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Grenzen und Grenzüberschreitungen – wohin steuert die EU? |
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erstellt am
30. 08. 04
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Rede anläßlich des Festaktes zum 60.Europäischen Forum
Alpbach
Alpbach (eu-int) - Dr. Franz Fischler, als Mitglied der Europäischen Kommission zuständig
für Landwirtschaft, ländliche Entwicklung und Fischerei, gratulierte am Sonntag (29. 08.) dem "Europäischen
Forum Alpbach" in seiner Heimat Tirol zum 60. Geburtstag und erläuterte seine Gedanken zur Zukunft Europas.
Im Wortlaut:
Als treuer Besucher des Europäischen Forums Alpbach und als Tiroler freue ich mich natürlich ganz besonders,
dass ich heute die Gelegenheit habe, mit Ihnen – meine Damen und Herren - ein paar Überlegungen zur Zukunft
Europas anstellen zu dürfen.
Doch bevor ich das tue, möchte ich unserem Europäischen Forum Alpbach zu seinem 60sten Geburtstag herzlich
gratulieren und den Gründern und den Verantwortungsträgern über all die Jahre herauf ein herzliches
Dankeschön sagen für alles, was sie zum Erfolg dieser Einrichtung beigetragen haben. Das Europäische
Forum war und ist nicht nur ein wichtiger Ort zum Gedankenaustausch unter Wissenschaftlern, Politikern, Künstlern
und Wirtschafts- und Medienleuten, es ist auch ein Ort, wo Europa weiter gedacht wird und es ist ein Ort der Begegnung
und des Dialogs zwischen den Generationen – der Hauptgrund vielleicht, warum „die Colleger“ auch nach 60 Jahren
noch so jung geblieben sind.
„Grenzen und Grenzüberschreitung“ lautet bekanntermaßen das Thema des heurigen Forums, und wir alle
wissen, dass Grenzüberschreitungen im Sinne eines positiven Vorankommens nur möglich sind, wenn wir zuerst
die Barrieren im Kopf beseitigen, die das Gedeihen von Neuem behindern.
Hier gilt es häufig, sowohl intellektuelle aber noch viel mehr emotionale Hürden zu nehmen und Alpbach
war und ist dafür allemal ein hervorragendes Trainingscamp. Schließlich ist Höhentraining in der
Zwischenzeit häufig zum fixen Bestandteil der Vorbereitung für Rekordversuche geworden.
Meine Damen und Herren,
Die Europäische Union hat seit ihrem Bestehen wiederholt Grenzen überschritten und abgebaut und ist gerade
dadurch zu dem bisher historisch einmaligen Friedens- und Wohlstandsprojekt geworden, das heute bereits 25 Staaten
umfasst.
Alte Feindschaften wurden begraben, Zollschranken beseitigt, ein gemeinsames Geld eingeführt, Grenzbalken
zur Seite getragen, Wohlstand ausgebreitet und seit dem 1. Mai leben 450 Millionen Menschen in dieser Europäischen
Union friedlich zusammen. Wer kann daher heute ernsthaft bezweifeln, dass der Abbau von Jahrhunderte alten Grenzen
nicht viel Positives bewirkt hat und die Erweiterung um die 10 mitteleuropäische Staaten nicht nur einen Quantensprung,
sondern auch einen Qualitätssprung bedeutet. Genauso wie die Gründung der Gemeinschaft die Unumkehrbarkeit
der Freundschaft zwischen den alten Feinden in Europa eingeleitet hat, so glaube ich hat die Erweiterung die Anwendung
des europäischen demokratischen und wirtschaftlichen Systems auf ganz Europa unumkehrbar gemacht.
Die europäische Union ist eben nicht nur ein Konglomerat von Staaten wie manche behaupten, sondern das grundsätzlich
neue an ihr ist die Tatsache, dass Souveränität gebündelt und gemeinsam durch die europäischen
Institutionen wahrgenommen wird. Mit dieser Methode werden die Interessen der Völker und Staaten dauerhaft
aneinander gebunden.
