Warum dieser Erbgutträger eine Sonderstellung einnimmt
Heidelberg (idw) - Die nahezu vollständige Sequenzanalyse des X-Chromosoms des Menschen ist
ein Meilenstein für die Biologie und die Medizin. Die Ergebnisse von Genomforschern aus Deutschland, Großbritannien
und den USA, die am Mittwoch (16. 03.) in einem gemeinsamen Artikel in der renommierten Fachzeitschrift Nature*
veröffentlicht werden, ermöglichen es, die Evolution der Geschlechtschromosomen besser zu verstehen und
den Ursachen von X-chromosomal bedingten Erbkrankheiten sowie Krebserkrankungen auf die Spur zu kommen. An der
Entschlüsselung des X-Chromosoms haben auch Wissenschaftler der Abteilung Molekulare Genomanalyse des Deutschen
Krebsforschungszentrums (DKFZ) unter Leitung von Professor Annemarie Poustka einen bedeutenden Anteil.
Unter den 23 Chromosomenpaaren des Menschen nehmen das X- und das Y-Chromosom eine Sonderstellung ein, denn sie
entscheiden über das Geschlecht eines Menschen. Diese Art der Geschlechtsbestimmung ist in der Entwicklungsgeschichte
noch relativ neu. Im Laufe der Evolution hat das Chromosomenpaar die Fähigkeit zum Austausch von Erbgut und
damit zur Neukombination von Genen verloren. Wahrscheinlich wurden Gene, deren Funktion die gleichzeitige Aktivierung
von zwei Kopien erfordert, vom X-Chromosom auf andere Chromosomen "ausgelagert". Da Männer lediglich
ein X-Chromosom besitzen, wirken sich Gendefekte auf diesem Chromosom auch dann aus, wenn sie rezessiv vorliegen,
während sie bei Frauen nur in Erscheinung treten, wenn beide X-Chromosomen betroffen sind.
Das X-Chromosom besteht aus 155 Millionen Basenpaaren. Die Forscher identifizierten in dieser Erbgutsequenz 1098
Gene, die etwa vier Prozent aller menschlichen Gene entsprechen. Obwohl das X-Chromosom damit eher zu den Gen-ärmeren
Chromosomen des Menschen gehört, steht es mit einer überproportional großen Anzahl von Erbkrankheiten
in Zusammenhang. Etwa zehn Prozent (307) aller bekannten monogenen - d. h. durch Veränderung eines einzigen
Gens hervorgerufenen - Erbkrankheiten werden dem X-Chromosom zugeordnet. Für 168 dieser Erkrankungen ist heute
die molekulare Ursache bekannt. Bereits bei mehr als einem Viertel der dafür erforderlichen Forschungsarbeiten
war die Verfügbarkeit der Sequenz des X-Chromosoms von großem Nutzen. Für zukünftige Forschungsprojekte
wird sie unerlässlich sein.
Der Beitrag des Deutschen Krebsforschungszentrums zu dieser zwölfjährigen internationalen Forschungskooperation
liegt in der vollständigen molekularen Analyse eines Abschnitts des X-Chromosoms von zirka 10 Millionen Basenpaaren,
der Region Xq28. Diese Forschungsarbeit hat Professor Annemarie Poustka als Modellprojekt für die systematische
Analyse von vollständigen Chromosomen sowie des gesamten humanen Genoms durchgeführt. Bereits 1987 begann
sie mit der Entwicklung neuer, moderner Klonierungssysteme, die die effiziente Herstellung und Vervielfältigung
bestimmter Chromosomenabschnitte erlauben, und baute erstmals chromosomenspezifische Genbibliotheken auf. Schon
früh erreichte sie eine Synergie aus neuen molekularbiologischen Technologien und gezielten biologischmedizinischen
Fragen. Diese Arbeiten führten zu einer sehr genauen Kenntnis der Basenabfolge in der untersuchten chromosomalen
Region, zu einer nahezu vollständigen Identifizierung aller in dem Bereich befindlichen Gene sowie zur Aufklärung
einer Vielzahl von X-gekoppelten Erbkrankheiten. Für zahlreiche schwerwiegende Erkrankungen wie zum Beispiel
neurologische Störungen des MASA/CRASH- Syndroms oder Fragiles X-Syndrom, das zu geistiger Behinderung führt,
hat Annemarie Poustka zusammen mit ihren Mitarbeitern essenzielle wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen, die
deren Entstehung und Progression erklären und Diagnosemöglichkeiten auf molekularer Ebene bereitstellen.
Auch für das Verständnis von Krankheiten wie Adrenoleukodystrophie, primäre Muskelerkrankungen in
der myotubulären Myopathie, Signaltransduktionsstörungen in der Incontinentia Pigmenti und Multisystemerkrankungen
in der Dyskeratosis Congenita haben die Ergebnisse der Genomforscher aus dem DKFZ große Bedeutung.
Die jetzt in "Nature" vorgestellte Arbeit verdeutlicht erneut den enormen Wert von systematischen und
international koordinierten Hochdurchsatzstudien für die Beantwortung von grundlegenden biologischen und medizinischen
Fragen und für das Wissen über Krankheitsmechanismen. Der deutsche Beitrag zu diesem Projekt wurde vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Deutschen Humangenomprojekts sowie von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft gefördert. Die beteiligten Gruppen aus Jena (Institut für Molekulare Biotechnologie),
Berlin (Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik), München (Medizinische Genetik der Ludwig- Maximilians-Universität)
und Heidelberg (Deutsches Krebsforschungszentrum) sind seit 2001 im Nationalen Genomforschungsnetz (NGFN) zusammengeschlossen
und arbeiten an der engen Verknüpfung von genomischer und klinischer Forschung.
*Mark T. Ross et al.: "The DNA Sequence of the Human X Chromosome", Nature, 17 March, 2005, Issue 7031,
Volume 434.
Das Deutsche Krebsforschungszentrum hat die Aufgabe, die Mechanismen der Krebsentstehung systematisch zu untersuchen
und Krebsrisikofaktoren zu erfassen. Die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung sollen zu neuen Ansätzen in
Vorbeugung, Diagnose und Therapie von Krebserkrankungen führen. Das Zentrum wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium
für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in
der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF) e.V. |