Visionen für Europas Gesundheit  

erstellt am
11. 10. 04

7. European Health Forum Gastein 2004 – "Globale Herausforderungen für die Gesundheit – Europäische Zugänge und Verantwortlichkeiten"
Bad Hofgastein (ehfg) - Prim. Prof. Dr. Günther Leiner, EHFG-Präsident David Byrne, EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz am 8. Oktober 2004 im Kongress- zentrum Bad Hofgastein: "Es wäre übertrieben zu sagen, dass wir von Europa aus die Gesundheitsprobleme der Welt in Griff bekommen könnten. Jeder von uns weiß, dass es schon schwer genug ist, den Herausforderungen auf regionaler und nationaler Ebene gerecht zu werden. Allerdings können wir uns nicht leisten, es nicht zu versuchen", sagte heute, Freitag, 8. Oktober 2004, Prim. Prof. Dr. Günther Leiner bei der Schluss-Pressekonferenz des 7. European Health Forum Gastein (EHFG). Der größte interdisziplinäre gesundheitspolitische Kongress Europas tagt zwischen 6. und 9. Oktober 2004 in Bad Hofgastein zum Generalthema "Globale Herausforderungen für die Gesundheit - Europäische Zugänge und Verantwortlichkeiten".

Vogelgrippe in Asien - Bedrohung für Europa
Jüngstes Beispiel einer globalen Herausforderung ist die Vogelgrippe in Asien, die dieses Jahr bereits 29 Tote gefordert hat. Der vermutlich erste Fall von einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung in Thailand lässt Schlimmes befürchten: "In Zeiten der wachsenden Mobilität ist es nur eine Frage von Stunden, bis eine Krankheit wie diese in Europa zu grassieren beginnt." Europa könne sich aber auch selbst besser schützen, wenn es sein Know-how zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten mit nicht-europäischen Staaten teile: "Hier ist vor allem die internationale Kooperation wichtig", sagte EU-Gesundheitskommissar David Byrne, "die Mitgliedsstaaten sind zwar vorbereitet auf einen internationalen Supervirus, aber es gibt immer noch viel zu tun."

Psychische Gesundheit - ein ungehobener Schatz
Ebenfalls ein globales, doch bislang weitgehend vernachlässigtes Problem sind psychische Krankheiten. Pro Tag begehen 2.600 Personen weltweit Selbstmord. Das European Health Forum Gastein setzte das Thema auf die Agenda: "Körperliche Krankheiten werden ernst genommen und behandelt. Psychische Leiden werden hingegen unter den Teppich gekehrt, belächelt oder bagatellisiert. Diese immer noch weit verbreitete Ignoranz in der Öffentlichkeit und im Gesundheitsbereich selbst kommt uns aber teuer zu stehen", meinte Leiner. Mit relativ geringen Investitionen für Prävention oder Rehabilitation könne regelrecht ein Schatz gehoben werden: "Wenn etwa 1.000 Dollar in die rechtzeitige Betreuung von Kindern von Menschen mit psychischen Problemen gesteckt würden, könnte langfristig ein volkswirtschaftlicher Nutzen von 7.000 Dollar erzielen werden", zitierte Leiner die EHFG-Expertin Eva Jané-Llopis.

Pillen heilen die Seele nicht
Aufholbedarf in Sachen psychische Gesundheit besteht sowohl in West- wie in Osteuropa. In den neuen EU-Staaten kumulieren allerdings viele Faktoren: Viele Menschen sind von den radikalen gesellschaftlichen Umbrüchen verunsichert. "Menschen, die sich nicht mehr mit dem Leben in einer völlig veränderten Gesellschaft zurechtfinden, ist nicht allein mit Tabletten zu helfen. Sie brauchen professionelle Lebensbegleitung und menschlichen Zuspruch", sagte Leiner. Leider werde vorwiegend in teuere Psychopharmaka investiert. "Bei der Verwendung der ohnehin knappen Ressourcen fehlt oft die nötige Balance." So wende man in Litauen durchschnittlich zwei bis drei Millionen Euro auf, um alle Ausgaben für moderne Psychopharmaka zu decken. Die Kosten für präventive und rehabilitierende psychiatrische Behandlung von Kindern und Jugendlichen in der Höhe von einer Million Euro werden dagegen nicht zur Gänze gedeckt. Auf diese Weise könnten sich in den neuen EU-Staaten nur schwer die dringend nötigen psychosozialen Therapieansätze etablieren.

Rauchen noch immer größtes Problem
"Eines der größten Suchtprobleme in Europa ist immer noch die Nikotinsucht", sagte Byrne, "wir müssen besonders junge Leute informieren und ihnen zeigen, dass Zigaretten keineswegs Kennzeichen eines ‚coolen' Lebensstils sind." Erste Erfolge im Kampf gegen das Rauchen sind laut Byrne das EU-weite Tabak-Werbeverbot und das umfassende Rauchverbot in Irland. In zwei Wochen wird die EU die künftige Vorgaben für die Bekämpfung des Rauchens bekannt geben: Dabei sei auch die Einrichtung von Informationsstellen vorgesehen, die Raucher unterstützen sollen, die mit dem Rauchen aufhören wollen. "Viele Mitgliedsstaaten haben schon solche Einrichtungen, sie sollen aber in der ganzen EU entstehen", sagte Byrne.