So weit so gut. Ich sehe aber meine Aufgabe heute nicht darin, vor Ihnen die Erfolge der Gemeinschaft auszubreiten,
sondern was mich und viele andere umtreibt, sind die vor uns liegenden Grenzüberschreitungen, aber auch das
Wahrnehmen und noch wichtiger, das Respektieren von Grenzen der Machbarkeit aber auch der Sinnhaftigkeit, in und
für Europa.
* In meiner heutigen Rede möchte ich daher zuerst darüber sprechen, an welche Grenzen wir bei der
Vermittlung Europas und in der Wahrnehmung Europas stoßen;
* Zweitens möchte ich auf einige Herausforderungen der Europäischen Union in der Gegenwart und Zukunft
eingehen;
* Und drittens werde ich über einige Chancen und Probleme Österreichs in der Europäischen Union
sprechen.
Meine Damen und Herren,
In einem Zeitungsinterview wurde ich kürzlich gefragt, ob es mich nicht traurig stimmt, wenn ich sehe, dass
gleichzeitig mit dem Ende meiner Amtszeit in Brüssel die Zustimmung der Österreicher zur EU auf einem
Rekordtief liegt. Ich sage ganz offen: Ja, ich halte das für zutiefst bedauerlich. Denn unabhängig von
allen tagespolitischen Diskussionen, die von den Boulevardmedien genüsslich ausgebreitet werden und den Bürgern
manchmal „die Grausbirn“ aufsteigen lassen:
Die EU ist in Wahrheit ein Segen für Europa und ebenso für Österreich. Nebenbei gesagt: Dass wir
Österreicher zur Zeit auf die EU besonders viel schimpfen, hat seine Gründe, aber alle miteinander sind
nicht so wichtig, dass wir wieder austreten wollten.
Dass vor 15 Jahren die EU weniger in Frage gestellt wurde als heute, lag sicher unter Anderem daran, dass es in
Form des sowjetischen Imperiums einen gemeinsamen Feind gegeben hat, und nichts eint bekanntlich mehr als ein gemeinsamer
Feind. Seien wir froh, dass auch dieses gemeinsame Feindbild heute Geschichte ist, aber es ist klar, dass auch
dadurch heute die Legitimationsfrage einen höheren Stellenwert einnimmt als früher.
Ein weiteres Problem liegt sicher in der Schwierigkeit, die komplexen Entscheidungsprozesse und Maßnahmen
in der EU zu verstehen. Dazu scheint man ja zumindest den Alpbacher Spezialkurs, zu brauchen, oder ein eigenes
Studium, noch besser ein paar Jahre Berufserfahrung in Brüssel. Erst dann fühlt man sich oft imstande,
zu beurteilen, ob eine Zeitungskritik auf Tatsachen beruht, oder ob es sich nur um billige Polemik handelt.
Diese Komplexität hat aber auch ihren Grund; denn um die Interessen von 25 Mitgliedstaaten von mehr als 100
im Europaparlament vertretenen nationalen Parteien, und noch mehr unterschiedlichen Interessengruppen von den portugiesischen
Fischern bis zu den finnischen Hi-Tech-Unternehmern zu berücksichtigen, muss der Entscheidungsprozess zwangsläufig
kompliziert sein. |
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Was also tun? Ich sehe vor allem 2 Ansatzpunkte, um dem Vorwurf der Abgehobenheit zu begegnen:
Einmal mehr Selbstdisziplin. Die EU muss sich viel stärker noch auf jene Aufgaben beschränken, die man
sinnvoller Weise ausschließlich auf europäischer Ebene wahrnehmen kann. Ich plädiere daher dafür,
dass die Kommission schon vor der Anwendung des Verfassungsvertrages jede Gesetzinitiative einem Subsidiaritätstest
unterzieht.
