Biologie und Evolution des gemeinsamen Geschlechtschromosoms von Frau
und Mann
Berlin / Jena (idw) - Gemeinsam mit drei der weltgrößten Genomzentren in GB und den USA
haben vier deutsche Gruppen vom Leibniz-Institut für Molekulare Biotechnologie (IMB, Jena), dem Max-Planck-Institut
für Molekulare Genetik (MPIMG, Berlin-Dahlem) der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU, München)
und dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ, Heidelberg) ihr Ziel nach mehr als 12 Jahren intensiver Forschungsarbeit
erreicht. Sie veröffentlichen am 17. März in der renommierten internationalen Fachzeitschrift NATURE
ihre umfassende Analyse der fertiggestellten DNA-Sequenz des menschlichen X-Chromosoms.
Das X-Chromosom ist entscheidend für die Geschlechtsbestimmung der Frau und des Mannes. Schon darum hat es
früh das besondere Interesse der Genetiker auf sich gezogen. Gen-Defekte auf diesem Chromosom zeigen sich
besonders häufig, betreffen vorwiegend Männer, da sie ja nur ein X-Chromosom besitzen und werden deshalb
nie direkt vom Vater zum Sohn weitergegeben. Darüber hinaus ist die Geschlechtsbestimmung bei der Frau durch
zwei X-Chromosomen und beim Mann jeweils durch ein X- und Y-Chromosom eine recht späte Erfindung der Evolution.
Noch bei den Vögeln wird das Geschlecht ganz anders bestimmt. Auch musste sich in der Evolution ein diffiziler
Mechanismus entwickeln, um die erhöhte Gendosis von zwei X-Chromosomen der Frau im Vergleich zum Mann zu kompensieren.
Dieser als X-Inaktivierung bezeichnete Prozess schaltet sehr früh in der Entwicklung des weiblichen Embryos
zufällig eines der beiden X-Chromosomen ab und ist auch heute noch in vielen Details unverstanden.
Die genetische Struktur des X-Chromosoms wird in Deutschland schon seit langem analysiert. So veröffentlichte
Hans Lehrach bereits 1986 in NATURE Ergebnisse zur Kartierung der Duchenneschen Muskeldystrophie und arbeitete
später an weiteren X-gekoppelten Erkrankungen, X-Inaktivierung und chromosomaler Evolution. Alfons Meindl
kartiert und charakterisiert seit 1990 erfolgreich Gene, die bei Augenerkrankungen und geistiger Entwicklung eine
Rolle spielen. Annemarie Poustka (DKFZ) publizierte seit 1991 zahlreiche Studien zur hochaufgelösten Kartierung
der genreichen Region Xq28 und der Identifizierung nahezu aller in diesem Bereich befindlichen Gene. Basierend
auf dieser Kartierungsarbeit wurde 1993 am IMB (Jena) gemeinsam mit dem Sanger Institut (GB) die systematischen
Sequenzanalyse des X-Chromosoms begonnen.
Die jetzt in NATURE vorgestellte Arbeit verdeutlicht erneut den enormen Wert von systematischen und international
koordinierten Hochdurchsatzstudien für die Beantwortung von grundlegenden biologischen und medizinischen Fragestellungen,
die nun vor dem Hintergrund der hochgenauen Sequenz von 99,3% des euchromatischen (genhaltigen) Anteils des X-Chromosoms
in neuem Licht diskutiert werden können. Nur etwa 4% (1.098) aller menschlichen Gene befinden sich auf dem
X-Chromosom. Wahrscheinlich wurden in der Evolution jene Gene, deren Funktion die gleichzeitige Expression von
zwei Kopien erfordert, vom Geschlechtschromosom auf andere Chromosomen "ausgelagert". Doch obwohl sich
das X-Chromosom in der vorliegenden detaillierten Analyse eher als eines der Gen-ärmeren zeigt, konnte bisher
eine überproportional hohe Zahl von Erbkrankheiten mit diesem Geschlechtschromosom korreliert werden. Ca.
