Khol: Volle Integration und Gleichberechtigung für Roma und Sinti!  

erstellt am
15. 11. 04

Rede des Nationalratspräsidenten bei Kranzniederlegung in Lackenbach
Wien/Lackenbach (pk) - Nationalratspräsident Andreas Khol hielt am Samstag (13. 11.) November, bei der alljährlichen Gedenkveranstaltung mit Kranzniederlegung vor dem Mahnmal für Roma und Sinti im Gedenken an die von den Nationalsozialisten ermordeten Roma und Sinti im burgenländischen Lackenbach eine Rede. Wir bringen im Folgenden den Wortlaut dieser Rede:


Sehr geehrte Damen und Herren!

Die heutige Veranstaltung im Gedenken an die Roma und Sinti, die dem verbrecherischen Regime der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind, markiert zwei wesentliche Jahrestage: vor 20 Jahren wurde das Mahnmal, vor dem wir uns befinden, errichtet und vor 10 Jahren wurden die Roma als eigenständige österreichische Volksgruppe anerkannt.

Dieser Verordnung der Bundesregierung, mit der ein Volksgruppenbeirat für die Volksgruppe der Roma eingesetzt wurde, ging eine Entschließung des Nationalrates vom 15. Oktober 1992 voran, mit der die Bundesregierung aufgefordert wurde, ihre Bemühungen zur Anerkennung der Roma und Sinti österreichischer Staatsbürgerschaft als Volksgruppe fortzusetzen und abzuschließen. Heuer haben wir eine neue Stufe der Zusammenarbeit zwischen dem österreichischen Parlament und der österreichischen Minderheit der Roma und Sinti begründet. Wie Sie wissen, gestaltet das österreichische Parlament den 5. Mai – den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen – als Tag gegen Gewalt und Rassismus. Heuer wurde der Roma und Sinti als Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Es war eine viel beachtete Veranstaltung. Es ist uns nämlich gelungen, nicht nur ein weiteres dunkles Kapitel unserer Geschichte aufzuarbeiten, vielmehr konnten wir auch aufzeigen, welche Bereicherung, welche Dynamik die Minderheiten der Roma und Sinti für unser Land darstellen.

So möchte ich heute meinen Dank für die gute Zusammenarbeit – vor allem mit den Verbänden der österreichischen Roma und ihrem Präsidenten Prof. Rudolf Sarközi – aussprechen.

Lackenbach ist ein Symbol für das menschenverachtende Verbrecherregime des Nationalsozialismus. Im November 1940 wurde Lackenbach als Anhalte- und Zwangsarbeitslager zur Internierung vor allem der burgenländischen Roma, aber auch von Sinti und Angehörigen anderer Gruppen eingerichtet. In das zunächst für rund 200 Personen vorgesehene Lager Lackenbach wurden dann größere Zahlen von Häftlingen eingewiesen, wodurch die Lebensverhältnisse im Lager besonders erschwert wurden. Auf dem Höhepunkt der Belegung im Oktober 1941 waren im Lager über 2000 Menschen untergebracht. Die Verhältnisse in Lackenbach unterschieden sich kaum von denen in anderen Konzentrationslagern: Zwangsarbeit unter härtesten Bedingungen, Prügelstrafe, stundenlanges Appellstehen, Essensentzug, mangelnde medizinische Betreuung, Schießbefehl für den Fall von Fluchtversuchen. Untergebracht waren die Häftlinge im Lager Lackenbach größtenteils in ehemaligen Schafställen und Scheunen auf Strohlagern, Wohn- und Sanitätsbaracken wurden erst nach einer Flecktyphusepidemie im Winter 1941/42 errichtet. Es gab Arbeitseinsätze der Häftlinge u.a. in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Straßenbau, nicht Arbeitsfähige waren in besonderem Maße von Deportation und Vernichtung bedroht. Von Lackenbach wurden tausende Personen in die Vernichtungslager deportiert, u.a. wurden 2500 österreichische Roma und Sinti nach Auschwitz deportiert, wo sie im so genannten „Zigeunerfamilienlager“ Birkenau auf die Vernichtung warteten. Der Großteil musste sterben.

Die Opferzahlen sind nicht genau zu erheben – jüngste Schätzungen gehen dahin, dass von den rund 11.000 vor 1938 in Österreich lebenden Roma und Sinti nur 1500 bis 2000 die nationalsozialistische Vernichtungspolitik überlebten. Die Gesamtzahl der von den Nationalsozialisten ermordeten Roma und Sinti wird auf 500.000 geschätzt – die Hälfte der im Jahr 1939 in Europa lebenden Roma und Sinti. Ich wiederhole diese bekannten Tatsachen, weil man sich immer wieder die Dimension der Verbrechen der Nationalsozialisten bewusst machen muss und darüber nicht vergessen darf, dass es sich immer um einzelne menschliche Schicksale handelte. Solches Unrecht ist nicht anonym, es richtet sich immer gegen einzelne Menschen. Und somit ist das Übersehen oder Wegschauen keine anonyme Unterlassung, sondern eine Schuld gegenüber den betroffenen Menschen – damals wie heute.