Damit würde die Parole des Jacques Santer, die jetzt auch Präsident Barroso aufgegriffen hat, nämlich:
„weniger, dieses aber dafür besser tun“ eine ganz konkrete Basis bekommen.
Der zweite Ansatzpunkt ist die Vermittlung europäischer Themen an den Bürger – eine never-ending story.
Und das wird sie auch bleiben, solange Europa nicht bereit ist, in europäisches Politmarketing zu investieren.
Dazu gehört u.a. ein Zielgruppenorientiertes Handeln und da denke ich vor allem an unsere jungen Leute. Diese
haben viel weniger Vorurteile gegenüber Europa und sind in der Regel offener für europäische Themen.
Ich plädiere dafür, dass die Kommission eine Idee von Armin Turnher aufgreift und eine Internetzeitung
produziert. Ein typisches Medium für junge Leute, hergestellt von einigen Profis zusammen mit Journalisten,
die ein Europastipendium erhalten, um sich mehr Kenntnisse über Europa anzueignen, könnte die Internetfreaks
begeistern, Journalisten eine Hilfe sein und das Wissen um Europa in der Medienwelt verbreiten.
Andererseits ist diese Vermittlungsaufgabe so groß, dass sie von den europäischen Institutionen alleine
gar nicht bewältigt werden kann. Es genügt auch nicht, Gesetzesinitiativen allgemein verständlich
darzustellen fassen und in den 21 Amtssprachen der Gemeinschaft zu verbreiten. Was wir brauchen, sind glaubhafte
Vermittler der europäischen Botschaft, Leute, die überzeugt sind, dass die EU ohne Alternative ist. Menschen,
die imstande sind, EU-Initiativen in einen Kontext zur unmittelbaren Lebensumwelt der Mitbürger zu stellen.
Leute, die glaubhaft machen können, dass wir alle miteinander Europa sind, und dass der Fortschritt Europas
am Engagement von uns allen hängt.
Natürlich hat die Europäische Union auch einen Startnachteil. Es ist ganz klar: die politische Aufmerksamkeit
der Bürger und der Medien ist vor allem auf die nationalstaatliche Ebene gerichtet. Einige der auflagenstärksten
Zeitungen Europas halten es nicht einmal der Mühe wert, einen Korrespondenten nach Brüssel zu entsenden.
Die nationalen Politiker haben daher auch meistens ein leichtes Spiel, populäre Entscheidungen an ihre Fahnen
zu heften und unpopuläre Entscheidungen auf „die dort“ in Brüssel abzuschieben. Dass „die dort in Brüssel“
auch sie selber waren, weil sie im Rat abgestimmt haben, wird dann leider geflissentlich verschwiegen.
Ein weiterer, wichtiger Grund für die kritische Haltung vieler Bürger Europa gegenüber liegt auch,
einfach gesagt, an Verwechslungen. Was wird da nicht alles immer wieder auf Brüssel geschoben: Die Gentechnik,
das Bauernsterben, die Zunahme des Verkehrs, die ungerecht Verteilung in der Welt; usw. Dass die Europäische
Union das beste und einzige Instrument ist, um diese globalen Phänomene für Europa in die richtigen Bahnen
zu lenken bzw. damit fertig zu werden, wird dabei leider übersehen. Der Umweltschutz, die Bekämpfung
der Kriminalität, die Forschung, die Mobilität, das Arbeitsrecht: diese Politiken sind grenzüberschreitend
geworden– womit wir wieder beim Generalthema des Forum Alpbach wären–.
Es liegt aber auch in der Natur der Sache, dass es nicht gelingen kann, alle zufrieden zu stellen. In dem Zusammenhang
finde ich es immer wieder interessant, wie unterschiedlich die Vorwürfe sind, die an die EU herangetragen
werden: viele Politiker und Bürger kritisieren Brüssel als den Inbegriff des Neoliberalismus. Andere
wiederum bezeichnen die EU als „sozialistisches Projekt“, oder bemühen sogar den völlig haarsträubenden
Vergleich mit der Sowjetunion, mit dem die EU nun wirklich gar nichts gemeinsam hat, abgesehen vom Wort Union vielleicht.
