Die Europäische Wirtschaft kann von der derzeit hohen Dynamik der Weltwirtschaft nur unzureichend
profitieren
Wien (wifo) - Während das Wachstum der Weltwirtschaft nach 4,5% im Jahr 2004 heuer noch einmal
bei etwa 4% liegt, musste die Prognose für den Euro-Raum im Frühjahr auf +1,6% zurückgenommen werden.
Die Europäische Union trug auf dem Gipfel in Luxemburg diesem Umstand Rechnung, indem sie den Stabilitäts-
und Wachstumspakt lockerte sowie der Lissabon-Agenda im Allgemeinen und dem Wachstumsziel im Besonderen einen höheren
Stellenwert gab. Die Verankerung der Lissabon-Strategie in der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten soll durch
einen "Nationalen Aktionsplan" stärker betont werden. Das WIFO legt in seinem Dokument "Strategien
zur Erhöhung von Wachstum und Beschäftigung in Österreich" einen Überblick über
die Effekte der bisherigen Maßnahmen zur Konjunkturstützung und Wachstumsbeschleunigung vor, insbesondere
für die "Konjunkturpakete" I und II, das "Wachstumspaket 2004" und die Steuerreform 2004/05.
Die österreichische Wirtschaft erreichte 2004 und voraussichtlich auch 2005 Zuwachsraten von knapp 2%. Das
Wachstum ist damit niedriger als in früheren Erholungsphasen und nicht hoch genug, um die Arbeitslosigkeit
zu senken. Die Wirtschaft wächst in Österreich rascher als in Deutschland und Italien, 2005 auch rascher
als im Durchschnitt des Euro-Raums, doch ist der Vorsprung, der Österreich in die Spitzengruppe gemessen am
Pro-Kopf-Einkommen geführt hat, verloren.
Indikatoren des Fortschritts zeichnen weniger günstiges Bild als internationale Vergleiche
Mittelfristig liegt das erwartete Wachstum knapp über dem Durchschnitt des Euro-Raumes, aber niedriger
als in den nordeuropäischen und zentraleuropäischen Wachstumskernen. Es reicht mit 2,3% ebenfalls nicht
aus, um die Arbeitslosenquote zu senken – ein deutlicher Rückgang wäre nur bei einem mittelfristigen
Wachstum von 2,5% zu erwarten. Eine Strategie zur Anhebung des Wachstumspfades ist sowohl nach dem Lissabon-Ziel
notwendig, als auch um die Arbeitslosigkeit zu senken, die öffentlichen Haushalte mittelfristig zu konsolidieren
und für die Probleme infolge der demographischen Alterung vorzusorgen.
Eine Bewertung der österreichischen Position nach dem Fortschritt der Lissabon-Strategie zeigt ebenfalls einen
Handlungsbedarf auf. Die Beschäftigungsquote liegt schon nahe dem Lissabon-Ziel für 2010 und steigt,
allerdings durch die Einbeziehung der Personen mit Kinderbetreuungsgeldbezug überhöht und teilweise beschränkt
auf Teilzeitarbeitsplätze. Die Arbeitslosenquote liegt nach EU-Berechnung über jener der Jahre 1995 und
2000; sie wäre ohne Berücksichtigung der Schulungsteilnahmen und Frühpensionierungen und nach der
nationalen Berechnung noch höher. Österreich weist eine der niedrigsten Beschäftigungsquoten älterer
Arbeitnehmer auf.
Gemessen an den Indikatoren für den sozialen Zusammenhalt liegt Österreich günstig, ebenso bezüglich
der Energieintensität. Kennzahlen, die die Veränderung der Umweltbelastung messen (Emissionen von Treibhausgasen,
Transportvolumen), zeigen für Österreich ein ungünstiges Ergebnis. Generell zeichnen Indikatoren
des Fortschritts ein ungünstigeres Bild als jene, die die relative Position zu anderen Ländern anzeigen.
Anhebung des Wachstumspfades
Die Anhebung des Wachstumspfades einer Volkswirtschaft ist eine anspruchsvolle, schwierige und langfristige
Aufgabe. Keine einzelne Maßnahme ist für sich genommen imstande, den Wachstumspfad nachhaltig und merklich
zu erhöhen. Nur eine langfristig konzipierte und konsequent verfolgte Strategie, die kurzfristig Nachfrage
schafft und langfristig das Produktionspotential und die Wettbewerbskraft der Volkswirtschaft insgesamt steigert,
kann das Wachstum dauerhaft verändern.
Eine Strategie zur Erhöhung des Wachstumspfades besonders in einer kleinen Volkswirtschaft ist dann eher erfolgreich,
wenn die Nachbarländer ebenfalls versuchen, das Wachstum zu verstärken, da negative Sickereffekte und
positive Spill-overs auftreten und viele Projekte transnational geplant oder finanziert werden müssen. Die
vom WIFO in seiner Kurzstudie vorgeschlagenen Maßnahmen sind konform oder sogar abgeleitet aus der Lissabon-Agenda
und können in den im Herbst vorzulegenden "Nationalen Umsetzungsplan" eingearbeitet werden.
