Gusenbauer
plädiert für EU-Verhandlungen mit Türkei über "EWR plus/minus"
Schüssel habe Alternativen zum Beitritt eingemahnt, aber keine vorgelegt - "wir
haben die Alternativen"
Wien (sk) - SPÖ-Vorsitzender Alfred Gusenbauer bekräftigte am Donnerstag (30. 09.) seine
Ablehnung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei. Würde jetzt die Entscheidung
für Beitrittsverhandlungen getroffen, werde am Ende der Beitritt stehen. "Bedeutend ehrlicher und sinnvoller"
wäre es, über die Lösung "EWR plus/minus", etwa EWR minus Freizügigkeit des Personenverkehrs
und minus Niederlassungsfreiheit, zu verhandeln. Diese Verhandlungen könnten in einem überschaubaren
Zeitraum abgeschlossen werden, würden der EU die nötige Zeit zur Konsolidierung der erweiterten Union
geben, wären ein Beitrag zu einer weiteren vernünftigen Entwicklung der Türkei und überdies
ein "Testfall" für all jene Länder, mit denen die EU ein gutes Verhältnis definieren wolle,
ohne dass es zu einer Mitgliedschaft komme. Kanzler Schüssel habe gemeint, es müsse Alternativen zum
Beitritt geben. "Wir haben einen Vorschlag, jetzt ist Schüssel am Zug, die von ihm selbst eingemahnten
Alternativen vorzulegen", sagte Gusenbauer.
Im Rahmen seiner Pressekonferenz erörterte der SPÖ-Vorsitzende die Frage, ob die EU für einen Beitritt
der Türkei bereit sei. "Wenn die anstehenden Probleme nicht gelöst werden, besteht die Gefahr, dass
die EU in ihrem Integrationsgrad zurückfällt" und die EU letztendlich "ein lockeres Gebilde"
werde, sagte Gusenbauer. Die anstehenden Herausforderungen: Aus der "EU der 15" müsse nun nach und
nach eine "EU der 25" gemacht werden, weil die Erweiterung nicht gut vorbereitet war. Die EU-Verfassung
sei zwar beschlossen, allerdings werfe der Ratifizierungsprozess Probleme auf. Werde die Verfassung nicht beschlossen
- in vielen Mitgliedsstaaten stünden die Referenden aufgrund der deutlichen Ablehnung der Bevölkerung
vor einem ungewissen Ausgang - würde der EU "die Geschäftsgrundlage entzogen" und die Union
würde auf den Status der EU 15 zurückfallen. Denn das Funktionieren der EU 25 sei in dieser Verfassung
grundgelegt. Außerdem verwies Gusenbauer darauf, dass die aktuelle Finanzperiode mit 2006 auslaufe, wie die
Finanzierung danach aussehe, sei ungeklärt.
Andererseits ging Gusenbauer auch auf die Frage ein, ob die Türkei für einen EU-Beitritt bereit sei.
Zwar habe es substanzielle Fortschritte seitens der Türkei gegeben, schwere Probleme gebe es aber nach wie
vor in der Frage der Menschenrechte. "Die Frage, ob die Menschenrechte erfüllt sind, wie man sich das
von einem EU-Mitgliedsland vorstellt, ist außerordentlich offen", so Gusenbauer. Ein Bericht des US-State-Departments
aus dem Jahr 2003 zur Menschenrechtspraxis der Türkei liste 15 "ganz massive, substanzielle Menschenrechtsverletzungen"
auf, die jeden Tag in der Türkei stattfinden würden. Außerdem verwies der SPÖ-Vorsitzende
auf "erhebliche Probleme" die soziale Situation betreffend: eine Million Kinder seien in Kinderarbeit
involviert und Kollektivverträge gebe es nur für fünf Prozent der Beschäftigten. Die Staatsschuld
der Türkei liege bei 250 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) - dies sei mehr als das doppelte jenes EU-Landes
mit dem höchsten Verschuldungsgrad. Außerdem vermisst Gusenbauer den erforderlichen Bewusstseinsstand
seitens der türkischen Behörden, was eine EU-Mitgliedschaft bedeute. EU-Kommissar Verheugen habe im Zusammenhang
mit der türkischen Strafrechtsreform gemeint, er habe manchmal den Eindruck, die türkische Regierung
sei der Ansicht, dass die EU der Türkei beitreten wolle. Die Türkei, so Gusenbauer, müsse zur Kenntnis
nehmen, dass es für die Gesamtheit der Union Regeln gebe, die für alle Mitgliedsstaaten gelten.
