EU-Verhandlungen mit der Türkei  

erstellt am
07. 10. 04

Gusenbauer: SPÖ-Position klar
Kommissionsbericht beleuchtet Auswirkungen eines Türkei-Beitritts zu wenig
Wien (sk) - Die Haltung der SPÖ zur Frage potenzieller EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sei klar und wesentlich "konvergenter" als bei anderen Parteien: An erster Stelle müssten die Vertiefung und Konsolidierung der EU, die Ratifizierung der EU-Verfassung und die künftige Finanzierung der EU stehen. An zweiter Stelle auf der Tagesordnung komme die Ausarbeitung eines Vertragskonstrukts mit der Türkei - "EWR plus/minus" -, das für eine Zusammenführung der EU mit anderen Nicht-EU-Mitgliedstaaten beispielgebend sein soll, erklärte SPÖ-Vorsitzender Alfred Gusenbauer Mittwoch (06. 10.) in einer Pressekonferenz im Anschluss an eine Sitzung des SPÖ-Präsidiums. "Die EU ist heute nicht reif für einen Beitritt der Türkei, und wie ich derzeit auch aus dem EU-Kommissionsbericht schließen kann, ist auch die Türkei heute nicht reif für einen EU-Beitritt", so Gusenbauer. Diese Haltung habe er heute dem Parteipräsidium vorgetragen, das dies ohne eine Gegenstimme akzeptiert hat. Am Kommissonsbericht kritisierte der SPÖ-Vorsitzende, dass die Auswirkungen eines Türkei-Beitritts auf die EU zu wenig beleuchtet würden; "wir dürfen uns nicht mit rhetorischen Beruhigungspillen abspeisen lassen".

Gusenbauer betonte, dass er seine Position zur Türkei dem Präsidium vorgelegt habe, diese sei dann ausführlich diskutiert und ohne Gegenstimme akzeptiert worden. Konkret gehe es darum: Vor weiteren Erweiterungsschritten müsse es zu einer Vertiefung und Konsolidierung der EU kommen - "die EU der 25 muss eine gelebte Gemeinschaft werden" -, als Voraussetzung für das Funktionieren der EU müsse die EU-Verfassung ratifiziert werden und spätestens 2006 müsse es eine Übereinstimmung über die künftige Finanzierung der EU geben. Dies seien grundsätzliche Voraussetzungen. "Die Ziele der Integration müssten eingelöst werden. Die EU muss gegen europakritische Tendenzen wasserdicht gemacht werden", so der SPÖ-Vorsitzende.

Die zweite Frage sei dann, wie die EU, die sich selbst konsolidieren muss, mit Staaten wie der Türkei umgehe. "Die Grenzen der EU sind nicht geografisch, sondern nach sozialer, politischer und wirtschaftlicher Integrationsfähigkeit der Staaten zu definieren. Nicht alle Staaten in Europa können zu jedem Zeitpunkt Mitglied der EU sein", so Gusenbauer, der aber gleichzeitig darauf hinwies, dass es wichtig sei, ein konstruktives Verhältnis zu diesen Staaten zu schaffen. Schon derzeit seien einige Nicht-EU-Länder mit der EU über den EWR oder bilaterale Verträge verbunden. Es müsse für jene Staaten, die ein engeres Verhältnis zur EU suchen, eine Lösung gefunden werden, so der SPÖ-Vorsitzende, der vorschlägt, ein Vertragskonstrukt mit der Türkei zu verhandeln, das für die Beziehung mit anderen Nicht-EU-Staaten beispielgebend sein solle. Er, Gusenbauer, habe bereits die Lösung "EWR plus/minus" vorgeschlagen. Die Arbeit an einem solchen Vertragswerk sei unverzüglich aufzunehmen.

Der SPÖ-Vorsitzende betonte weiters, dass er die Reformschritte der Türkei als sehr positiv schätze. Den Bericht der Kommission werde man interessiert studieren. Offensichtlich sei, dass es bei der Umsetzung der neuen Rechte in der Türkei Probleme gibt - die SPÖ sei daher zu dem Schluss gekommen: "Die EU ist heute nicht reif für den Beitritt der Türkei und - wie auch bisher aus dem Bericht hervorgeht - die Türkei ist heute nicht reif für einen EU-Beitritt", so Gusenbauer, der hinzufügte, dass sich dies "hoffentlich in Zukunft ändern wird".

Bezugnehmend auf den Kommissionsbericht sagte der SPÖ-Vorsitzende, dass zumindest in der Kurzfassung die Frage der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien nicht genügend beantwortet werde. Wenn außerdem im Bericht die Rede davon ist, dass z.B. der Kinderarbeit in der Türkei "besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist", sei dies eine "unbefriedigende Formulierung", denn dies sage nichts darüber aus, wie die Missstände beseitigt werden. Für Gusenbauer werden die Auswirkungen eines Türkei-Beitritts im Bericht insgesamt zu wenig beleuchtet - die finanziellen Auswirkungen würden etwa sehr ungenau mit zwischen 20 und 36 Milliarden Euro beziffert. Gusenbauer schlägt vor, den Bericht der Kommission anhand des Fischler-Briefes vom Juli zu überprüfen. Franz Fischler spricht in dem Schreiben davon, dass einer Stärkung der EU der Vorzug zu geben und nicht jede Erweiterung durchzuführen ist; eine "Überdehnung" könne zum Scheitern der EU führen. Grundsätzlich würden die EU-Staats- und Regierungschefs in den nationalen Parlamenten die Entscheidungen zu treffen haben und ein Vorschlag der Kommission sei nicht automatisch die Position der EU.