Und während sich die Gruppierungen in Europa darüber beschweren, dass die EU ein Sklave des Freihandels
sei, sehen manche unserer Handelspartner in uns den Freihandelsbremser.
Welche Sichtweise ist nun richtig? Ist die Wahrheit nur eine Frage der Perspektive? Nein, das Ziel der europäischen
Union ist nun einmal der größtmögliche Interessensausgleich, und zwar sowohl innerhalb Europas
als auch auf der internationalen Bühne wie z.B. in der WTO. Dass man bei dieser Aufgabe mit Extrempositionen
nicht weiterkommt, ist klar.
Was die Entscheidungen in Brüssel betrifft, so sollten auch die nationalen Politiker endlich zu ihrer Verantwortung
stehen. Beschlüsse, die gemeinsam getroffen werden, müssen auch gemeinsam verantwortet und erklärt
werden.
Die EU kann längerfristig nicht erfolgreich sein, wenn sie nur soweit mitgetragen wird, soweit es dem momentanen
nationalen Interesse nützlich ist. Das mindeste muss sein, dass man bereit ist wie ein Investor zu handeln.
Wenn sie in ein noch so gutes Projekt investieren, müssen sie zuerst Geld in die Hand nehmen und können
erst später einen Gewinn verbuchen.
Man kann die Stimmung gegenüber Europa auch nicht mit dem Satz abtun: Früher haben die Tiroler und Steirer
auf Wien geschimpft, heute schimpfen alle gemeinsam auf Brüssel.
Der gefährliche Unterschied liegt darin, dass den Steirern und Tirolern bei allem Schimpfen immer bewusst
war, dass sie Österreicher sind, während nur eine Minderheit das Gefühl hat, dass sie auch Europäer
sind. Brüssel wird eher als Sitz einer fremden wenn nicht gar einer Art Besatzungsmacht empfunden. „Die in
Brüssel entscheiden gegen uns Österreicher“,: heißt es und nur wenige haben verinnerlicht, dass
wir seit 10 Jahren Unionsbürger geworden sind. |
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Meine Damen und Herren,
Natürlich kann das beste Politmarketing keine Inhalte ersetzen. Und damit bin ich zurück bei den Herausforderungen
die die EU in den nächsten Jahren zu bewältigen hat. Nach dem Binnenmarkt, dem gemeinsamen Geld, Schengen
der größten Erweiterung und dem Beschluss über den gemeinsamen Verfassungsvertrag scheint mir in
den nächsten Jahren zunächst einmal eine gewisse Konsolidierung wichtig. Die Verfassung muß erst
einmal in allen Staaten ratifiziert werden, die EU der 25 braucht eine neue Finanzierungsbasis, der Euro und Schengen
müssen auf neue Staaten ausgeweitet werden, eine neue Generation von Strukturprogrammen ist von Nöten,
der Binnenmarkt muss komplettiert der Stabilitätspakt überdacht, die Arbeitslosenzahl gesenkt, Wachstum
angekurbelt und Forschung und Entwicklung müssen forciert werden. Dazu kommet, dass mit den neuen Außengrenzen
auch eine neue Nachbarschaftspolitik notwendig geworden ist, dass in der inneren und äußeren Sicherheitspolitik
neue Initiativen gefragt sind und unser transatlantisches Verhältnis wie überhaupt die Rolle, die die
EU in der Welt spielen soll, neuer Initiativen bedarf.
