Justiz führt Niedrigimpulsgerät (NIG) im Strafvollzug ein  

erstellt am
03. 03. 05

Vermeidung von Verletzungen der Bediensteten und Insassen bei Eingriffen
Wien (bmj) - Im Sommer vorigen Jahres kam ein tobender HIV-infizierter Strafgefangener zu Tode, nachdem er andere Insassen mit einem Messer bedroht und im Zuge eines Einsatzes 11 Justizwachebedienstete damit verletzt hatte. Zuvor hatte sich der Insasse mit dem Messer selbst geschnitten. Damit wurden die Bediensteten der Gefahr der Ansteckung mit einer tödlichen Krankheit ausgesetzt. Die 11 Bediensteten, die ihr Leben für die Sicherheit anderer Personen aufs Spiel gesetzt hatten, mussten sich einer sehr unangenehmen Chemotherapie unterziehen und wussten lange nicht, ob sie sich infiziert hatten, oder nicht.

Dieser Vorfall war Anlass dafür, dass das Bundesministerium für Justiz prüfte, ob und welche Geräte am Markt sind, mit denen derartige Konsequenzen verhindert werden könnten – zum Schutz der Einsatzkräfte und der Insassen.

Man stieß auf ein Gerät, daß bei Exekutivkräften weltweit (so z.B. in Deutschland, der Schweiz, Kanada, Großbritannien und den Vereinigten Staaten) mit Erfolg eingesetzt wird. Es handelt sich dabei um ein elektrisches Niedrigimpulsabwehrgerät, keinesfalls um einen sogenannten Elektroschocker. Statistiken belegen, dass im Vergleich zu Waffen oder der Anwendung bloßer Körperkraft, bei einem Einsatz ein deutlich geringeres Risiko erheblicher Folgen eintritt. Aus Statistiken geht hervor, dass nach Einsätzen von Stockwaffen in 16%, bei Anwendung einfacher Körperkraft in 25% der Fälle mit teils erheblichen Verletzungen zu rechnen ist. Demgegenüber verursachen Einsätze mit dem NIG in 11% der Fälle geringe, in 1% mittlere und lediglich in 0,4% schwere Verletzungen.

Andere Statistiken zeigen, dass bei Exekutivkräften, die mit dem NIG ausgerüstet sind, die Zahl der Verletzungen der betroffenen Personen, beziehungsweise der Exekutivkräfte selber, um 67 bis 80 % zurückgehen.

Nach seinem auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten Menschenrechtsverständnis ist es Aufgabe des Staates, nicht nur im Einzelfall von mehreren zur Verfügung stehenden Waffen die gelindeste, gerade noch zum Ziel führende einzusetzen (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz), sondern dass es im Vorfeld zu seinen Pflichten gehört, dafür zu sorgen, dass adäquate Mittel überhaupt vorhanden sind. Dabei muss vor allem der Gebrauch klassischer, lebensgefährdender Schusswaffen zurückgedrängt, aber auch der Einsatz reiner Körpergewalt gegen selbst gewalttätige Personen vermieden werden, weil hierbei meist mit schweren Folgen auf beiden Seiten zu rechnen ist.

Die Entwicklung derartiger Geräte sieht das Bundesministerium für Justiz als äußerst positiv, zeigt es doch von dem zunehmenden Wunsch der Staaten, das fundamentale Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bei Exekutiveingriffen zu schützen.

Das NIG entspricht diesen rechtlichen Voraussetzungen. Der Einsatz eines NIGs kommt nur bei bestimmten, gesetzlich genau umschriebenen Notsituationen in Betracht, sofern alle anderen gelinderen Mittel, wie insbesondere solche der Betreuung, versagt haben oder nicht mehr möglich sind.