Zur Frage, wo die Grenzen der EU liegen, sagte Gusenbauer: Die Grenzen würden dort liegen, "wo die soziale,
politische und wirtschaftliche Integrationsfähigkeit ende", und seien flexibel. Entscheidend sei, dass
es eine "Europäische Union des Zusammenhalts" und eine "starke EU" gebe, wie der scheidende
EU-Kommissar Fischler es formuliert habe. Würde man diese Grenzen überdehnen, sei das das beste Rezept,
das Projekt zum Scheitern zu bringen.
"Wir wollen ein hochintegriertes Europa", sagte Gusenbauer weiter. So könnten die sozialen, wirtschaftlichen
und politischen Bedingungen am besten verbessert werden. Leider herrsche über dieses integrierte Europa kein
Konsens mehr innerhalb der EU; viele würden den Integrationsstand auf eine bessere Freihandelszone zurückfahren
wollen. "Wir sind der Auffassung, dass weder ein Kerneuropa noch eine europäische Freihandelszone eine
Alternative zu einem gemeinsamen Europa darstellen, in dem die soziale und politische Integration gesichert ist",
so Gusenbauer.
Zu diskutieren sei auch noch die Frage der Mitbestimmung der Bürger, die Frage, wie groß die Distanz
zwischen dem Projekt Europa und den Menschen, die in Europa leben, sei. "Wenn man immer versucht, die Entscheidungen
an den Menschen vorbeizuschwindeln, darf man sich nicht wundern, wenn diese enttäuscht sind", sagte der
SPÖ-Vorsitzende. Als bestes Beispiel dafür nannte Gusenbauer die Position, wie sie auch von Schüssel
vertreten werde: "Beginnen wir mit den Beitrittsverhandlungen und schauen wir, was rauskommt." "Jeder
weiß, wenn es zur Entscheidung über Beitrittsverhandlungen kommt, ist das Ganze auf Schiene, nicht mehr
zu stoppen und wird in einem Beitritt enden." Zuerst werde es heißen, man könne doch nicht 15 oder
20 Jahren verhandeln und müsse zu einem raschen Abschluss kommen, dann werde es heißen, nach den langen
Verhandlungen könne man jetzt nicht mehr Nein zu einem Beitritt sagen. Gusenbauer: "Man sollte der Bevölkerung
klar sagen, was man will, und nicht versuchen, die reale Entscheidung für Beitrittsverhandlungen mit Beruhigungspillen
zu kombinieren, nach dem Motto: Tut euch nichts an, es ist noch alles offen."
SPÖ fordert bindendes Mandat für Schüssel gegen Beitrittsverhandlungen
Die SPÖ werde im Hauptausschuss des Nationalrats einen Bindungsantrag an Kanzler Schüssel für den
EU-Ratsgipfel am 17. Dezember stellen, in dem die Alternative von Verhandlungen der EU mit der Türkei über
einen "guten Vertrag EWR plus/minus" enthalten ist. Die ablehnende Haltung von Nationalratspräsident
Khol findet Gusenbauer "nicht seriös". In welchen Fragen, wenn nicht in so entscheidenden wie der
Zukunft der EU, solle dann das Parlament eine Stellungnahme mit bindender Wirkung abgeben. "Ich kann mir nicht
vorstellen, dass man dem Parlament dieses Recht verwehrt und die ÖVP die parlamentarische Mitbestimmung in
EU-Fragen beseitigen möchte", sagte Gusenbauer.
