zeigte sich auch die Schweizer Pharma-Firma Zeller interessiert. In einer klinischen
Studie maßen Zeller-Forscher die Hirnströme von knapp 50 Versuchspersonen. Nach Koffeingabe verflachten
die Alpha-Wellen, die Entspannung signalisieren; die Beta-Wellen, Anzeichen für Nervosität, wurden im
Gegenzug ausgeprägter. Die Einnahme von Baldrianextrakt neutralisierte diesen Effekt – ein weiterer Hinweis,
dass die Pflanze tatsächlich auf den A1-Rezeptor wirkt.
Welcher Inhaltsstoff an die Rezeptoren andockt, wussten die Bonner damit aber noch nicht. Kontakte zu einer Marburger
Arbeitsgruppe brachten sie schließlich auf die richtige Spur. Die Forscher von der Lahn hatten nachgewiesen,
dass Baldrian verschiedene Verbindungen aus der Gruppe der Lignane enthält. Lignane sind Naturstoffe, die
in vielen höheren Pflanzen vorkommen. Zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Dr. Britta Schumacher dröselte
Müller die Lignan-Fraktionen weiter auf. „Dabei entdeckten wir eine bislang unbekannte Verbindung, die an
den A1-Rezeptor andocken kann und dort eine ähnliche Reaktion hervorruft wie Adenosin.“
Adenosin ist schlecht fürs Herz
Adenosin selbst eignet sich nicht als Beruhigungsmittel, denn es wird innerhalb von Sekunden abgebaut.
Stabile Adenosin-Derivate sind ebenfalls problematisch: Da es im Herzmuskel auch A1-Rezeptoren gibt, allerdings
viel weniger als im Gehirn, können sie zu einer Herzmuskellähmung führen. „Unser Lignan ist dagegen
ein partieller Agonist, das heißt, es entfaltet nur bei der hohen Rezeptordichte im Gehirn seine Wirkung“,
erklärt die Professorin. Spezielle Transportmoleküle scheinen zudem dafür zu sorgen, dass das Lignan
besonders gut ins Gehirn gelangt.
Warum sich das Lignan überhaupt mit dem A1-Rezeptor verträgt, ist noch völlig unklar – die Substanz
hat kaum Ähnlichkeit mit Adenosin. Die Bonner Forscher wollen nun versuchen, das Molekül so zu verkleinern,
dass nur der für die Wirkung wesentliche Teil übrig bleibt. „Dann können wir daran gehen, diesen
Rest im Labor nachzubauen und eventuell so zu verändern, dass er noch wirksamer wird." |