Grenzen und Grenzüberschreitungen – wohin steuert die EU?  

erstellt am
30. 08. 04

Rede anläßlich des Festaktes zum 60.Europäischen Forum Alpbach
Alpbach (eu-int) - Dr. Franz Fischler, als Mitglied der Europäischen Kommission zuständig für Landwirtschaft, ländliche Entwicklung und Fischerei, gratulierte am Sonntag (29. 08.) dem "Europäischen Forum Alpbach" in seiner Heimat Tirol zum 60. Geburtstag und erläuterte seine Gedanken zur Zukunft Europas.

Im Wortlaut:


Als treuer Besucher des Europäischen Forums Alpbach und als Tiroler freue ich mich natürlich ganz besonders, dass ich heute die Gelegenheit habe, mit Ihnen – meine Damen und Herren - ein paar Überlegungen zur Zukunft Europas anstellen zu dürfen.

Doch bevor ich das tue, möchte ich unserem Europäischen Forum Alpbach zu seinem 60sten Geburtstag herzlich gratulieren und den Gründern und den Verantwortungsträgern über all die Jahre herauf ein herzliches Dankeschön sagen für alles, was sie zum Erfolg dieser Einrichtung beigetragen haben. Das Europäische Forum war und ist nicht nur ein wichtiger Ort zum Gedankenaustausch unter Wissenschaftlern, Politikern, Künstlern und Wirtschafts- und Medienleuten, es ist auch ein Ort, wo Europa weiter gedacht wird und es ist ein Ort der Begegnung und des Dialogs zwischen den Generationen – der Hauptgrund vielleicht, warum „die Colleger“ auch nach 60 Jahren noch so jung geblieben sind.

„Grenzen und Grenzüberschreitung“ lautet bekanntermaßen das Thema des heurigen Forums, und wir alle wissen, dass Grenzüberschreitungen im Sinne eines positiven Vorankommens nur möglich sind, wenn wir zuerst die Barrieren im Kopf beseitigen, die das Gedeihen von Neuem behindern.

Hier gilt es häufig, sowohl intellektuelle aber noch viel mehr emotionale Hürden zu nehmen und Alpbach war und ist dafür allemal ein hervorragendes Trainingscamp. Schließlich ist Höhentraining in der Zwischenzeit häufig zum fixen Bestandteil der Vorbereitung für Rekordversuche geworden.

Meine Damen und Herren,

Die Europäische Union hat seit ihrem Bestehen wiederholt Grenzen überschritten und abgebaut und ist gerade dadurch zu dem bisher historisch einmaligen Friedens- und Wohlstandsprojekt geworden, das heute bereits 25 Staaten umfasst.

Alte Feindschaften wurden begraben, Zollschranken beseitigt, ein gemeinsames Geld eingeführt, Grenzbalken zur Seite getragen, Wohlstand ausgebreitet und seit dem 1. Mai leben 450 Millionen Menschen in dieser Europäischen Union friedlich zusammen. Wer kann daher heute ernsthaft bezweifeln, dass der Abbau von Jahrhunderte alten Grenzen nicht viel Positives bewirkt hat und die Erweiterung um die 10 mitteleuropäische Staaten nicht nur einen Quantensprung, sondern auch einen Qualitätssprung bedeutet. Genauso wie die Gründung der Gemeinschaft die Unumkehrbarkeit der Freundschaft zwischen den alten Feinden in Europa eingeleitet hat, so glaube ich hat die Erweiterung die Anwendung des europäischen demokratischen und wirtschaftlichen Systems auf ganz Europa unumkehrbar gemacht.

Die europäische Union ist eben nicht nur ein Konglomerat von Staaten wie manche behaupten, sondern das grundsätzlich neue an ihr ist die Tatsache, dass Souveränität gebündelt und gemeinsam durch die europäischen Institutionen wahrgenommen wird. Mit dieser Methode werden die Interessen der Völker und Staaten dauerhaft aneinander gebunden.

So weit so gut. Ich sehe aber meine Aufgabe heute nicht darin, vor Ihnen die Erfolge der Gemeinschaft auszubreiten, sondern was mich und viele andere umtreibt, sind die vor uns liegenden Grenzüberschreitungen, aber auch das Wahrnehmen und noch wichtiger, das Respektieren von Grenzen der Machbarkeit aber auch der Sinnhaftigkeit, in und für Europa.

