EU-Erweiterung: Die Erzeugungsschlacht im Osten findet noch nicht statt  

erstellt am
21. 10. 04

ZMP-Osteuropaforum in Berlin - Marktdruck vor allem bei Getreide
Berlin (aiz.info) - Im Agrarbereich der "alten" 15er-EU sind, ein halbes Jahr nach der EU-Erweiterung am 01.05.2004, die befürchteten Marktverwerfungen ausgeblieben. Diese erste Bilanz zog die Zentrale Markt- und Preisberichtsstelle (ZMP) bei ihrem Osteuropaforum in Berlin. Fast 180 Fachleute aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft aus 20 Ländern nahmen daran teil und übertrafen damit die Besuchserwartungen der ZMP bei weitem.

"Die EU-Erweiterung um zehn Länder - darunter auch sehr agrarstarke - verursachte bei den Bauern der EU-15 Existenzangst, zumindest aber große Skepsis. Die ZMP als effektivste Marktbeobachtungsstelle in der EU - sie besteht seit 1950 und hat heute mit 29 Mio. Ausgaben täglich weltweite Bedeutung - will hier mit Fakten möglichst objektive Informationen liefern", stellte ZMP-Geschäftsführer Ralf Goessler eingangs fest. Die ZMP beobachte die neuen EU-Länder bereits seit zehn Jahren und strebe einen Datenpool an, der 20 Länder Osteuropas erfasse. Daran seien diese Länder selbst sehr interessiert, um auf eigene Daten zurückgreifen zu können, so der Geschäftsführer.

Goessler berichtete von steigender Kauflust in den Städten der jüngsten EU-Länder und der neuen Nachbarn, wie die Ukraine und Russland genannt werden. Die Käufer seien - einkommensbedingt - allerdings sehr preisbewusst. Auch stoße der Kaufboom in den Städten an Sättigungsgrenzen. "In Moskau gibt es mehr Mc Donald's (51) als in Berlin (39). Das Investitionsinteresse des gebietsweise bereits dominierenden westlichen Lebensmittelhandels in Ostländern ist weiter hoch, doch das Wachstum der Shopping-Center verbreitert sich über die Städte hinaus. Wachstum versprechen weiter Molkereiprodukte und Süßwaren, damit sind vorerst auch Chancen für Importe aus Ländern der 15er-EU gegeben", so Goessler.

Ost-Agrarproduktion hinkt noch nach - kaum Marktdruck bei Fleisch und Milch
Eine eher beruhigende Zwischenbilanz für die Landwirtschaft der alten EU ergibt sich laut ZMP vorwiegend im Sektor der tierischen Veredelung. Die Rinderbestände sind noch immer rückläufig und selbst der bei Polen gefürchtete Schweineüberschuss blieb aus. Die Beitrittsländer sowie Rumänien, Russland und die Ukraine verzeichneten im Vorjahr auf Grund niedriger Erzeugerpreise und hoher Futterkosten bis zu zweistellige Bestandsrückgänge. Polen zählte im Frühjahr um 7,6%, Tschechien um 7% und Ungarn sogar um 15% weniger Schweine als ein Jahr vorher. "Die Rindfleischproduktion ist tendenziell weiter rückläufig", berichtete der Vieh- und Fleischreferent der ZMP, Matthias Kohlmüller. Die Beitrittsländer seien derzeit sogar stärker importorientiert, da die Nachfrage nach Fleischerzeugnissen steige.

"Am Milchmarkt fand vorweg noch keine Erzeugungsschlacht statt", konstatierte Erhard Richarts als zuständiger Abteilungsleiter der ZMP. Der mäßige Zuwachs in Polen werde eher auf eine höhere Molkereianlieferung anstelle der hohen Eigenverwertung zurückgeführt. Der Milchstrom innerhalb der neuen EU-Länder ist jedoch in Bewegung geraten: Milch aus Polen fließt nach Tschechien; Ungarn und Slowenien bekamen die Konkurrenz aus dem eigenen Lager ebenfalls zu spüren. Über die traditionellen Grenzen karrten Tankwagen Milch aus der Slowakei nach Italien und Rahm nach Deutschland. Insgesamt kommen derzeit noch 88% der Milchanlieferung aus der 15er-EU, der Rest aus den neuen EU-Ländern. Tschechien nützt die Milchquote noch nicht voll, Ungarn dürfte sie auch künftig nicht erreichen, so Richards.