Kein Wort also davon, dass für eine neue Periode nur sehr wenig zu tun bleibt. Im Gegenteil: harte Arbeit
zwar weniger programmatisch, dafür aber sehr konkret und oft auch mühsam ist gefragt. Ich bin sehr froh
darüber, dass der designierte Kommissionspräsident Barroso bereits deutlich gemacht hat, dass wir alle
die Ärmel aufkrempeln müssen, wenn wir diesen Herausforderungen gerecht werden wollen.
Meine Damen und Herren,
Ich möchte hier heute ganz bewusst nicht auf einzelne Projekte, die für die Weiterentwicklung Europas
wichtig sind, eingehen. Erstens weil ich dem neuen Präsidenten, dessen erste Stellungnahmen bereits sehr viel
versprechend waren, nicht ins Handwerk pfuschen möchte und zweitens, weil es mir darum geht, einige mehr grundsätzliche
Überlegungen anzustellen.
Vaclav Havel hat in einer Rede vor dem Europarat 1995 gesagt, dass Europa an einem historischen Scheideweg steht,
an dem es ihm gelingen muss, eine neue Verantwortlichkeit zu entwickeln, um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden.
Leider ist diese Verantwortlichkeit heute nicht immer vorhanden. Der Grund für dieses Scheitern ist für
mich klar: es gibt leider in vielen Bereichen nach wie vor keine echte europäische Politik.
Das heißt, es gibt zwar eine französische, eine österreichische, und eine spanische EU-Politik.
Aber diese EU Politiken sind häufig nur mühsam verhüllte nationale Politiken, die entweder gar nichts
mit dem Interesse an Europa zu tun haben oder ein solches nur akzeptieren, solange es mit dem nationalen Interesse
identisch ist. Insofern wird bei Ratssitzungen nur allzu oft keine europäische Politik gemacht, sondern es
entsteht nur ein Kompromiss zwischen nationalen Politiken. Bei dieser Vorgangsweise kommt meistens zweierlei heraus:
entweder die Vorschläge scheitern, weil sie keine Mehrheit finden, oder es kommt nur ein fauler Kompromiss
zustande. Für beide Varianten gibt es genügend Beispiele und das österreichische Scheitern in der
Transitfrage ist leider eines der bekanntesten davon.
Genausowenig wie es in vielen Bereichen eine echte EU Politik gibt, gibt es häufig eine echte EU-Debatte.
Kein Wunder daher, wenn bei den europäischen Wahlen alles andere nur nicht europäische Themen diskutiert
werden. Ich brauche ja nicht zu wiederholen, was – vom Niveau der Diskussion ganz zu schweigen – in Österreich
die Debatte des letzten EU-Wahlkampfes beherrschte. Meiner Meinung nach wird sich das solange nicht ändern,
solange es keine wahrnehmbaren europäischen Parteien gibt, die sich mit klaren Positionen einem europäischen
Wettkampf um die besseren Ideen stellen. Dann gäbe es automatisch eine Auseinandersetzung um Europa, in der
sich der Bürger ein Bild machen könnte, welches europäische Programm er unterstützen möchte.
Solange jedenfalls die Mitgliedstaaten nicht lernen, europäisch zu denken und zu handeln, solange Frankreich
in der europäischen Außenpolitik in erster Linie ein Mittel zur Erringung alter Größe sieht,
solange Länder wie Spanien in der EU-Politik in erster Linie einen dankbaren Geldgeber sehen und solange die
reichsten Mitgliedstaaten nur ihren Nettozahlerstatus beklagen, solange werden sich die europäischen Beschlüsse
auch nicht die Anliegen der europäischen Bürger widerspiegeln.
Die europäischen Bürger wollen ein schlagkräftiges Europa, in dem die drängenden Probleme wie
Umweltschutz, Arbeitslosigkeit und grenzüberschreitende Kriminalität bekämpft werden. Diese Herausforderungen
können aber nicht bekämpft werden, wenn die Mitgliedstaaten in der EU die Ausarbeitung von Weisungen
ihren Fachressorts überlassen, die dann jeweils nur an einem Detailproblem herumdoktern. Diese Herausforderungen
können nur auf der Basis von Faktenanalysen und politischem Mut gelöst werden. Leider fehlt aber nur
allzu oft beides: sowohl die Analyse als auch der Mut.