Im Rahmen der Pressekonferenz verwies Gusenbauer darauf, dass die anderen Parteien keine klare Linie zum Thema
Türkei haben. In der ÖVP habe EU-Abgeordnete Stenzel noch im EU-Wahlkampf klar gegen einen Türkei-Beitritt
Stellung bezogen und stehe gemeinsam mit dem scheidenden EU-Kommissar Fischler im Widerspruch zu Kanzler Schüssel;
die FPÖ sei gegen einen Beitritt, gleichzeitig bezeichne der Kärntner Landeshauptmann Haider alle, die
gegen einen Beitritt seien, als "Hornochsen"; bei den Grünen sei der EU-Abgeordnete Voggenhuber
gegen einen Beitritt und Bundessprecher Van der Bellen eher stark dafür. |
Lopatka: Heilloses SPÖ-Durcheinander in der Türkei-Frage
Gusenbauer setzt unglaublichen SPÖ-Zick-Zack-Kurs fort Wien, 30. September 2004 Wien
(övp-pk) - "Auch noch so leidenschaftlich vorgetragene Worte des SPÖ-Vorsitzenden können
nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der SPÖ in der Türkei-Frage heilloses Chaos herrscht",
sagte Donnerstag (30. 09.) ÖVP- Generalsekretär Abg.z.NR Dr. Reinhold Lopatka in Reaktion auf die
Aussagen des SPÖ-Vorsitzenden. "Die diesbezügliche Meinung innerhalb der SPÖ ändert sich
ja täglich. Man darf also gespannt sein, welche Festlegung uns morgen erwartet!"
Lopatka verwies auf Aussagen von SPÖ-Vertretern, die "dieses Durcheinander augenscheinlich machen":
SPÖ-Klubobmann Josef Cap am 15. September 2004 mit einem Nein: "Die EU ist sowohl aus politischen als
auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht reif für einen Beitritt der Türkei."; Michael Häupl
am 20. September 2004 mit einem Ja: "Daher bin ich auf jeden Fall dafür, dass man die Türkei nicht
vor den Kopf stoßt, dass man Beitrittsverhandlungen aufnimmt."; Alfred Gusenbauer am 21. September 2004
mit einem Ja: "Man hat der Türkei immer die Beitrittsoption vor Augen gehalten, es ist daher unmöglich
zu sagen, es kommt nicht infrage."; Die Wiener SPÖ-Gemeinderätin Nurten Yilmaz am 23. September
mit einem Ja: "Ich fordere dazu auf, sich an das wichtige demokratische Prinzip zu halten, dass Verträge
einzuhalten sind. 1999 wurde der Kandidatenstatus der Türkei beschlossen. Dazu muss man stehen."; SPÖ-Klubobmann
Josef Cap am 26. September 2004 mit einem Nein: "Es sollen keine Verhandlungen mit der Perspektive Beitritt
aufgenommen werden, sondern mit einer Perspektive einer EWR-ähnlichen, speziellen Partnerschaft mit der Türkei.";
SPÖ-EU- Delegationsleiterin Maria Berger am 27. September 2004 mit einem Nein: Die Entscheidung gegen die
Aufnahme von EU- Beitrittsverhandlungen mit Ankara sei auch im Interesse der Türkei. "Es ist besser wir
haben jetzt die Stunde der Wahrheit als erst in fünf, sechs Jahren. Es ist zu befürchten, dass Beitrittsverhandlungen
früher oder später scheitern werden und dann stehen wir vor einem Trümmerhaufen."; Alfred Gusenbauer
am 28. September 2004 mit einem Nein: "Die Türkei soll Ja zu Verhandlungen sagen, aber nicht mit dem
Vollbeitritt als oberstem Ziel."; SPÖ- Europaabgeordneter Hannes Swoboda am 29. September 2004 mit einem
Ja: "Meine Empfehlung an die SP ist, dass sie Verhandlungen nicht im Weg stehen soll." Verhandlungen
mit offenem Ende seien die "einzig vernünftige Linie". "Alles andere heißt, dass wir
wieder voll daneben liegen." Und schließlich Alfred Gusenbauer heute mit einem Nein: "Verhandeln
ja, aber Beitritt nein."
"Angesichts dieser Chronologie ist es wohl mehr als fragwürdig, wenn SPÖ-Chef Gusenbauer von einheitlicher
SPÖ-Linie spricht und es ist eine kühne Behauptung, wenn andere SPÖ-Vertreter, wie etwa SPÖ-
Bundesgeschäftsführerin Doris Bures, die Medien oder gar die ÖVP für dieses Durcheinander verantwortlich
machen", sagte Lopatka.
"Die SPÖ ist drauf und dran, mit ihrem Verhalten in dieser Frage den letzten Kredit als ernstzunehmender
Gesprächspartner zu verspielen", so der ÖVP-Generalsekretär abschließend. |