Neue teure Medikamente
Dass die jungen Demokratien im Osten nun Zugang zu den neuesten Medikamenten aus aller Welt haben, sei als große Verbesserung zu werten, bringe aber nicht nur Vorteile, sagte Leiner. In Ungarn verschlingen die Kosten für Arzneimittel schon mehr als ein Drittel der nationalen Gesundheitsausgaben. Der ungarische Gesundheitsstaatssekretär Imre Holló habe beklagt, dass die ehemaligen Ostblockstaaten noch wenig Erfahrung haben im Verhandeln mit den Pharmafirmen. Neu entwickelte Produkte kosten viel Geld, bringen aber nicht zwingend großen therapeutischen Nutzen. "Es wäre wichtig, nur wirklich innovative Medikamente zu unterstützen. Eine EU-weite Studie hat ergeben, dass in den letzten 22 Jahren von den 2.693 in der EU zugelassenen Medikamenten nur 0,3 Prozent einen wirklichen therapeutischen Fortschritt gebracht haben", sagte Leiner.

Qualität als Schlüssel zur ökonomischen Optimierung
Die Frage, wie die galoppierenden Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen sind, ohne die Gesundheitsversorgung zu beschränken oder zu verschlechtern, ist alten und neuen EU-Staaten gemeinsam. "Es ist richtig, nach Einsparmöglichkeiten zu suchen. Doch sollten wir dabei nicht aus den Augen verlieren, dass dem Patienten heute ungleich mehr geboten wird als vor zehn oder zwanzig Jahren und Innovationen ihren Preis haben", unterstrich Leiner. In anderen Bereichen werde um Kostensteigerung nicht soviel Aufhebens gemacht: "Die Deutschen geben pro Jahr 133 Milliarden Euro für ihre Gesundheit aus. Ungleich mehr, nämlich 174 Milliarden Euro, investieren sie in ihre Autos. Die Qualität der Pkws wird immer besser, weshalb die Menschen auch bereit sind, mehr zu bezahlen." Wie im Parallelforum "Auf dem Weg zu Hochleistungsgesundheitssystemen" gesagt wurde, seien qualitative Verbesserungen auch der Schlüssel für eine ökonomische Optimierung von Gesundheitssystemen. "Wenn die Qualität stimmt, lassen sich etwa viele ärztliche ‚Kunstfehler' vermeiden."

Verstärkter IT-Einsatz als Sparmöglichkeit
Erfolg versprechend könnte laut Leiner der verstärkte Einsatz von Informationstechnologie (IT) in Gesundheitssystemen sein. Der Einsatz von Computern könne bei der Diabeteskontrolle nützlich sein - mit Hilfe des Systems DIADEM sei es beispielsweise für Ärzte möglich, die Zuckerwerte von Diabetespatienten ständig zu kontrollieren und im Bedarfsfall rasch einzugreifen. Die Werte werden vom Patienten zweimal täglich in den Computer eingegeben und stehen dann online zur Verfügung. "Die Patienten können so besser eingestellt werden. Und gut eingestellte Patienten kosten das System und die Einzelperson weniger", so Leiner.

Solidaritätsprinzip als Basis für sozialen Frieden
Es wäre dramatisch, wenn man aus all der Forschung keine positiven Resultate ziehen könne. Den globalen Problemen könne man aber nur begegnen, wenn die europäischen Grundwerte in die Praxis umgesetzt würden, betont Leiner. Er warnte davor, vom Solidaritätsprinzip abzurücken, das bislang die Basis für alle europäischen Gesundheits- und Sicherungssysteme gebildet hat. Europa sei bislang stets gut damit beraten gewesen, auch wenn in letzter Zeit der so genannte Wohlfahrtstaat als Belastung für Staat und Bürger hingestellt wird, weil er auch seinen Preis hat. "Was ist die Alternative? Sollten wir nach einem US-amerikanischen Modell streben, wo mehr als in jedem anderen EU- oder OECD-Land für Gesundheit ausgegeben wird, und die Leute dennoch ganz schlecht versorgt sind? Wo Krankheit zur Armutsfalle wird? Einer unserer EHFG-Experten, Prof. Martin McKee, hat berichtet, dass in den USA 40 Millionen Menschen nicht sozialversichert sind und mancherorts afrikanische Amerikaner mindestens so schlecht dran sind wie Patienten in Russland? Investitionen in Gesundheit und Soziales rechnen sich - in der Arbeitskraft der Menschen, aber auch in Form von sozialem Frieden in Europa", so Leiner.
     
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