Das NIG ist ein Selbstverteidigungssystem, das die EMD ( Electro-muscular disruption ) Technologie verwendet. Es unterbricht auf sichere Weise die körpereigenen elektrischen Impulse und somit die Möglichkeit des Angreifers seine Attacke fortzusetzen. Da die Elektroimpulse direkt auf die Muskulatur wirken, ist der Geisteszustand oder ein eventueller Drogen- oder Alkoholkonsum des Getroffenen nicht von Belang. Unabhängig vom Schmerzempfinden oder einer immer noch vorhandenen Kampfbereitschaft des Getroffenen ist dieser für die Dauer der Elektroimpulse maximal 5 Sekunden aktionsunfähig. Nach Beendigung des Einsatzes ist der Betroffene sofort wieder voll handlungsfähig.
Niedrigimpulsgeräte verfügen über einen wechselbaren Aufsatz (Modul), der mittels komprimierten Stickstoff zwei kleine Kontaktelektroden bis 7 Meter weit verschießen kann. Diese bleiben mit der Waffe durch feine isolierte Kupferfäden verbunden. Wenn der Kontakt zum Ziel herstellt ist, überträgt das Gerät wirksame elektrische Impulse auf den Körper. Selbst dicke Kleidung kann die Wirkung nicht abschwächen (Durchdringung bis zu 5cm). Die Stromabgabe des Gerätes liegt unter derjenigen eines Defibrillators.

Um Missbrauch zu verhindern werden Maßnahmen getroffen
Beim Abschuss der Kartusche stößt diese etwa 40 konfettiartige Plättchen (AFIDs) in unterschiedlichen Farben aus, die alle mit einer Seriennummer gekennzeichnet sind. Im Falle eines Missbrauchs finden die ermittelnden Behörden am Tatort einige dieser Plättchen, so dass leicht die Daten des Benutzers ermittelt werden können.

Im Gerät selbst werden Datum, Zeitpunkt, Dauer und Temperatur der Auslösungen registriert und gespeichert. Die Daten sind sicher verschlüsselt und können bei Missbrauchsverdacht ausgelesen werden.

Das Bundesministerium für Justiz hat ausgehend von ausländischen Erfahrungen und freiwilligen Selbstversuchen das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Wien um ein Gutachten zum NIG gebeten.

Hinsichtlich eines allfälligen Einsatzes hat das Bundesministerium für Justiz angeordnet:

  1. Die Waffe darf nur von speziell geschulten Bediensteten in Ausnahmesituationen unter Berücksichtigung der Gesetzeslage zum Einsatz kommen. Der Waffengebrauch darf nur angeordnet werden, wenn sichergestellt ist, dass sich ein Arzt oder zumindest ein in Erster Hilfe (Laienreanimation) geschulter Bediensteter mit halbautomatischem Defibrillator - einsatzbereit hält und gegebenenfalls die erforderliche Hilfe leistet oder als einzige Alternative nur der Schusswaffengebrauch zulässig wäre.
  2. Hinsichtlich des Gebrauches der Waffe wird auf die Ausbildungsrichtlinien, die im Zuge der Ausbildung jedem Teilnehmer übergeben werden, verwiesen. Die rechtlichen Grundlagen für den Gebrauch der Dienstwaffe, insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch gegenüber anderen zur Verfügung stehenden Dienstwaffen, ist strikt zu beachten. Die Anwendung der Waffe gegenüber Schwangeren ist untersagt. Auf den Kopf weder gezielt, noch geschossen werden. Nach erfolgtem Einsatz ist der Betroffene einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Jeder Einsatz dieser Waffe ist schriftlich zu dokumentieren und dem Bundesministerium für Justiz zu berichten.

Was die gelegentlich geäußerte Kritik an der Waffe betrifft, so bezieht sich diese hauptsächlich auf deren missbräuchliche Verwendung. Die wesentliche Strategie Missbräuche zu verhindern liegt in Präventivmaßnahmen, nämlich Personalauswahl, Schulung und berufsbegleitenden Maßnahmen. Sie wurde bisher in der österreichischen Justizwache konsequent und mit Erfolg angewandt.

     
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