Mit großer Mehrheit hat das Europäische Parlament den Vertrag über eine Verfassung
für Europa gebilligt und rückhaltlos dessen Ratifizierung befürwortet
Straßburg (eu-int) - Die Abgeordneten vertreten die Auffassung, "dass die Verfassung insgesamt
einen guten Kompromiss und eine erhebliche Verbesserung der bestehenden Verträge darstellt, der unmittelbar
nach seiner Umsetzung sichtbare Vorteile für die Bürger (sowie für das Europäische Parlament
und die nationalen Parlamente als ihre demokratische Vertretung), für die Mitgliedstaaten (einschließlich
ihrer Regionen und Gebietskörperschaften) für die effiziente Funktionsweise der Institutionen der EU
und damit für die Union als Ganzes mit sich bringen wird".
Die Abgeordneten glauben, dass die Verfassung einen stabilen und dauerhaften Rahmen für die zukünftige
Entwicklung der Europäischen Union bieten wird und hoffen, dass alle Mitgliedstaaten sie bis Mitte 2006 ratifizieren.
Man müsse zudem alles Mögliche tun, um die europäischen Bürger klar und objektiv über
den Inhalt der Verfassung zu informieren.
Gegen unbegründete Kritiken
Die Abgeordneten weisen Kritiken in der öffentlichen Debatte zurück, die nicht dem tatsächlichen
Inhalt und den Bestimmungen der Verfassung entsprechen. Die Verfassung wird nicht zur Schaffung eines zentralisierten
Superstaates führen. Sie wird die soziale Dimension der Union eher stärken als schwächen. Auch verweist
sie auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas, lässt also die historischen und geistigen
Wurzeln nicht unbeachtet.
Künftige Verbesserungen der Verfassung
Die Abgeordneten sind der Ansicht, dass die Verfassung nicht "unantastbar" ist: obwohl sie einen
"stabilen und dauerhaften Rahmen für die künftige Entwicklung der Europäischen Union bieten
wird" (§7), bleiben viele Verbesserungen künftig noch möglich. Zudem hat das Plenum einen Änderungsantrag
angenommen, mit dem es "seinen Willen bekundet, das neue Initiativrecht, das ihm die Verfassung übertragen
wird, zu nutzen, um Verbesserungen an der Verfassung vorzuschlagen".
Information der Bürger über den Inhalt der Verfassung
Die Abgeordneten fordern, "dass alle möglichen Anstrengungen unternommen werden sollen, um die
europäischen Bürger klar und objektiv über den Inhalt der Verfassung zu informieren". Sie ersuchen
in diesem Zusammenhang die Institutionen der Union und die Mitgliedstaaten, bei der Verbreitung des Verfassungstextes
unter den Bürgern eindeutig zwischen den in den bisherigen Verträgen bereits geltenden Elementen und
den durch die Verfassung eingeführten neuen Bestimmungen zu unterscheiden (§9).
Die Parlamentarier haben einen Änderungsantrag angenommen, in dem sie die Institutionen der Union und die
Mitgliedstaaten auffordern, "die Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft in den Ratifizierungsdebatten
anzuerkennen und ausreichende Unterstützung bereitzustellen, ... um die aktive Teilnahme der Bürger an
den Debatten über die Ratifizierung zu fördern".
Das Plenum hat den Dienststellen des Parlaments, einschließlich seiner Außenbüros, klare Anweisungen
gegeben, "umfassende Informationen über die Verfassung und den diesbezüglichen Standpunkt des Parlaments
anzubieten" (§10). Hierbei ist zu erwähnen, dass das Europäische Parlament über 25 Informationsbüros
verfügt, eines in jeder Hauptstadt der Union, und darüber hinaus über sechs Antennen.