Angesprochen darauf, ob Bürgermeister Häupl eine andere Position in der Türkei-Frage vertrete, sagte Gusenbauer, dass die von ihm vorgetragene Position vom Präsidium einstimmig als Position der SPÖ akzeptiert worden sei; die Linie der SPÖ sei klar und "im Gegensatz zu den anderen Parteien selbst bei böswilligster Interpretation wesentlich konvergenter". Häupl habe sich mit der Intention geäußert, dass man mit der Türkei reden solle - und hier hätten er, Gusenbauer, und der gf. SPÖ-Klubobmann Cap auf das Modell "EWR plus/minus" verwiesen; eine Position, die von Häupl - wie von allen anderen Präsidiumsmitgliedern - akzeptiert worden sei.

 

 Lopatka: Neue Linie der SPÖ: Wir haben keine Linie
Gusenbauer betreibt Realitätsverweigerung
Wien (övp-pk) - "Die Abläufe innerhalb der SPÖ und die Art und Weise, in der sich SPÖ-Chef Gusenbauer um klare Aussagen herumschwindelt, werden immer verwirrender", sagte ÖVP-Generalsekretär Abg.z.NR Dr. Reinhold Lopatka am Mittwoch (06. 10.).

Wer sich im Rahmen der heutigen Pressekonferenz im Anschluss an das SPÖ-Parteipräsidium eine Klarstellung bezüglich der Linie der SPÖ in Sachen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erwartet habe, sei ein weiteres Mal enttäuscht worden, sagte Lopatka. "Tatsächlich ist die einzige erkennbare Linie der SPÖ, keine Linie zu haben. Der SPÖ-Vorsitzende betreibt jedoch Realitätsverweigerung und nimmt diese Orientierungslosigkeit nicht zur Kenntnis", so der ÖVP- Generalsekretär, der an die Aussagen des Wiener Bürgermeisters im heutigen "Standard" erinnerte: ",Da gibt es keine Parteilinie' hat Michael Häupl gesagt und damit den Eindruck der meisten Österreicherinnen und Österreicher bestätigt." Es sei auch bezeichnend, dass Gusenbauer der Frage nach Häupls Zustimmung zum heutigen Beschluss des SPÖ-Präsidiums weitgehend ausgewichen sei. Statt das Wort "Abstimmung" in den Mund zu nehmen, habe sich Gusenbauer auf die Formulierung beschränkt, dass seine, Gusenbauers Position, "von Häupl akzeptiert" und "zur Kenntnis genommen" worden sei.

Während Gusenbauer behaupte, dass Verhandlungen unweigerlich zu einem Beitritt führen, habe Häupl immer für Verhandlungen mit offenem Ausgang plädiert. "Ein Widerspruch, der den Zick-Zack-Kurs der SPÖ wohl mehr als eindrücklich belegt", so Lopatka abschließend.

 

 Van der Bellen begrüsst Empfehlung für Aufnahme von Verhandlungen
Es sind realistischerweise Gespräche mit offenem Ausgang - Was macht Schüssel mit Unklarheit bei FPÖ?
Wien (apa) - Grünen-Chef Alexander Van der Bellen begrüßt die Empfehlung der EU-Kommission, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Ohne den Bericht der EU-Kommission genau zu kennen, dürften offenbar jede Menge kritische Anmerkungen über bisherige Fortschritte in der Türkei enthalten sein. "Wir wissen alle, dass bei Menschenrechten, Gleichberechtigung oder Minderheiten die Praxis der Gesetzeslage noch weit hinterher hinkt". Realistischerweise handle es sich um Verhandlungen mit einem offenen Ausgang. "Der Beitritt wird angestrebt, aber niemand in der Türkei und der Union weiß, wie das letztlich ausgeht", so Van der Bellen gegenüber der APA.

Die Grünen sehen sich durch die Empfehlung der EU-Kommission jedenfalls in ihrer Haltung bestärkt. "Soweit wie das sehen, wird auch Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) nicht unglücklich sein. Es gibt allerdings den Regierungspartner der ÖVP, die FPÖ, die sich klar gegen Beitrittsverhandlungen ausgesprochen hat". Es stelle sich die Frage, so Van der Bellen, ob die FPÖ jetzt die Empfehlung akzeptieren, "wie werden sie dann ihren Schwenk begründen, oder sie werden das nicht akzeptieren. Wird die FPÖ dann Schüssel im Hauptausschuss binden wollen?", meinte der Grünen-Chef.

Generell betonte Van der Bellen, es werde sich bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei um einen langen Weg handeln. Und aus Sicht der Grünen dürfe man nicht vergessen, dass für die kommenden Jahre der Balkan Priorität habe, wobei er auf Verhandlungen mit Bulgarien und Rumänien, auch mit Kroatien verwies. Und man werde außerdem sehen, was mit Mazedonien, Albanien, Bosnien und Serbien geschehe. "Es soll jetzt nicht der Eindruck entstehen, dass ein Türkei-Beitritt von der Situation am Balkan ablenkt".
     
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