EU-Beitritt der Türkei  

erstellt am
30. 10. 04

 Gusenbauer plädiert für EU-Verhandlungen mit Türkei über "EWR plus/minus"
Schüssel habe Alternativen zum Beitritt eingemahnt, aber keine vorgelegt - "wir haben die Alternativen"
Wien (sk) - SPÖ-Vorsitzender Alfred Gusenbauer bekräftigte am Donnerstag (30. 09.) seine Ablehnung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei. Würde jetzt die Entscheidung für Beitrittsverhandlungen getroffen, werde am Ende der Beitritt stehen. "Bedeutend ehrlicher und sinnvoller" wäre es, über die Lösung "EWR plus/minus", etwa EWR minus Freizügigkeit des Personenverkehrs und minus Niederlassungsfreiheit, zu verhandeln. Diese Verhandlungen könnten in einem überschaubaren Zeitraum abgeschlossen werden, würden der EU die nötige Zeit zur Konsolidierung der erweiterten Union geben, wären ein Beitrag zu einer weiteren vernünftigen Entwicklung der Türkei und überdies ein "Testfall" für all jene Länder, mit denen die EU ein gutes Verhältnis definieren wolle, ohne dass es zu einer Mitgliedschaft komme. Kanzler Schüssel habe gemeint, es müsse Alternativen zum Beitritt geben. "Wir haben einen Vorschlag, jetzt ist Schüssel am Zug, die von ihm selbst eingemahnten Alternativen vorzulegen", sagte Gusenbauer.

Im Rahmen seiner Pressekonferenz erörterte der SPÖ-Vorsitzende die Frage, ob die EU für einen Beitritt der Türkei bereit sei. "Wenn die anstehenden Probleme nicht gelöst werden, besteht die Gefahr, dass die EU in ihrem Integrationsgrad zurückfällt" und die EU letztendlich "ein lockeres Gebilde" werde, sagte Gusenbauer. Die anstehenden Herausforderungen: Aus der "EU der 15" müsse nun nach und nach eine "EU der 25" gemacht werden, weil die Erweiterung nicht gut vorbereitet war. Die EU-Verfassung sei zwar beschlossen, allerdings werfe der Ratifizierungsprozess Probleme auf. Werde die Verfassung nicht beschlossen - in vielen Mitgliedsstaaten stünden die Referenden aufgrund der deutlichen Ablehnung der Bevölkerung vor einem ungewissen Ausgang - würde der EU "die Geschäftsgrundlage entzogen" und die Union würde auf den Status der EU 15 zurückfallen. Denn das Funktionieren der EU 25 sei in dieser Verfassung grundgelegt. Außerdem verwies Gusenbauer darauf, dass die aktuelle Finanzperiode mit 2006 auslaufe, wie die Finanzierung danach aussehe, sei ungeklärt.

Andererseits ging Gusenbauer auch auf die Frage ein, ob die Türkei für einen EU-Beitritt bereit sei. Zwar habe es substanzielle Fortschritte seitens der Türkei gegeben, schwere Probleme gebe es aber nach wie vor in der Frage der Menschenrechte. "Die Frage, ob die Menschenrechte erfüllt sind, wie man sich das von einem EU-Mitgliedsland vorstellt, ist außerordentlich offen", so Gusenbauer. Ein Bericht des US-State-Departments aus dem Jahr 2003 zur Menschenrechtspraxis der Türkei liste 15 "ganz massive, substanzielle Menschenrechtsverletzungen" auf, die jeden Tag in der Türkei stattfinden würden. Außerdem verwies der SPÖ-Vorsitzende auf "erhebliche Probleme" die soziale Situation betreffend: eine Million Kinder seien in Kinderarbeit involviert und Kollektivverträge gebe es nur für fünf Prozent der Beschäftigten. Die Staatsschuld der Türkei liege bei 250 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) - dies sei mehr als das doppelte jenes EU-Landes mit dem höchsten Verschuldungsgrad. Außerdem vermisst Gusenbauer den erforderlichen Bewusstseinsstand seitens der türkischen Behörden, was eine EU-Mitgliedschaft bedeute. EU-Kommissar Verheugen habe im Zusammenhang mit der türkischen Strafrechtsreform gemeint, er habe manchmal den Eindruck, die türkische Regierung sei der Ansicht, dass die EU der Türkei beitreten wolle. Die Türkei, so Gusenbauer, müsse zur Kenntnis nehmen, dass es für die Gesamtheit der Union Regeln gebe, die für alle Mitgliedsstaaten gelten.