Nichts ist mit der unfassbaren Grausamkeit des nationalsozialistischen Rassenwahns vergleichbar. Dennoch dürfen wir nicht ignorieren, dass es schon viel früher traditionelle Vorurteile gegen die so genannten „Zigeuner“ gab. Viele Erwerbszweige blieben ihnen verwehrt, sie unterlagen einer verschärften Meldegesetzgebung, polizeiliche Statistiken über Straftaten von „Zigeunern“ wurden als Belege für den Hang zur Asozialität verwendet. Im Burgenland setzte die systematische Diskriminierung und Verfolgung der Roma und Sinti bereits unmittelbar nach dem „Anschluss“ ein: Entziehung des Wahlrechts, Verbot des Schulbesuchs und des öffentlichen Musizierens, Zwangsarbeitsverpflichtungen, Verhaftungen. In manchen Verfolgungshandlungen wurde hier eine „Vorreiterrolle“ eingenommen, z.B. wurde den Kindern der Roma und Sinti der Schulbesuch im Burgenland bereits im Mai 1938 verboten, in den übrigen ehemaligen Bundesländern erst zu Beginn des Schuljahres 1939/40, im gesamten Deutschen Reich erst im März 1941.

Auch die Zweite Republik muss selbstkritisch sein. In der Opferfürsorgegesetzgebung nach 1945 wurden die Roma und Sinti nur mangelhaft oder verspätet berücksichtigt. So wurde oftmals eine „rassische“ Verfolgung nicht anerkannt, wenn Roma als „Asoziale“ verfolgt worden waren. Lange Zeit wurden die „Zigeunerlager“ nicht als Konzentrationslager anerkannt, womit kein Anspruch auf Haftentschädigung bestand. Für die Anhaltung im Lager Lackenbach wurden erst ab 1961 Haftentschädigungen anerkannt, allerdings in geringerem Ausmaß als für die KZ-Haft. Eine Gleichstellung der wenigen überlebenden Lackenbacher-Häftlinge mit den KZ-Häftlingen erfolgte erst 1988. Andererseits berücksichtigt der 1995 errichtete Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus von vornherein auch Roma und Sinti. Als Vorsitzender des Nationalfonds bin ich froh darüber, dass hunderte Roma und Sinti aus diesem Fonds Zahlungen erhalten haben, die zwar niemals eine Wiedergutmachung sein können, aber zumindest eine Anerkennung des unaufwägbaren Leidens darstellen sollen.

Die Republik Österreich hat lange gebraucht, um mit diesem dunklen Kapitel unserer Geschichte ins Reine zu kommen. Heute können wir aber feststellen, dass sich Österreich seiner Verantwortung gestellt hat. Im nächsten Jahr begehen wir für unser Land bedeutende Jubiläen: 60 Jahre Zweite Republik, 50 Jahre Wiedererlangung der Freiheit, 10 Jahre Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Wir sollten dieses Österreich-Jahr 2005 nutzen, um darüber nachzudenken, was die Stärken unseres Landes sind und wie wir Österreich weiterentwickeln wollen. Ich möchte nochmals auf unsere Veranstaltung am 5. Mai d.J. zurückkommen. Der Vorsitzende des Volksgruppenbeirates der Roma, Rudolf Sarközi, hat seine Rede unter den Titel „Lasst uns in aller Verschiedenheit miteinander leben!“ gestellt. In seiner Rede hat er gezeigt, welch wichtigen Beitrag die Roma und Sinti zum kulturellen Reichtum unseres Landes beisteuern. Das Bekenntnis der Roma und Sinti zu einem festen Platz in der österreichischen Gesellschaft bringt umgekehrt aber auch einen Handlungsauftrag für die Politik. So möchte ich jene am 5. Mai skizzierte Zielrichtung des weiteren Weges bestätigen:

  • volle Integration und Gleichberechtigung;
  • gleichwertige, spezifische Bildungs- und Ausbildungschancen;
  • volle Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt und ins Wirtschaftsleben;
  • soziale Sicherheit, wie für alle Österreicherinnen und Österreicher: in allen Bereichen, von der Ausbildung bis zur Gesundheits- und Alterssicherung;
  • Pflege der Sprache und Kultur; im Sinne der wertvollen Tradition, die über die Jahrhunderte entstanden ist.

So sollen wir auch diese Gedenkveranstaltung mit dem Blick in die Zukunft beschließen.

     
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