Europäische Kommission drängt Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu Verhandlungen über
die Arbeitszeiten
Brüssel (eu-int) - Die Europäische Kommission appelliert an die auf europäischer Ebene
tätigen Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern („Sozialpartner“), ihren Teil der Verantwortung bei der
Aktualisierung zentraler Aspekte der Arbeitszeit-Richtlinie zu übernehmen. Auf der Grundlage einer europaweiten
Anhörung Anfang dieses Jahres hat die Europäische Kommission im Einzelnen ermittelt, worüber die
Sozialpartner verhandeln sollten.
- Erstens ist vor dem Hintergrund der jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs über die
Bereitschaftszeiten von medizinischem Personal zu klären, inwieweit diese Zeiten als Arbeitszeiten gelten
sollten.
- Zweitens soll die missbräuchliche Anwendung der Ausnahmeregelung (Opt-out) im Zusammenhang mit der wöchentlichen
Höchstarbeitszeit von 48 Stunden eingedämmt werden; hierzu werden den Sozialpartnern verschiedene Überlegungen
unterbreitet.
- Drittens schlägt die Kommission vor, den bislang viermonatigen Bezugszeitraum für die Berechnung
der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit auszudehnen.
Der für Beschäftigung und Soziales zuständige Kommissar Stavros Dimas erklärte: „Nach mehr
als zehn Jahren Erfahrung mit der Richtlinie wird deutlich, dass sie in Teilen klarer gefasst bzw. überarbeitet
werden muss. Wir stehen dabei vor der Herausforderung, einerseits die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeitnehmer
zu gewährleisten, andererseits den Unternehmen die zur Wahrung ihrer Wettbewerbsfähigkeit notwendige
Flexibilität zu verschaffen. Den Sozialpartnern kommt bei der Aktualisierung der Richtlinie eine zentrale
Rolle zu. Ich kann sie nur ermuntern, diese Gelegenheit wahrzunehmen.“
Mit dem heute angenommenen Dokuments sollen die Sozialpartner zur Aufnahme von Verhandlungen aufgerufen und soll
zugleich aufgezeigt werden, in welche Richtung die Rechtsvorschriften gehen könnten, die die Kommission eventuell
vorschlagen wird, falls es nicht zu Verhandlungen kommt.
Dem heutigen Dokument ging eine erste Anhörung zu den Erfahrungen mit der Anwendung der Richtlinie von 1993
voraus. Dabei haben sich insbesondere drei große Themen für eine Überprüfung herauskristallisiert:
die Bedingungen für die Nicht-Anwendung der 48-Stunden-Woche; die Auswirkungen aktueller Gerichtsurteile,
wonach Bereitschaftszeiten als Arbeitszeiten zählen; der Bezugszeitraum (zurzeit vier Monate) für die
Berechnung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden. Außerdem wird in dem Dokument untersucht,
wie sich die Richtlinie dazu nutzen ließe, die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben zu fördern.
Im Zusammenhang mit dem Opt-out geht es vor allem darum, die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer angemessen
zu schützen bzw. zu gewährleisten. Die Kommission schlägt vier Optionen vor, die alle eine Verbesserung
der geltenden Vorschriften bedeuten und in die Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern einfließen könnten:
1.) Verschärfung der Bedingungen für ein individuelles Opt-out, um die Freiwilligkeit zu gewährleisten
und Missbrauch zu verhindern. 2.) Abweichungen von der höchstzulässigen Wochenarbeitszeit, wenn dies
tarifvertraglich oder zwischen den Sozialpartnern vereinbart ist. 3.) Abweichungen von der höchstzulässigen
Wochenarbeitszeit, wenn dies tarifvertraglich oder zwischen den Sozialpartnern vereinbart ist, doch Beibehaltung
der Möglichkeit eines individuellen Opt-out, falls es keine solche Vereinbarung gibt oder das Unternehmen
keine Arbeitnehmervertretung hat. 4.) Möglichst baldige schrittweise Abschaffung des individuellen Opt-out
und – bis dahin – Verschärfung der Anwendungskriterien; dieser Vorschlag stammt aus einer Entschließung
des Europäischen Parlaments. Falls die Sozialpartner keine Einigung erzielen sollten, würden diese drei
Aspekte einzeln oder kombiniert in einem Vorschlag der Kommission aufgegriffen werden.
Was die Definition der Arbeitszeit anbelangt, so drängt die Kommission die europäischen Sozialpartner
dazu, sich – neben der Arbeits- und der Ruhezeit – auf eine dritte Kategorie zu verständigen, die die inaktive
Zeit während eines Bereitschaftsdienstes umfassen würde. Wenn keine Einigung zustande kommt, wird die
Kommission eine diesbezügliche Änderung der Richtlinie vorschlagen; dabei würden auch die Regelungen
für die Ruheperioden nach der Bereitschaftszeit klarer gefasst.
Die Kommission schlägt außerdem vor, dass die Sozialpartner einer Verlängerung des Bezugszeitraums
für die Berechnung der Wochenarbeitszeit zustimmen.
Wie die Anhörung zeigt, meinen Arbeitnehmer und Arbeitgeber übereinstimmend, dass die Frage der Work-Life-Balance
zwar angegangen werden muss, die Arbeitszeit-Richtlinie hierzu aber nicht das geeignete gesetzliche Instrument
ist. Mit dem heute vorgelegten Dokument werden die Sozialpartner nun ermuntert, außerhalb der Richtlinie
über Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben zu verhandeln.
Hintergrund
Artikel 138 Absatz 2 des EG-Vertrags schreibt vor, dass vor der Unterbreitung sozialpolitischer Vorschläge
die Sozialpartner zu hören sind. Diese haben neun Monate Zeit, um auf die Mitteilung der Kommission zu reagieren,
sofern sie beschließen, eine Vereinbarung auszuhandeln. Falls sie beschließen, keine Verhandlungen
aufzunehmen, wird die Kommission vermutlich demnächst eine Neufassung der Arbeitszeit-Richtlinie vorschlagen
und sich dabei an dem orientieren, was sie in dem heute unterbreiteten Dokument ausgeführt hat.
Aufgrund der EuGH-Urteile aus den Jahren 2000 und 2003, wonach die von medizinischem Personal am Arbeitsplatz verbrachte
Bereitschaftszeit Arbeitszeit ist, nutzen Frankreich, Spanien und Deutschland für die wöchentliche Höchstarbeitszeit
im Gesundheitswesen inzwischen die Opt-out-Regelung.
Vorher hatte nur das Vereinigte Königreich in großem Maßstab davon Gebrauch gemacht, das das Opt-out
1993 ausgehandelt hatte. Malta und Zypern wenden es seit ihrem EU-Beitritt generell an. Luxemburg nutzt die Ausnahmeregelung
im Hotel- und Gaststättengewerbe, um saisonbedingte Schwankungen auszugleichen. In der ersten Phase der Anhörung
sind eine Reihe von Problemen mit dem individuellen Opt-out zutage getreten, und zwar meist im Zusammenhang mit
den Anwendungsbedingungen, die in der Richtlinie verankert sind, um die Freiwilligkeit der Regelung zu garantieren.
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