Zur Frage, wo die Grenzen der EU liegen, sagte Gusenbauer: Die Grenzen würden dort liegen, "wo die soziale, politische und wirtschaftliche Integrationsfähigkeit ende", und seien flexibel. Entscheidend sei, dass es eine "Europäische Union des Zusammenhalts" und eine "starke EU" gebe, wie der scheidende EU-Kommissar Fischler es formuliert habe. Würde man diese Grenzen überdehnen, sei das das beste Rezept, das Projekt zum Scheitern zu bringen.

"Wir wollen ein hochintegriertes Europa", sagte Gusenbauer weiter. So könnten die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen am besten verbessert werden. Leider herrsche über dieses integrierte Europa kein Konsens mehr innerhalb der EU; viele würden den Integrationsstand auf eine bessere Freihandelszone zurückfahren wollen. "Wir sind der Auffassung, dass weder ein Kerneuropa noch eine europäische Freihandelszone eine Alternative zu einem gemeinsamen Europa darstellen, in dem die soziale und politische Integration gesichert ist", so Gusenbauer.

Zu diskutieren sei auch noch die Frage der Mitbestimmung der Bürger, die Frage, wie groß die Distanz zwischen dem Projekt Europa und den Menschen, die in Europa leben, sei. "Wenn man immer versucht, die Entscheidungen an den Menschen vorbeizuschwindeln, darf man sich nicht wundern, wenn diese enttäuscht sind", sagte der SPÖ-Vorsitzende. Als bestes Beispiel dafür nannte Gusenbauer die Position, wie sie auch von Schüssel vertreten werde: "Beginnen wir mit den Beitrittsverhandlungen und schauen wir, was rauskommt." "Jeder weiß, wenn es zur Entscheidung über Beitrittsverhandlungen kommt, ist das Ganze auf Schiene, nicht mehr zu stoppen und wird in einem Beitritt enden." Zuerst werde es heißen, man könne doch nicht 15 oder 20 Jahren verhandeln und müsse zu einem raschen Abschluss kommen, dann werde es heißen, nach den langen Verhandlungen könne man jetzt nicht mehr Nein zu einem Beitritt sagen. Gusenbauer: "Man sollte der Bevölkerung klar sagen, was man will, und nicht versuchen, die reale Entscheidung für Beitrittsverhandlungen mit Beruhigungspillen zu kombinieren, nach dem Motto: Tut euch nichts an, es ist noch alles offen."

SPÖ fordert bindendes Mandat für Schüssel gegen Beitrittsverhandlungen
Die SPÖ werde im Hauptausschuss des Nationalrats einen Bindungsantrag an Kanzler Schüssel für den EU-Ratsgipfel am 17. Dezember stellen, in dem die Alternative von Verhandlungen der EU mit der Türkei über einen "guten Vertrag EWR plus/minus" enthalten ist. Die ablehnende Haltung von Nationalratspräsident Khol findet Gusenbauer "nicht seriös". In welchen Fragen, wenn nicht in so entscheidenden wie der Zukunft der EU, solle dann das Parlament eine Stellungnahme mit bindender Wirkung abgeben. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dem Parlament dieses Recht verwehrt und die ÖVP die parlamentarische Mitbestimmung in EU-Fragen beseitigen möchte", sagte Gusenbauer.

Im Rahmen der Pressekonferenz verwies Gusenbauer darauf, dass die anderen Parteien keine klare Linie zum Thema Türkei haben. In der ÖVP habe EU-Abgeordnete Stenzel noch im EU-Wahlkampf klar gegen einen Türkei-Beitritt Stellung bezogen und stehe gemeinsam mit dem scheidenden EU-Kommissar Fischler im Widerspruch zu Kanzler Schüssel; die FPÖ sei gegen einen Beitritt, gleichzeitig bezeichne der Kärntner Landeshauptmann Haider alle, die gegen einen Beitritt seien, als "Hornochsen"; bei den Grünen sei der EU-Abgeordnete Voggenhuber gegen einen Beitritt und Bundessprecher Van der Bellen eher stark dafür.