Bleibt die berühmte Frage nach der Finalität Europas? Wohin wollen wir letztlich steuern? Ich habe mich
immer als ein Anhänger der Jean Monnet-Methode bekannt. Ich bin auch nach wie vor der Meinung, dass es besser
ist, konkrete Projekte zu definieren, die uns auf der Europäischen Ebene weiterbringen, statt darüber
zu streiten, ob wir in einer Konföderation oder in den Vereinigten Staaten von Europa enden wollen.
Seit aber die Kerneuropaidee neu belebt wurde, noch dazu als ein möglicher Exklusivzirkel von einigen Staaten,
der dann nicht unbedingt für alle anderen offen steht und sich zu dessen Realisierung auch nicht der europäischen
Institutionen bedient und seit manche in der EU schon das Ende der Geschichte heraufdämmern sehen, bin ich
nicht mehr unbedingt überzeugt davon, dass mehr Europa als Konzept für die Zukunft schon genügt.
Damit ich nicht missverstanden werde: Ich bin kein Anhänger der britischen Auffassung, dass wir schon zuviel
Integration hätten, im Gegenteil, die Vertiefung muss weitergehen. Ich glaube aber gleichzeitig, dass wir
an der Idee einer Europäischen Union als Konzept suae generis festhalten sollten. Dieses Konzept baut aber
auf dem Nationalstaat auf, daher können wir auch diesen nicht gänzlich in Frage stellen, nach dem Motto,
dass er für die großen Aufgaben zu klein und für die kleinen Aufgaben zu groß wäre.
Wir müssen daran gehen, bleibende Politikfelder des Nationalstaats zu definieren und außer Streit zu
stellen. Die Pflicht zur Subsidiaritätsprüfung, wie sie in der Verfassung vorgesehen ist, bringt hier
sicher einen Fortschritt, bedeutet aber dennoch im Umkehrschluss, dass der Staat definiert ist als etwas für
das es keinen europäischen Mehrwert gibt. Das ist mir als Perspektive zu wenig. Wenn wir aber Politikfelder
für den Staat definieren, so eröffnet dies auch Ebenen, auf denen sich der Nationalstaat ausbreiten kann,
ohne dass gleich eine Debatte über einen neuen Nationalismus vom Zaun gebrochen wird. Vielmehr könnte
man damit sogar dem Wiedererstarken verschiedener Nationalismen begegnen. Jeder Staat braucht für seine Existenz
auch Selbstbewusstsein und es ist sicher weit klüger, von vorne herein Raum dafür zu schaffen, als sich
in einen permanenten Kampf um Zuständigkeiten zu verheddern.
Ich denke, man könnte damit auch einigen Fehlentwicklungen gerade in den jungen Demokratien der neuen Mitgliedstaaten
vorbeugen.
Meine Damen und Herren,
lassen Sie mich am Schluss noch ein paar Bemerkungen zu Österreich und seinem Verhältnis zur EU machen.
Ohne ins Detail zu gehen, können wir nach 10 Jahren EU-Mitgliedschaft mit Fug und Recht feststellen:
Der Beitritt hat sich gelohnt! Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft hat unseren Wohlstand noch weiter vermehrt;
die österreichischen Exporte boomen wie noch nie, Österreich ist ein attraktiver Platz für Investoren;
die Zahl der Arbeitsplätze ist seit dem Beitritt gestiegen und wir sind der größte Profiteur der
Erweiterung.
Der EU-Beitritt und die Erweiterung haben dazu beigetragen, dass Österreich heute bei weitem besser positioniert
ist, als Anfang der 90er Jahre. Darauf können wir ruhig stolz sein.