* In meiner heutigen Rede möchte ich daher zuerst darüber sprechen, an welche Grenzen wir bei der Vermittlung Europas und in der Wahrnehmung Europas stoßen;
* Zweitens möchte ich auf einige Herausforderungen der Europäischen Union in der Gegenwart und Zukunft eingehen;
* Und drittens werde ich über einige Chancen und Probleme Österreichs in der Europäischen Union sprechen.

Meine Damen und Herren,

In einem Zeitungsinterview wurde ich kürzlich gefragt, ob es mich nicht traurig stimmt, wenn ich sehe, dass gleichzeitig mit dem Ende meiner Amtszeit in Brüssel die Zustimmung der Österreicher zur EU auf einem Rekordtief liegt. Ich sage ganz offen: Ja, ich halte das für zutiefst bedauerlich. Denn unabhängig von allen tagespolitischen Diskussionen, die von den Boulevardmedien genüsslich ausgebreitet werden und den Bürgern manchmal „die Grausbirn“ aufsteigen lassen:

Die EU ist in Wahrheit ein Segen für Europa und ebenso für Österreich. Nebenbei gesagt: Dass wir Österreicher zur Zeit auf die EU besonders viel schimpfen, hat seine Gründe, aber alle miteinander sind nicht so wichtig, dass wir wieder austreten wollten.

Dass vor 15 Jahren die EU weniger in Frage gestellt wurde als heute, lag sicher unter Anderem daran, dass es in Form des sowjetischen Imperiums einen gemeinsamen Feind gegeben hat, und nichts eint bekanntlich mehr als ein gemeinsamer Feind. Seien wir froh, dass auch dieses gemeinsame Feindbild heute Geschichte ist, aber es ist klar, dass auch dadurch heute die Legitimationsfrage einen höheren Stellenwert einnimmt als früher.

Ein weiteres Problem liegt sicher in der Schwierigkeit, die komplexen Entscheidungsprozesse und Maßnahmen in der EU zu verstehen. Dazu scheint man ja zumindest den Alpbacher Spezialkurs, zu brauchen, oder ein eigenes Studium, noch besser ein paar Jahre Berufserfahrung in Brüssel. Erst dann fühlt man sich oft imstande, zu beurteilen, ob eine Zeitungskritik auf Tatsachen beruht, oder ob es sich nur um billige Polemik handelt.

Diese Komplexität hat aber auch ihren Grund; denn um die Interessen von 25 Mitgliedstaaten von mehr als 100 im Europaparlament vertretenen nationalen Parteien, und noch mehr unterschiedlichen Interessengruppen von den portugiesischen Fischern bis zu den finnischen Hi-Tech-Unternehmern zu berücksichtigen, muss der Entscheidungsprozess zwangsläufig kompliziert sein.
   

Was also tun? Ich sehe vor allem 2 Ansatzpunkte, um dem Vorwurf der Abgehobenheit zu begegnen:

Einmal mehr Selbstdisziplin. Die EU muss sich viel stärker noch auf jene Aufgaben beschränken, die man sinnvoller Weise ausschließlich auf europäischer Ebene wahrnehmen kann. Ich plädiere daher dafür, dass die Kommission schon vor der Anwendung des Verfassungsvertrages jede Gesetzinitiative einem Subsidiaritätstest unterzieht.

Damit würde die Parole des Jacques Santer, die jetzt auch Präsident Barroso aufgegriffen hat, nämlich: „weniger, dieses aber dafür besser tun“ eine ganz konkrete Basis bekommen.

Der zweite Ansatzpunkt ist die Vermittlung europäischer Themen an den Bürger – eine never-ending story. Und das wird sie auch bleiben, solange Europa nicht bereit ist, in europäisches Politmarketing zu investieren.

Dazu gehört u.a. ein Zielgruppenorientiertes Handeln und da denke ich vor allem an unsere jungen Leute. Diese haben viel weniger Vorurteile gegenüber Europa und sind in der Regel offener für europäische Themen. Ich plädiere dafür, dass die Kommission eine Idee von Armin Turnher aufgreift und eine Internetzeitung produziert. Ein typisches Medium für junge Leute, hergestellt von einigen Profis zusammen mit Journalisten, die ein Europastipendium erhalten, um sich mehr Kenntnisse über Europa anzueignen, könnte die Internetfreaks begeistern, Journalisten eine Hilfe sein und das Wissen um Europa in der Medienwelt verbreiten.