Getreide-Rekordernte 2004 wurde zum Ausreißer - in Ungarn vom Segen zur Sorge
Wetterbegünstigt wurde heuer in fast allen EU-Ländern eine Rekordernte bei Getreide eingefahren. Darüber hinaus melden sich die Ukraine und die Schwarzmeerregion als Exportländer zurück. Im traditionellen Exportland Ungarn bereitet der Erntesegen große Absatz- und aktuell besonders Lager-Sorgen. "Getreide ist jeden Tag ein Thema im Parlament", sagte Joszef Popp, Direktor des Forschungs- und Informationsinstituts für Agrarwirtschaft in Budapest, der als Praktiker auch einen der größten Agrarbetriebe führt. Nach der verdorrten Ernte 2003 könnte heuer mit 16 Mio. t die doppelte Menge eingebracht werden. Derzeit fehle aber noch der Lagerplatz dafür; Preis und Absatz seien überhaupt fraglich. Eine deutsche Empfehlung aus der Erfahrung nach der DDR-Wende lautete: Getreide in Panzerhallen lagern.

Für den Eigenverbrauch werden in Ungarn 6 Mio. t Futter und 2 Mio. t für die Ernährung gebraucht. Die weiteren 8 Mio. t Mais und Weizen müssen exportiert werden. Ob die Intervention und EUR 18,-/t Frachtvergütung durch die EU gesichert werden, steht noch nicht endgültig fest, die ungarische Marktsituation könnte auch die Preise in Österreich ins Wanken bringen. Weizen ist derzeit für EUR 85,-/t feil, Mais sogar für EUR 80,-. In Rumänien - normalerweise der Hauptabnehmer Ungarns - sind diese Produkte derzeit noch billiger, so Popp.

Bioäthanol als Lösung für Getreideüberschuss-Problem?
Der Getreideüberschuss ist heuer in ganz Westeueropa ein Thema. In Deutschland und Polen bereitet insbesondere auch der Roggen Probleme. Pläne, den Roggen zu Bioäthanol zu verspriten, bereiten noch technische Detailprobleme. Deutschland hat bereits eine Äthanolproduktion; zwei weitere Anlagen sind in Planung. Weiteren Aufschwung wird auch die Biodieselproduktion - durch EU-Richtlinie und steigende Erdölpreise auch gebührend forciert - nehmen. Die sehr gute Rapsernte liefert jetzt auch wieder den Grundstoff dafür.

Toepfer: Getreideüberschuss aus MOEL mittelfristig absetzbar
Zur Getreidesituation nahm auch Klaus-Dieter Schumacher, Präsident des europäischen Verbandes für Getreide- und Futtermittelhandel, von Toepfer International, Stellung. Toepfer disponiert im Jahr rund 45 Mio. t, davon die Hälfte Getreide, über weltweit 43 Niederlassungen. Schumacher rechnet in absehbarer Zeit (2010) mit 8 bis 10 Mio. t Getreideüberschuss aus den MOEL, die er für absetzbar hält. Ungleich mehr könnte die Ukraine bringen, obwohl er die Produktionsprognose von 70 Mio. t als übertrieben einschätzt. Insgesamt würde seiner Meinung nach die Getreideproduktion langsamer steigen als bisher, andererseits dürfte der Verbrauch über Futter dank besserer Futterverwertung ebenfalls abgeschwächt wachsen. Die Rinderproduktion hält er für sinkend, die Geflügelproduktion aber für stärker steigend. Die US-Getreidevorräte sollen in den vergangenen Jahren stark verringert worden sein; ihre tatsächliche Größe gilt aber weiter als Staatsgeheimnis.

Aktuelles EU-Bild Anlass für zuviel Optimismus?
Die hochrangig besetzte und besuchte ZMP-Tagung in Berlin zeichnete insgesamt ein recht beruhigendes Bild, das sich aber rasch ändern könnte - von der Getreide-Rekordernte 2004 abgesehen. Fest steht, dass die Produktionshöhe der MOEL, die jetzt in der EU sind, oder die wie Bulgarien, Rumänien und Kroatien in absehbarer Zeit dazukommen werden, weithin noch nicht das Niveau der Wende-Zeit (1989) erreicht hat. Die Strukturen sind aber da, und bisher unterbliebene Investitionen könnten mit EU-Hilfe nun schneller und somit ebenso produktionssteigernd wie -senkend getätigt werden.

Vor allem durch Getreideverfütterung könnte die Schweine- und Geflügelproduktion relativ kurzfristig gesteigert werden. Die großen westlichen Handelsketten, die in den neuen EU-Ländern bereits stark vertreten sind, könnten dann den derzeit starken West-Ost-Lebensmittelstrom teilweise umkehren. Zusammen mit drohenden WTO-Lasten könnte sich das Bild für die bäuerliche Landwirtschaft in Mittel- und Westeuropa mittelfristig wieder verschlechtern. Die verstärkte Nutzung nachwachsender Rohstoffe könnte allerdings zu einem wirksamen Ventil werden.
     
zurück