 

 Lopatka: Heilloses SPÖ-Durcheinander in der Türkei-Frage
Gusenbauer setzt unglaublichen SPÖ-Zick-Zack-Kurs fort Wien, 30. September 2004 Wien (övp-pk) - "Auch noch so leidenschaftlich vorgetragene Worte des SPÖ-Vorsitzenden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der SPÖ in der Türkei-Frage heilloses Chaos herrscht", sagte Donnerstag (30. 09.) ÖVP- Generalsekretär Abg.z.NR Dr. Reinhold Lopatka in Reaktion auf die Aussagen des SPÖ-Vorsitzenden. "Die diesbezügliche Meinung innerhalb der SPÖ ändert sich ja täglich. Man darf also gespannt sein, welche Festlegung uns morgen erwartet!"

Lopatka verwies auf Aussagen von SPÖ-Vertretern, die "dieses Durcheinander augenscheinlich machen": SPÖ-Klubobmann Josef Cap am 15. September 2004 mit einem Nein: "Die EU ist sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht reif für einen Beitritt der Türkei."; Michael Häupl am 20. September 2004 mit einem Ja: "Daher bin ich auf jeden Fall dafür, dass man die Türkei nicht vor den Kopf stoßt, dass man Beitrittsverhandlungen aufnimmt."; Alfred Gusenbauer am 21. September 2004 mit einem Ja: "Man hat der Türkei immer die Beitrittsoption vor Augen gehalten, es ist daher unmöglich zu sagen, es kommt nicht infrage."; Die Wiener SPÖ-Gemeinderätin Nurten Yilmaz am 23. September mit einem Ja: "Ich fordere dazu auf, sich an das wichtige demokratische Prinzip zu halten, dass Verträge einzuhalten sind. 1999 wurde der Kandidatenstatus der Türkei beschlossen. Dazu muss man stehen."; SPÖ-Klubobmann Josef Cap am 26. September 2004 mit einem Nein: "Es sollen keine Verhandlungen mit der Perspektive Beitritt aufgenommen werden, sondern mit einer Perspektive einer EWR-ähnlichen, speziellen Partnerschaft mit der Türkei."; SPÖ-EU- Delegationsleiterin Maria Berger am 27. September 2004 mit einem Nein: Die Entscheidung gegen die Aufnahme von EU- Beitrittsverhandlungen mit Ankara sei auch im Interesse der Türkei. "Es ist besser wir haben jetzt die Stunde der Wahrheit als erst in fünf, sechs Jahren. Es ist zu befürchten, dass Beitrittsverhandlungen früher oder später scheitern werden und dann stehen wir vor einem Trümmerhaufen."; Alfred Gusenbauer am 28. September 2004 mit einem Nein: "Die Türkei soll Ja zu Verhandlungen sagen, aber nicht mit dem Vollbeitritt als oberstem Ziel."; SPÖ- Europaabgeordneter Hannes Swoboda am 29. September 2004 mit einem Ja: "Meine Empfehlung an die SP ist, dass sie Verhandlungen nicht im Weg stehen soll." Verhandlungen mit offenem Ende seien die "einzig vernünftige Linie". "Alles andere heißt, dass wir wieder voll daneben liegen." Und schließlich Alfred Gusenbauer heute mit einem Nein: "Verhandeln ja, aber Beitritt nein."

"Angesichts dieser Chronologie ist es wohl mehr als fragwürdig, wenn SPÖ-Chef Gusenbauer von einheitlicher SPÖ-Linie spricht und es ist eine kühne Behauptung, wenn andere SPÖ-Vertreter, wie etwa SPÖ- Bundesgeschäftsführerin Doris Bures, die Medien oder gar die ÖVP für dieses Durcheinander verantwortlich machen", sagte Lopatka.

"Die SPÖ ist drauf und dran, mit ihrem Verhalten in dieser Frage den letzten Kredit als ernstzunehmender Gesprächspartner zu verspielen", so der ÖVP-Generalsekretär abschließend.
     
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