Zusätzliche Ausgaben zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums dürfen die langfristige Budgetkonsolidierung
nicht aus dem Auge verlieren. Daher sollten die wachstumsfördernden Aktivitäten teilweise durch Umschichtung
der bisherigen Ausgaben finanziert werden. Die gewählten Maßnahmen müssen mittelfristig eine hohe
volkswirtschaftliche Rendite aufweisen. Der psychologische Faktor – die Reduktion der Unsicherheit der privaten
Haushalte und Unternehmen und die allgemeine Akzeptanz der wachstumspolitischen Strategie – spielt eine entscheidende
Rolle.
Die Konjunkturlage ist, wie die aktuelle Prognose des WIFO belegt, nicht so ungünstig, dass Maßnahmen
zur reinen Konjunkturbelebung berechtigt wären. Sollte sich die Situation allerdings verschlechtern, wäre
es günstig, rasch umsetzbare Projekte und Maßnahmen vorbereitet zu haben. Sie sollten nachfrage- und
angebotsseitig wirksam sein (also den Standort verbessern und die Zukunftsinvestitionen unterstützen). Maßnahmen
zur Erhöhung des mittelfristigen Wachstumspfades sollen über den vollen Konjunkturzyklus durchgehalten
werden. Aus der Sicht des Arbeitsmarktes und der Infrastrukturdefizite (besonders im EU-Erweiterungsraum) wäre
ein "Quickstart" einer längerfristigen verstärkten Wachstumsstrategie eventuell auch unter
Nutzung von Einmalerträgen gerechtfertigt.
Die erhöhte Priorität des Wachstumszieles innerhalb der Europäischen Union und die Notwendigkeit
zur Erstellung nationaler Pläne zur Umsetzung der Lissabon-Agenda steigern die Erfolgschancen einer Wachstumsstrategie.
Österreich soll daran mitarbeiten, die Umorientierung der EU auf einen Wachstumskurs zu unterstützen.
Dies könnte gerade unter der Präsidentschaft im 1. Halbjahr 2006 möglich und wichtig sein und würde
auch einen Kompromiss bezüglich der Beitragszahlungen rechtfertigen.
Der Entschluss, dem Wachstumsziel vorrangige Priorität zu geben, darf nicht zu einer Vernachlässigung
der Anstrengungen im Bereich der Kohärenz und der Nachhaltigkeit führen. Beide Ziele sind wesentliche
Charakteristika des "Europäischen Modells". Werden sie vernachlässigt, entstehen mittelfristig
höhere Folgekosten (und die Verunsicherung durch raschen Strategiewechsel). Außerdem verliert Europa
und gerade Österreich damit Wachstums- und Exportchancen im Umwelttechnologiesektor.
Von den seit 2000 getätigten Anstrengungen zur Stützung der Konjunktur analysiert das WIFO-Dokument die
"Konjunkturpakete" I (2001) und II (2002), das "Wachstumspaket 2004" und die Steuerreform 2004/05.
Die Konjunkturpakete stützten vorwiegend die Investitionsnachfage, das Wachstumspaket die Investitionen in
Forschung und Ausbildung; die Steuerreform förderte das Wachstum konsumseitig. Insgesamt stiegen damit die
Forschungsausgaben, die Ausgaben für den Arbeitsmarkt und für Investitionen in Bahn und Straßen
stärker als die Wirtschaftsleistung im Durchschnitt. Die gesamten öffentlichen Investitionen blieben
hinter der Steigerung des BIP zurück, ebenso die Bildungsausgaben.
Die Untersuchung des WIFO nennt sieben Bereiche, in denen Maßnahmen getroffen werden sollten, um den mittelfristigen
Wachstumspfad zu heben:
- Innovation und Forschung,
- Bildung,
- Weiterbildung,
- Infrastruktur,
- Arbeitsmarktförderung und Anreizstrukturen,
- Betriebsgründungen und
- Umwelttechnologie.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen bilden keine vom WIFO entwickelte Gesamtstrategie, sondern ergeben sich
aus Teilstudien, in denen das Institut Stärken und Schwächen untersucht und Maßnahmen vorschlägt.
Im Bereich von Forschung und Innovation ist die Erreichung des Zwischenzieles einer Forschungsquote von 2,5% des
BIP im Jahr 2006 möglich, aber nicht abgesichert. der Vorschlag des WIFO umfasst ergänzende Maßnahmen
zur Forschungsförderung für Klein- und Mittelbetriebe (Prämie bei Auftragsforschung), zur Intensivierung
der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Universitäten (Drittmittelbonus) und eine verbindliche Zusage
von neuen, erhöhten Sonderfinanzierungsmitteln nach Auslaufen der derzeitigen Aktion (etwa über einen
Allparteienantrag im Parlament), da Forschungsaktivitäten über die Legislaturperiode hinaus planbar sein
müssen. Maßnahmen zur Effizienzsteigerung und strategischen Vergabe von Forschungsmitteln ergänzen
diese finanziellen Vorschläge. Die langfristige Wirkung von Forschungsausgaben (u. a. auf die Beschäftigung)
ist deutlich größer als die kurzfristige.