Andererseits ist diese Vermittlungsaufgabe so groß, dass sie von den europäischen Institutionen alleine gar nicht bewältigt werden kann. Es genügt auch nicht, Gesetzesinitiativen allgemein verständlich darzustellen fassen und in den 21 Amtssprachen der Gemeinschaft zu verbreiten. Was wir brauchen, sind glaubhafte Vermittler der europäischen Botschaft, Leute, die überzeugt sind, dass die EU ohne Alternative ist. Menschen, die imstande sind, EU-Initiativen in einen Kontext zur unmittelbaren Lebensumwelt der Mitbürger zu stellen. Leute, die glaubhaft machen können, dass wir alle miteinander Europa sind, und dass der Fortschritt Europas am Engagement von uns allen hängt.

Natürlich hat die Europäische Union auch einen Startnachteil. Es ist ganz klar: die politische Aufmerksamkeit der Bürger und der Medien ist vor allem auf die nationalstaatliche Ebene gerichtet. Einige der auflagenstärksten Zeitungen Europas halten es nicht einmal der Mühe wert, einen Korrespondenten nach Brüssel zu entsenden. Die nationalen Politiker haben daher auch meistens ein leichtes Spiel, populäre Entscheidungen an ihre Fahnen zu heften und unpopuläre Entscheidungen auf „die dort“ in Brüssel abzuschieben. Dass „die dort in Brüssel“ auch sie selber waren, weil sie im Rat abgestimmt haben, wird dann leider geflissentlich verschwiegen.

Ein weiterer, wichtiger Grund für die kritische Haltung vieler Bürger Europa gegenüber liegt auch, einfach gesagt, an Verwechslungen. Was wird da nicht alles immer wieder auf Brüssel geschoben: Die Gentechnik, das Bauernsterben, die Zunahme des Verkehrs, die ungerecht Verteilung in der Welt; usw. Dass die Europäische Union das beste und einzige Instrument ist, um diese globalen Phänomene für Europa in die richtigen Bahnen zu lenken bzw. damit fertig zu werden, wird dabei leider übersehen. Der Umweltschutz, die Bekämpfung der Kriminalität, die Forschung, die Mobilität, das Arbeitsrecht: diese Politiken sind grenzüberschreitend geworden– womit wir wieder beim Generalthema des Forum Alpbach wären–.

Es liegt aber auch in der Natur der Sache, dass es nicht gelingen kann, alle zufrieden zu stellen. In dem Zusammenhang finde ich es immer wieder interessant, wie unterschiedlich die Vorwürfe sind, die an die EU herangetragen werden: viele Politiker und Bürger kritisieren Brüssel als den Inbegriff des Neoliberalismus. Andere wiederum bezeichnen die EU als „sozialistisches Projekt“, oder bemühen sogar den völlig haarsträubenden Vergleich mit der Sowjetunion, mit dem die EU nun wirklich gar nichts gemeinsam hat, abgesehen vom Wort Union vielleicht. Und während sich die Gruppierungen in Europa darüber beschweren, dass die EU ein Sklave des Freihandels sei, sehen manche unserer Handelspartner in uns den Freihandelsbremser.

Welche Sichtweise ist nun richtig? Ist die Wahrheit nur eine Frage der Perspektive? Nein, das Ziel der europäischen Union ist nun einmal der größtmögliche Interessensausgleich, und zwar sowohl innerhalb Europas als auch auf der internationalen Bühne wie z.B. in der WTO. Dass man bei dieser Aufgabe mit Extrempositionen nicht weiterkommt, ist klar.

Was die Entscheidungen in Brüssel betrifft, so sollten auch die nationalen Politiker endlich zu ihrer Verantwortung stehen. Beschlüsse, die gemeinsam getroffen werden, müssen auch gemeinsam verantwortet und erklärt werden.

Die EU kann längerfristig nicht erfolgreich sein, wenn sie nur soweit mitgetragen wird, soweit es dem momentanen nationalen Interesse nützlich ist. Das mindeste muss sein, dass man bereit ist wie ein Investor zu handeln. Wenn sie in ein noch so gutes Projekt investieren, müssen sie zuerst Geld in die Hand nehmen und können erst später einen Gewinn verbuchen.

Man kann die Stimmung gegenüber Europa auch nicht mit dem Satz abtun: Früher haben die Tiroler und Steirer auf Wien geschimpft, heute schimpfen alle gemeinsam auf Brüssel.

