EU-Verfassung: Europa kann sich kein weiteres Scheitern leisten  

erstellt am
15. 04. 04

EU-Ausschuss des Bundesrats: EU-Integration von allen mitgetragen
Wien (pk) - Fragen der Europäischen Verfassung und der Lissabon-Strategie zu mehr Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung waren zentrale Diskussionspunkte des EU-Ausschusses des Bundesrats am Mittwoch (14. 04.) unter der Vorsitzführung von Bundesrat Gottfried Kneifl (V). Seitens des Bundeskanzleramtes und des Außenministeriums erläuterten Botschafter Martin Sajdik sowie Botschafter Hubert Heiss die Schlussfolgerungen der Frühjahrstagung des Europäischen Rates vom 25. und 26. März 2004 und standen den Bundesrätinnen und Bundesräten für Fragen zur Verfügung.

Bundesrat Kneifl betonte, dass alle Mitglieder des EU-Ausschuss des Bundesrates übereinstimmend für die europäische Integration einträten, und wies auf die Notwendigkeit hin, nach der kommenden EU-Erweiterung insbesondere auf die Grenzregionen Österreichs zu achten.

EU-Verfassung: Einigung soll im Juni erzielt werden
Am Beginn der Sitzung ging Botschafter Sajdik kurz auf die Diskussion zu einer Europäischen Verfassung ein. Die irische Präsidentschaft habe auf Grund ihrer Konsultationen in ihrem Bericht an den Europäischen Rat die Ansicht geäußert, dass ein möglichst schneller Abschluss der Verhandlungen allseits für wünschenswert gehalten werde. Dies sei von den Staats- und Regierungschefs begrüßt worden, und der Rat habe daher auch seine Entschlossenheit bekräftigt, eine Einigung über den Verfassungsvertrag zu erzielen, damit die Union den Erwartungen ihrer Bürgerinnen und Bürger besser gerecht werden und eine effizientere Rolle in der Welt spielen könne. Die irische Präsidentschaft sei daraufhin ersucht worden, ihre Konsultationen weiter zu führen und Vorkehrungen für die Wiederaufnahme von Verhandlungen im Rahmen der Regierungskonferenz zu treffen. Der Rat habe auch beschlossen, dass eine Einigung über den Verfassungsvertrag spätestens auf der Tagung des Europäischen Rates am 17. und 18. Juni 2004 erzielt werden sollte.

Wie Botschafter Sajdik weiter ausführte, unterstütze Österreich die irische Präsidentschaft in ihrem Bemühen, einen ehrlichen Kompromiss zu erzielen. Die schwierigsten Fragen beträfen nach wie vor die Größe und Zusammensetzung der Kommission sowie die Definition und den Anwendungsbereich der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit. Österreichs Haltung sei innerhalb gewisser Zumutbarkeitsgrenzen flexibel, bemerkte Sajdik. Gemäß der Grundsatzposition, die auch durch den Beschluss des Hauptausschusses des Nationalrats vom 30. September 2003 unterstützt werde, bemühe sich Österreich im Fall eines Abgehens von der Nizza-Stimmgewichtung um eine möglichst weitgehende Parität der Quoren für beide Kriterien der doppelten Mehrheit. Der während der italienischen Präsidentschaft erreichte Kompromiss stelle aus der Sicht Österreichs ein gutes Zwischenergebnis dar, das außer Streit gestellt werden sollte, sagte Sajdik. Ein abschließendes, ausbalanciertes Paket, das für alle Mitgliedstaaten akzeptabel sei, stehe jedoch noch aus und werde in den nächsten zwei Monaten zu erarbeiten sein.

Auf die Frage des Vorsitzenden Kneifl (V), wie er die Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluss einschätze, räumte Botschafter Sajdik ein, dass zwar noch gewichtige Fragen offen seien, andererseits hätte sich die irische Präsidentschaft nicht so weit hinausgewagt, wenn sie nicht sicher gewesen wäre, eine Einigung bis zum 17. Juni sei zu schaffen. Europa könne sich ein nochmaliges Scheitern nicht leisten, sagte Sajdik und fügte hinzu, dass eine Nichteinigung eine prekäre Situation heraufbeschwören würde.

Bundesrat Albrecht Konecny (S) verlieh seiner Hoffnung nach einem einheitlichen, umfassenden und klaren Vertragsabschluss Ausdruck und bewertete die Haltung der neuen spanischen Regierung positiv. Die Situation in Polen schätzte er als schwieriger ein. Dem konnte Botschafter Sajdik insofern nicht ganz zustimmen, als die Einigung über eine Verfassung nicht nur eine Frage von Polen und Spanien sei. Auch andere Länder, zum Beispiel Deutschland und Frankreich, hätten ganz spezifische Interessen, und die polnische Position sei flexibler geworden. Zur Frage Konecnys nach dem zu erwartenden Ergebnis in Bezug auf die Stimmengewichtung konnte er nichts Konkretes sagen, da zur Zeit die Mathematiker Hochzeit hätten, wie er sich ausdrückte.