10% (307) aller bekannten monogenen (d.h. durch Veränderung eines einzigen Gens hervorgerufenen) Erbkrankheiten
werden dem X-Chromosom zugeordnet. Für nur etwa die Hälfte dieser Erkrankungen ist heute die molekulare
Ursache bekannt. Doch schon mehr als ein Viertel dieser Entdeckungen profitierten von der Verfügbarkeit der
Sequenz des X-Chromosoms. Für zukünftige Forschungsstrategien wird sie unerlässlich sein. So z.
B. gilt es, über die 45 schon bekannten X-chromosomalen Gene hinaus, deren Defekte mentale Retardierung (geistige
Behinderung) verursachen, ca. 100 weitere zu identifizieren, die für dieses häufige Krankheitsbild wesentlich
sind. Die umfangreiche Kenntnis solcher Gene wird zum tieferen Verständnis kognitiver Prozesse und möglicherweise
zur Entwicklung neuer Behandlungsmethoden beitragen.
Besonders bemerkenswert ist, dass auf dem X-Chromosom etwa drei Viertel der Gene gefunden wurden, die normalerweise
nur in den männlichen Keimdrüsen (Hoden) und im Krankheitsfall in Krebsgeschwüren aktiv sind. Etwa
10% aller X-chromosomalen Gene gehören zu dieser Gruppe. Das unterstützt die Hypothese, dass sich in
der Evolution auf dem X-Chromosom besonders schnell Gene fixieren, die dem Mann einen Selektionsvorteil bieten.
Sind diese jedoch mit Nachteilen für den weiblichen Organismus verbunden, beschränkt sich ihre Aktivität
auf die Hoden.
Der in diese Arbeit erstmals mögliche umfassende Vergleich beider Geschlechtschromosomen des Menschen erlaubt
neue Einblicke in deren Evolution. Vor ca. 300 Mio. Jahren begann eine schrittweise Unterdrückung des genetischen
Austausches zwischen den beiden Kopien eines Vorläufer-Chromosoms, der die dramatische Verkleinerung des späteren
Y-Chromosoms zur Folge hatte. Für diesen Prozess konnte nun eine bisher unbekannte Etappe identifiziert werden.
Trotzdem finden sich für 54 X-chromosomale Gene noch immer homologe Partner auf dem Y-Chromosom. Weiterhin
kann jetzt die Abstammung des X-Chromosoms von einem Nicht-Geschlechtschromosom eindrucksvoll durch einen Vergleich
mit Chromosom 4 des Huhns bestätigt werden. Weitere Vergleiche mit Maus, Ratte und Hund deuten darauf hin,
dass das menschliche X-Chromosom dem hypothetischen Vorfahren aller Säuger-X-Chromosomen am nächsten
kommt.
Die nun nahezu lückenlos verfügbare chromosomale Primärstruktur bekräftigt die Hypothese zur
X-Inaktivierung, dass eine bestimmte Art von genomweit sich wiederholenden Sequenzen auf dem X-Chromosom die Funktion
von Schaltstationen bei der Ausbreitung des Inaktivierungsprozesses übernommen hat. Diese als LINE1 bezeichneten
Elemente sind auf dem X-Chromosom ungewöhnlich häufig und verteilen sich nach einem Muster, das der schrittweisen
Unterdrückung der genetischen Rekombination mit dem Y- Chromosom entspricht. Komplementär dazu sind ca.
15% aller X-chromosomalen Gene lokalisiert, die sich auch heute noch der X-Inaktivierung entziehen.
Die jetzt in NATURE veröffentlichten Forschungsarbeiten stellen sowohl die zukünftige biomedizinische
Forschung zur Genetik X-chromosomaler Erkrankungen, als auch die Arbeiten zu grundlegenden biologischen Fragestellungen,
wie X-Inaktivierung und Evolution der Geschlechtschromosomen, auf ein stabiles und verlässliches Fundament.
Der deutsche Beitrag zu diesem Projekt wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
im Rahmen des Deutsche Humangenomprojekts (DHGP) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Seit 2001 arbeiten die beteiligten Gruppen aus Jena (IMB), Berlin (MPIMG), München (LMU) und Heidelberg (DKFZ)
im Nationalen Genomforschungsnetz (NGFN) an der engen Verknüpfung von genomischer und klinischer Forschung. |