Ratifizierung bis Mitte 2006
Die Abgeordneten hoffen, "dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Lage sein werden,
die Ratifizierung bis Mitte 2006 abzuschließen" (§8), sodass die Verfassung am ersten November
desselben Jahres in Kraft treten kann. Litauen und Ungarn haben die Verfassung durch parlamentarische Abstimmung
bereits ratifiziert. Neun Mitgliedsaaten werden durch ein Referendum entscheiden; dreizehn Länder, unter ihnen
die bereits genannten, entscheiden durch parlamentarische Abstimmung; drei weitere Mitgliedstaaten haben noch nicht
über die Modalität der Ratifizierung entschieden.
Verbesserungen durch die Verfassung: Klarheit, Effizienz, demokratische Rechenschaftspflicht und Bürgerrechte
Die wichtigsten Verbesserungen, die durch die Verfassung erzielt werden, werden von den Abgeordneten unter folgende
vier Themenbereiche gefasst:
1. Größere Transparenz bezüglich des Wesens und der Ziele der Union:
Die Verträge werden durch ein einziges, besser verständliches Dokument ersetzt; die doppelte
Legitimität der Union als Union der Staaten und der Bürger wird bekräftigt; die gemeinsamen Werte
werden explizit verankert und ausgeweitet; die Ziele der Union, die Prinzipien für ihre Tätigkeit und
ihre Beziehungen zu den Mitgliedstaaten werden klarer und besser definiert; die Verwechslung zwischen "Europäischer
Gemeinschaft" und "Europäischer Union" wird enden, da die Europäische Union zu einem einheitlichen
Rechtssubjekt wird; die europäischen Rechtsakte werden vereinfacht; Garantien werden dafür geboten, dass
die EU kein zentralisierter, allmächtiger "Superstaat" wird, u.a. durch die Verpflichtung, die nationale
Identität der Mitgliedstaaten zu achten; die Symbole der Union werden in die Verfassung miteinbezogen; eine
Solidaritätsklausel zwischen den Mitgliedstaaten im Falle eines terroristischen Angriffs oder einer Naturkatastrophe
wird aufgenommen.
2. Größere Effizienz und eine gestärkte Rolle in der Welt:
Die Anwendung der qualifizierten Mehrheit bei Ratsbeschlüssen wird ausgeweitet; die Europäische
Ratspräsidentschaft wird jeweils zweieinhalb Jahre betragen; die Zahl der Kommissionsmitglieder wird ab 2014
verringert; die Sichtbarkeit der Union auf der Weltbühne wird gesteigert durch die Einsetzung eines europäischen
Außenministers, die Schaffung eines Rates "Auswärtige Angelegenheiten" und die Ausstattung
der Union mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit.
3. Mehr demokratische Rechenschaftspflicht:
Das Europäische Parlament wird gleichberechtigt mit dem Rat über die Gesetzgebung entscheiden;
jeder Rechtsakt unterliegt vor seiner Verabschiedung der Überprüfung durch die nationalen Parlamente;
die nationalen Parlamente erhalten alle legislativen EU-Vorschläge rechtzeitig, sie können Einwendungen
erheben, sollten die Zuständigkeiten der EU überschritten sein; der Kommissionspräsident wird vom
Europäischen Parlament gewählt, wodurch eine Verbindungen zu den Europawahlen hergestellt wird; alle
Ausgaben der Union erfordern die Zustimmung des Rates und des Parlaments; das Parlament hat ein Initiativrecht
für Änderungen der Verfassung.
4. Mehr Rechte für die Bürger:
Die Charta der Grundrechte wird in die Verfassung aufgenommen; die Union tritt der Europäischen Konvention
für Menschenrechte bei; die Beteiligung der Bürger und der Sozialpartner an den Beratungen der EU wird
erleichtert; Bürgern wird mit der Einführung einer Bürgerinitiative die Möglichkeit geboten,
die Ausarbeitung europäischer Rechtsvorschriften einzuleiten; Einzelpersonen erhalten einen besseren Zugang
zur Justiz.
Richard CORBETT (SPE, UK) und Íñigo MÉNDEZ DE VIGO (EVP-ED, ES)
Vertrag über eine Verfassung für Europa
Dok.: A6-0070/2004
Verfahren: Initiativbericht
Aussprache: 11.01.2005
Annahme: 12.01.2005 (mit 500:137:40 Stimmen) |