Der gefährliche Unterschied liegt darin, dass den Steirern und Tirolern bei allem Schimpfen immer bewusst war, dass sie Österreicher sind, während nur eine Minderheit das Gefühl hat, dass sie auch Europäer sind. Brüssel wird eher als Sitz einer fremden wenn nicht gar einer Art Besatzungsmacht empfunden. „Die in Brüssel entscheiden gegen uns Österreicher“,: heißt es und nur wenige haben verinnerlicht, dass wir seit 10 Jahren Unionsbürger geworden sind.
   

Meine Damen und Herren,

Natürlich kann das beste Politmarketing keine Inhalte ersetzen. Und damit bin ich zurück bei den Herausforderungen die die EU in den nächsten Jahren zu bewältigen hat. Nach dem Binnenmarkt, dem gemeinsamen Geld, Schengen der größten Erweiterung und dem Beschluss über den gemeinsamen Verfassungsvertrag scheint mir in den nächsten Jahren zunächst einmal eine gewisse Konsolidierung wichtig. Die Verfassung muß erst einmal in allen Staaten ratifiziert werden, die EU der 25 braucht eine neue Finanzierungsbasis, der Euro und Schengen müssen auf neue Staaten ausgeweitet werden, eine neue Generation von Strukturprogrammen ist von Nöten, der Binnenmarkt muss komplettiert der Stabilitätspakt überdacht, die Arbeitslosenzahl gesenkt, Wachstum angekurbelt und Forschung und Entwicklung müssen forciert werden. Dazu kommet, dass mit den neuen Außengrenzen auch eine neue Nachbarschaftspolitik notwendig geworden ist, dass in der inneren und äußeren Sicherheitspolitik neue Initiativen gefragt sind und unser transatlantisches Verhältnis wie überhaupt die Rolle, die die EU in der Welt spielen soll, neuer Initiativen bedarf.

Kein Wort also davon, dass für eine neue Periode nur sehr wenig zu tun bleibt. Im Gegenteil: harte Arbeit zwar weniger programmatisch, dafür aber sehr konkret und oft auch mühsam ist gefragt. Ich bin sehr froh darüber, dass der designierte Kommissionspräsident Barroso bereits deutlich gemacht hat, dass wir alle die Ärmel aufkrempeln müssen, wenn wir diesen Herausforderungen gerecht werden wollen.

Meine Damen und Herren,

Ich möchte hier heute ganz bewusst nicht auf einzelne Projekte, die für die Weiterentwicklung Europas wichtig sind, eingehen. Erstens weil ich dem neuen Präsidenten, dessen erste Stellungnahmen bereits sehr viel versprechend waren, nicht ins Handwerk pfuschen möchte und zweitens, weil es mir darum geht, einige mehr grundsätzliche Überlegungen anzustellen.

Vaclav Havel hat in einer Rede vor dem Europarat 1995 gesagt, dass Europa an einem historischen Scheideweg steht, an dem es ihm gelingen muss, eine neue Verantwortlichkeit zu entwickeln, um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Leider ist diese Verantwortlichkeit heute nicht immer vorhanden. Der Grund für dieses Scheitern ist für mich klar: es gibt leider in vielen Bereichen nach wie vor keine echte europäische Politik.

Das heißt, es gibt zwar eine französische, eine österreichische, und eine spanische EU-Politik. Aber diese EU Politiken sind häufig nur mühsam verhüllte nationale Politiken, die entweder gar nichts mit dem Interesse an Europa zu tun haben oder ein solches nur akzeptieren, solange es mit dem nationalen Interesse identisch ist. Insofern wird bei Ratssitzungen nur allzu oft keine europäische Politik gemacht, sondern es entsteht nur ein Kompromiss zwischen nationalen Politiken. Bei dieser Vorgangsweise kommt meistens zweierlei heraus: entweder die Vorschläge scheitern, weil sie keine Mehrheit finden, oder es kommt nur ein fauler Kompromiss zustande. Für beide Varianten gibt es genügend Beispiele und das österreichische Scheitern in der Transitfrage ist leider eines der bekanntesten davon.

Genausowenig wie es in vielen Bereichen eine echte EU Politik gibt, gibt es häufig eine echte EU-Debatte. Kein Wunder daher, wenn bei den europäischen Wahlen alles andere nur nicht europäische Themen diskutiert werden. Ich brauche ja nicht zu wiederholen, was – vom Niveau der Diskussion ganz zu schweigen – in Österreich die Debatte des letzten EU-Wahlkampfes beherrschte. Meiner Meinung nach wird sich das solange nicht ändern, solange es keine wahrnehmbaren europäischen Parteien gibt, die sich mit klaren Positionen einem europäischen Wettkampf um die besseren Ideen stellen. Dann gäbe es automatisch eine Auseinandersetzung um Europa, in der sich der Bürger ein Bild machen könnte, welches europäische Programm er unterstützen möchte.