Die BundesrätInnen Sonja Zwazl, Andreas Schnider, Hans Ager und Franz-Eduard Kühnel (alle V) sprachen die Solidaritätsklausel und die möglichen Knackpunkte und Erfolgsaussichten bei den kommenden Verhandlungen an. Bundesrätin Zwazl gegenüber bekräftigte Sajdik, dass sich Österreich bei den Verhandlungen immer voll eingebracht habe und dies auch weiterhin tun werde, und zwar sowohl auf Beamtenebene als auch auf der Ebene der Außenminister und Außenministerinnen sowie auf jener der Staats- und Regierungschefs. Er unterstrich nochmals, dass Österreich für jedes Land einen Kommissar verlange und man hinsichtlich der qualifizierten Mehrheit sowohl beim Staaten- als auch beim Bevölkerungskriterium eine Parität anstreben sollte. Das im Dezember Erreichte sollte auf alle Fälle bewahrt werden. Die Solidaritätsklausel des Artikel 42, die vom Verfassungsentwurf nun vorgezogen und beschlossen worden sei, stelle eine politische Verpflichtung bei Terroranschlägen dar. Die Bestimmung berücksichtige jedoch die Interessen der Neutralen und die Mitgliedsstaaten könnten selbst bestimmen, welche Mittel des Beistandes sie für die geeignetsten halten.

Das Spannungsfeld der EU-Grundrechtscharta zur EMRK sowie zur Rechtssprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes wurde von Bundesrat Peter Böhm (F) thematisiert. Dazu meinte Botschafter Sajdik, dass die Auslegung der Grundrechte in der EU durch den EuGH erfolgen werde, es aber anzunehmen sei, dass sich der EuGH auf das Acquis des Menschenrechtsgerichtshofes stützen werde. Ein gewisses Spannungsfeld sei jedoch nicht zu leugnen, und dieses könne nur durch den Beitritt der EU zur EMRK gelöst werden.

Böhm ging auch auf die Schlussfolgerungen des Rates zum Irak ein, die er für überholt hält, und fragte nach der EU-Position zur Lage im Kosovo. Dazu meinte Sajdik, dass die EU ihren Standpunkt, der Kosovo müsse multi-ethnisch bleiben, nicht geändert habe. Es gebe bislang auch keine Alternative zu diesem Konzept. Die Stellungnahme zum Irak beweise die Kurzlebigkeit von Dokumenten.

Die grüne Bundesrätin Eva Konrad erkundigte sich nach der Ursachenbekämpfung im Falle des Terrorismus, worauf Botschafter Heiss bemerkte, dass diese schwierig sei, denn die Ursachen des Terrorismus ergäben ein diffuses Bild und seien nicht monokausal zu sehen.

Wie wirkt sich die Lissabon-Strategie auf den sozialen Zusammenhalt aus?
Botschafter Heiss ging auch auf die Diskussion des Europäischen Rates über die Lissabon-Strategie ein, welche von den Terroranschlägen in Madrid überschattet gewesen sei. Jedenfalls stehe man nun ein Jahr vor der Halbzeit-Evaluierung, die eine Arbeitsgruppe unter dem Vorsitzenden Wim Kok erarbeite. Das Ergebnis dieser Evaluierung werde für Österreich von Bedeutung sein, zumal das erste Jahr der zweiten Halbzeit unter den österreichischen Vorsitz falle und in dieser Zeit auch ein Aktionsplan umzusetzen sei.

Heiss gab zu, dass trotz einiger Fortschritte Umsetzungsdefizite vorhanden seien. Die Schlussfolgerungen des Rates umfassten daher als wesentliche Punkte die Bemühungen um ein nachhaltiges Wachstum und die Beschlussfassung eines so genannten Schnellstart-Programms. Dieses wichtige Infrastrukturprogramm sei für Österreich von Bedeutung, da es auch den Bau des Brenner-Basistunnels umfasse. Der Europäische Rat wolle auch die Wettbewerbsfähigkeit und Innovation durch höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung stärken. Der angestrebte drei-Prozent-Anteil am BIP sei in Österreich noch lange nicht erreicht, obwohl der Anteil der öffentlichen Hand vergleichsweise hoch sei. Schwach sei in Österreich aber der Anteil der Industrie an F&E-Ausgaben. Weitere Schwerpunkte der Schlussfolgerungen beträfen den sozialen Zusammenhalt, ein ökologisch nachhaltiges Wachstum sowie mehr und bessere Arbeitsplätze.

An diesem Punkt hakte Bundesrat Albrecht Konecny (S) ein und kritisierte die aus seiner Sicht erfolgte Schwerpunktverlagerung innerhalb der Lissabon-Strategie. Der Punkt des sozialen Zusammenhalts nehme in den aktuellen Schlussfolgerungen kaum sieben Zeilen ein und man könne von Mal zu Mal beobachten, dass der soziale Schwerpunkt immer geringer werde. Die Lissabon-Strategie habe bislang zu keinem Wachstumsimpuls geführt, sondern in sozialer Hinsicht zu Verarmung; sie habe viele Konfliktsituationen geschaffen, nicht aber eine höhere Wettbewerbsfähigkeit. Dass die Lissabon-Strategie sich als Hemmnis für das Wachstum herausstelle, sei politisch verursacht worden.

Botschafter Heiss meinte dazu, dass die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts nicht an den Zeilen abzulesen sei, da Schlussfolgerungen nicht immer zu allem etwas sagten. Er könne den Eindruck der Umorientierung nicht bestätigen.
     
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