Im Bereich der Ausbildung und Weiterbildung ist der entscheidende Beitrag von Humankapital für das Wirtschaftswachstum
eingehend dokumentiert. Die Tatsache, dass ältere Arbeitnehmer in zehn Jahren die größte Gruppe
auf dem Arbeitsmarkt sein werden, unterstreicht die Bedeutung der Weiterbildung für die Wettbewerbsfähigkeit
Österreichs und verlangt tiefgreifende Änderungen in der Bereitschaft zu lebenslangem Lernen, in Unternehmensstrategien
sowie in der Institutionenlandschaft für Weiterbildung. Konkrete Vorschläge betreffen eine Lehrlingsoffensive
im Bereich der modernen Dienstleistungen, die Anbindung von Lehrabschlüssen an höhere Bildungswege, Nachholprogramme
für Personen ohne Schulabschluss, eine Qualifizierungsoffensive für Personen mit Migrantenhintergrund,
die Unterstützung von Berufsunterbrechungen zwecks Weiterbildung und die Verbindung von Flexibilitätsanforderungen
mit einer geschlossenen Periode für Weiterbildung. Maßnahmen zur Modularisierung, Zertifizierung und
Internationalisierung der Weitebildung sind langfristig wichtig und sollten in ein Gesamtkonzept eingebettet werden.
Im Bereich der Infrastruktur wird der Verbesserung des österreichischen Wirtschaftsstandortes vor dem Hintergrund
der Osterweiterung der EU und der neuen geopolitischen Lage Österreichs Priorität gegeben. Neben Bahn
(Beseitigung von Behinderungen auf der Westbahn, Pyhrnbahn–Summerauer Bahn, Semmeringtunnel) und Straßen
(u. a. Ausbau der Westautobahn, Nord-Süd-Umfahrung Wiens, Spange Kittsee, Nordautobahn, Mühlviertler
Schnellstrasse) bedeutet das auch Investitionen in die Logistik, in Güterterminals und die Bahnhofsanierung.
Im Bereich der immateriellen Infrastruktur ist die Breitbandanbindung zu forcieren. Die Finanzierung von Gemeindeinvestitionen,
die Nutzung der Wohnbaurichtlinien zur Durchsetzung von Energieeinsparungen, ökologischen Baumaßnahmen
und zur Errichtung von Telekommunikationsinfrastruktur wird angesprochen, ebenso Maßnahmen zur Forcierung
von PPP-Modellen (rechtlicher Hintergrund, Task Force, Modellanalysen). Österreich weist einen überproportionalen
Anteil an transnationalen TEN-Projekten auf (Eisenbahnen München–Brenner, München–Bratislava, Budapest–Wien,
Schifffahrt Wien–Bratislava, Autobahn Wien–Brünn). Ihre Finanzierung auf europäischer und nationaler
Ebene sollte verbessert werden, organisatorische Probleme könnten durch einen "TEN-Verantwortlichen"
(ev. gekoppelt mit dem "Lissabon-Verantwortlichen") beseitigt werden. Ein höherer Finanzierungsbeitrag
der EU bei früherem Beginn könnte die abwartende Haltung der Länder reduzieren.
Im Bereich des Arbeitsmarktes werden Aktivierungsmaßnahmen des AMS, Maßnahmen zur Höherqualifikation
und zur zielgruppenorientierten Wiedereingliederung von Problemgruppen vorgeschlagen, wobei alle Modelle unter
dem Gesichtspunkt der Kosten und der Substitution von bestehenden Arbeitsplätzen zu überprüfen sind.
Qualifizierungsmaßnahmen von erwerbsfähigen Beziehern von Sozialhilfe und die Verstärkung von Anreizen
zur Aufnahme von Beschäftigung werden vorgeschlagen. Die Erhöhung des Arbeitnehmerabsetzbetrags in Verbindung
mit der Ausübung einer Beschäftigung ist ebenfalls ein Anreiz zur (Wieder-)Aufnahme einer Beschäftigung.
Zur Gründung und zur Forcierung des Wachstums von Betrieben werden Maßnahmen im Bereich der Betriebsgründung,
der Finanzierung und der Anwerbung von Headquarters vorgeschlagen.
Der Sektor der Umwelttechnologie bietet Österreich beträchtliche Expansionschancen; dafür ist eine
Strategie und eine Förderung zu konzipieren. Die Klimastrategie soll umfassend und kosteneffizient durchgeführt
werden. Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern soll reduziert werden, Umweltpolitik und Wohnbau
können stärkere Synergien entwickeln.
Quelle: WIFO, Autor: Karl Aiginger
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