Solange jedenfalls die Mitgliedstaaten nicht lernen, europäisch zu denken und zu handeln, solange Frankreich in der europäischen Außenpolitik in erster Linie ein Mittel zur Erringung alter Größe sieht, solange Länder wie Spanien in der EU-Politik in erster Linie einen dankbaren Geldgeber sehen und solange die reichsten Mitgliedstaaten nur ihren Nettozahlerstatus beklagen, solange werden sich die europäischen Beschlüsse auch nicht die Anliegen der europäischen Bürger widerspiegeln.

Die europäischen Bürger wollen ein schlagkräftiges Europa, in dem die drängenden Probleme wie Umweltschutz, Arbeitslosigkeit und grenzüberschreitende Kriminalität bekämpft werden. Diese Herausforderungen können aber nicht bekämpft werden, wenn die Mitgliedstaaten in der EU die Ausarbeitung von Weisungen ihren Fachressorts überlassen, die dann jeweils nur an einem Detailproblem herumdoktern. Diese Herausforderungen können nur auf der Basis von Faktenanalysen und politischem Mut gelöst werden. Leider fehlt aber nur allzu oft beides: sowohl die Analyse als auch der Mut.

Bleibt die berühmte Frage nach der Finalität Europas? Wohin wollen wir letztlich steuern? Ich habe mich immer als ein Anhänger der Jean Monnet-Methode bekannt. Ich bin auch nach wie vor der Meinung, dass es besser ist, konkrete Projekte zu definieren, die uns auf der Europäischen Ebene weiterbringen, statt darüber zu streiten, ob wir in einer Konföderation oder in den Vereinigten Staaten von Europa enden wollen.

Seit aber die Kerneuropaidee neu belebt wurde, noch dazu als ein möglicher Exklusivzirkel von einigen Staaten, der dann nicht unbedingt für alle anderen offen steht und sich zu dessen Realisierung auch nicht der europäischen Institutionen bedient und seit manche in der EU schon das Ende der Geschichte heraufdämmern sehen, bin ich nicht mehr unbedingt überzeugt davon, dass mehr Europa als Konzept für die Zukunft schon genügt. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich bin kein Anhänger der britischen Auffassung, dass wir schon zuviel Integration hätten, im Gegenteil, die Vertiefung muss weitergehen. Ich glaube aber gleichzeitig, dass wir an der Idee einer Europäischen Union als Konzept suae generis festhalten sollten. Dieses Konzept baut aber auf dem Nationalstaat auf, daher können wir auch diesen nicht gänzlich in Frage stellen, nach dem Motto, dass er für die großen Aufgaben zu klein und für die kleinen Aufgaben zu groß wäre.

Wir müssen daran gehen, bleibende Politikfelder des Nationalstaats zu definieren und außer Streit zu stellen. Die Pflicht zur Subsidiaritätsprüfung, wie sie in der Verfassung vorgesehen ist, bringt hier sicher einen Fortschritt, bedeutet aber dennoch im Umkehrschluss, dass der Staat definiert ist als etwas für das es keinen europäischen Mehrwert gibt. Das ist mir als Perspektive zu wenig. Wenn wir aber Politikfelder für den Staat definieren, so eröffnet dies auch Ebenen, auf denen sich der Nationalstaat ausbreiten kann, ohne dass gleich eine Debatte über einen neuen Nationalismus vom Zaun gebrochen wird. Vielmehr könnte man damit sogar dem Wiedererstarken verschiedener Nationalismen begegnen. Jeder Staat braucht für seine Existenz auch Selbstbewusstsein und es ist sicher weit klüger, von vorne herein Raum dafür zu schaffen, als sich in einen permanenten Kampf um Zuständigkeiten zu verheddern.

Ich denke, man könnte damit auch einigen Fehlentwicklungen gerade in den jungen Demokratien der neuen Mitgliedstaaten vorbeugen.