Mit dem EU-Beitritt hat Österreich aber nicht nur wirtschaftliche Grenzen überschritten. Wir haben auch
Grenzen unseres politischen Systems, Grenzen in den Köpfen passiert. Bis zum Anfang der 90er Jahre herrschte
bei uns das Proporzsystem, wo die Frage „Was kannst Du?“ manchmal weniger wichtig war, als die Frage „Welches Parteibuch
hast Du?“. Die Diskussionen im Nationalrat waren zwar sehr ausgeprägt. Wenn es aber um Wirtschaft und Arbeit
ging, waren die Treffen von Benya und Sallinger beim Heurigen weit wichtiger. Und dass den österreichischen
Konsumenten Millionen Schillinge durch Monopole und Kartelle vorenthalten wurden, ist erst im nachhinein durch
einige Verfahren der Europäischen Kommission in den letzten Jahren deutlich geworden.
Selbst wenn nicht alle diese Erscheinungen völlig vom Tisch sind, so kann man dennoch mit Fug und Recht sagen,
dass es nicht zuletzt der EU-Beitritt war, der die starren Grenzen des politischen Systems in Österreich gesprengt
hat. Wir haben aufgehört so zu tun, als lebten wir auf einer „Insel der Seligen“. Wir sind heute Teil der
größten Ökonomie und dem drittbevölkerungsreichsten politischen Player der Welt, mit all den
Chancen und Pflichten, die das mit sich bringt.
Bleibt nur eine Frage: wenn die EU uns dabei geholfen hat, über unsere Grenzen hinauszugehen, warum stehen
dann trotzdem mehr Österreicher der EU so kritisch gegenüber als in anderen Staaten?
Da wirkt wohl u.a. noch das Trauma der Sanktionen nach. Im Jahr 2000 wurden sicherlich auf beiden Seiten Fehler
gemacht, das ist keine Frage. Und diese Fehler sind auch auf beiden Seiten nach wie vor spürbar. Wenn man
damals allerdings versuchte, zwischen den Fronten zu vermitteln, kam man schnell in den Verdacht, ein Verräter
zu sein. Dass damals kein offener, ehrlicher Dialog möglich war, gehört sicher zu den negativsten Erlebnissen
meiner zehnjährigen Tätigkeit als EU-Kommissar.
Leider wird das Gefühl, dass über die kleineren Staaten im wahrsten Sinn des Wortes drübergefahren
wird, auch durch die Art und Weise, wie mit dem Transitthema umgegangen wird, weiterhin am Leben erhalten. Auch
hier liegen die Fehler auf beiden Seiten, mit zwei entscheidenden Unterschieden: Während sich bei den Sanktionen
alle Österreicher in der Sache einig waren, ist es in der Transitfrage bis heute nicht gelungen, eine klare
und einige Position festzulegen und zum anderen macht Österreich selber ständig den Fehler, den Vorrang
der Verkehrsfreiheit zu betonen, statt sich auf andere europäische Werte zu berufen, wie z.B. auf die Gesundheit
oder die Umwelt.
Meine Damen und Herren, was ist das Resümee?
Wenn auch wirft das europäische Projekt nach wie vor Schwächen aufweist, alles in allem ist die Europäische
Union eine riesige Erfolgsgeschichte, auf die wir durchaus stolz sein können. Sicherlich bleibt auch noch
viel zu tun, um sicherzustellen, dass diese Union auch in Zukunft eine Erfolgsgeschichte bleibt. Wir haben gemeinsam
die Chance, Frieden und Wohlstand für Europa dauerhaft zu sichern, und je besser uns das gelingt, umso attraktiver
wird unser Modell des Zusammenlebens von Staaten und Völkern auch zu einem Modell für die Politik in
anderen Teilen der Welt werden.
Jedenfalls ist es faszinierend, Europäer zu sein. Ich danke Ihnen. |
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