Meine Damen und Herren,

lassen Sie mich am Schluss noch ein paar Bemerkungen zu Österreich und seinem Verhältnis zur EU machen. Ohne ins Detail zu gehen, können wir nach 10 Jahren EU-Mitgliedschaft mit Fug und Recht feststellen:

Der Beitritt hat sich gelohnt! Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft hat unseren Wohlstand noch weiter vermehrt; die österreichischen Exporte boomen wie noch nie, Österreich ist ein attraktiver Platz für Investoren; die Zahl der Arbeitsplätze ist seit dem Beitritt gestiegen und wir sind der größte Profiteur der Erweiterung.

Der EU-Beitritt und die Erweiterung haben dazu beigetragen, dass Österreich heute bei weitem besser positioniert ist, als Anfang der 90er Jahre. Darauf können wir ruhig stolz sein.

Mit dem EU-Beitritt hat Österreich aber nicht nur wirtschaftliche Grenzen überschritten. Wir haben auch Grenzen unseres politischen Systems, Grenzen in den Köpfen passiert. Bis zum Anfang der 90er Jahre herrschte bei uns das Proporzsystem, wo die Frage „Was kannst Du?“ manchmal weniger wichtig war, als die Frage „Welches Parteibuch hast Du?“. Die Diskussionen im Nationalrat waren zwar sehr ausgeprägt. Wenn es aber um Wirtschaft und Arbeit ging, waren die Treffen von Benya und Sallinger beim Heurigen weit wichtiger. Und dass den österreichischen Konsumenten Millionen Schillinge durch Monopole und Kartelle vorenthalten wurden, ist erst im nachhinein durch einige Verfahren der Europäischen Kommission in den letzten Jahren deutlich geworden.

Selbst wenn nicht alle diese Erscheinungen völlig vom Tisch sind, so kann man dennoch mit Fug und Recht sagen, dass es nicht zuletzt der EU-Beitritt war, der die starren Grenzen des politischen Systems in Österreich gesprengt hat. Wir haben aufgehört so zu tun, als lebten wir auf einer „Insel der Seligen“. Wir sind heute Teil der größten Ökonomie und dem drittbevölkerungsreichsten politischen Player der Welt, mit all den Chancen und Pflichten, die das mit sich bringt.

Bleibt nur eine Frage: wenn die EU uns dabei geholfen hat, über unsere Grenzen hinauszugehen, warum stehen dann trotzdem mehr Österreicher der EU so kritisch gegenüber als in anderen Staaten?

Da wirkt wohl u.a. noch das Trauma der Sanktionen nach. Im Jahr 2000 wurden sicherlich auf beiden Seiten Fehler gemacht, das ist keine Frage. Und diese Fehler sind auch auf beiden Seiten nach wie vor spürbar. Wenn man damals allerdings versuchte, zwischen den Fronten zu vermitteln, kam man schnell in den Verdacht, ein Verräter zu sein. Dass damals kein offener, ehrlicher Dialog möglich war, gehört sicher zu den negativsten Erlebnissen meiner zehnjährigen Tätigkeit als EU-Kommissar.

Leider wird das Gefühl, dass über die kleineren Staaten im wahrsten Sinn des Wortes drübergefahren wird, auch durch die Art und Weise, wie mit dem Transitthema umgegangen wird, weiterhin am Leben erhalten. Auch hier liegen die Fehler auf beiden Seiten, mit zwei entscheidenden Unterschieden: Während sich bei den Sanktionen alle Österreicher in der Sache einig waren, ist es in der Transitfrage bis heute nicht gelungen, eine klare und einige Position festzulegen und zum anderen macht Österreich selber ständig den Fehler, den Vorrang der Verkehrsfreiheit zu betonen, statt sich auf andere europäische Werte zu berufen, wie z.B. auf die Gesundheit oder die Umwelt.

Meine Damen und Herren, was ist das Resümee?

Wenn auch wirft das europäische Projekt nach wie vor Schwächen aufweist, alles in allem ist die Europäische Union eine riesige Erfolgsgeschichte, auf die wir durchaus stolz sein können. Sicherlich bleibt auch noch viel zu tun, um sicherzustellen, dass diese Union auch in Zukunft eine Erfolgsgeschichte bleibt. Wir haben gemeinsam die Chance, Frieden und Wohlstand für Europa dauerhaft zu sichern, und je besser uns das gelingt, umso attraktiver wird unser Modell des Zusammenlebens von Staaten und Völkern auch zu einem Modell für die Politik in anderen Teilen der Welt werden.

Jedenfalls ist es faszinierend, Europäer zu sein. Ich danke Ihnen.
     
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