Die Neuen kommen!  

erstellt am
03. 06. 05

Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre
Wien (wr. städtische) - Die Ausstellung zeigt erstmals den vielfältigen Einfluss von Frauen - Architektinnen, Künstlerinnen, Designerinnen, Filmemacherinnen und Architekturtheoretikerinnen - auf die Avantgarde-Architektur der 1920er Jahre. Die Veranstaltungsreihe "Architektur im Ringturm" präsentiert die materialreiche Schau mit einer Zahl bislang nicht veröffentlichter Dokumente anhand einer repräsentativen Auswahl von mehr als 30 Künstlerinnen.
Beleuchtet werden Ausbildung und tägliche Arbeit, aber auch Schwierigkeiten und Hindernisse, die diesen Frauen in ihrem Berufsleben begegneten.

Neuer Frauentypus. In den zwanziger Jahren war der Wunsch nach Aufbruch und Veränderung im Leben - in der Architektur, im Wohnen, beim Arbeiten, in der Ausbildung - groß. Der kulturelle und gesellschaftliche Wandel verhieß besonders für die Stellung der Frau neue Perspektiven. Frauen der jüngeren Generation machten sich dynamisch und selbstbewusst daran, Neues zu probieren, sich selbst zu verwirklichen und an bestehenden Männerdomänen - Technik, Medizin, Rechtswissenschaft etc - zu rütteln.
Mit den Kenntnissen des technischen Zeichnens und in der Architektur ausgestattet betraten sie auch in der Architektur die Bühne und etablierten sich im neuen Berufsfeld. Das Thema Wohnhaus und sozialer Wohnbau blieb nicht nur für die junge Architektinnengeneration der 1920er Jahre die Bauaufgabe Nummer Eins. Noch heute ist die Mehrzahl in diesem Bereich beschäftigt.

Entwerfen und Bauen, Schreiben und Theoretisieren über Architektur sowie das Fotografieren und Filmen der Bauten der Weimarer Zeit war für eine neue Generation von Frauen zum Beruf und zur künstlerischen Aufgabe geworden. Die "neuen Frauen", die ab den zwanziger Jahren in größerer Zahl an den Technischen Hochschulen, am Bauhaus Architektur oder Design oder in Wien an der "Angewandten" in den beiden Fachklassen Architektur (Oskar Strnad/Oswald Haerdtl und Josef Hofmann) studierten - bis 1919/1920 war ihnen der Zugang verwehrt -, wollten das moderne Leben mitgestalten.

Moderne Architektur mit Funktionalität: Die Frauen der Jahrgänge 1890 bis 1910 setzten ihre Ziele pragmatisch und zielorientiert - oft im Stillen - um. Für sie war der Gedanke der Ganzheitlichkeit der Baukunst wichtig und sie leiteten einen Reformprozess ein. Sie kümmerten sich weniger um kurzlebige ästhetische Moden, sondern suchten praktikable und lebensnahe Lösungen. Die Umgestaltung und Modernisierung des Haushalts im Sinne von Erleichterung im Alltag stand im Zentrum. Die "neuen Frauen" der zwanziger Jahre wollten auf die Zierrate der Lebensformen der Vorkriegszeit verzichten und sahen diese Entwicklung als Befreiung, um zu klaren, ehrlichen, zeitgemäßen Formen vorzudringen.

"Neues Wohnen" war - und ist eigentlich auch heute noch - das Thema der Architektinnen. In ihren Entwürfen suchte diese weibliche Architektur-Avantgarde nach Funktionalität und Einfachheit, die ihnen - im Unterschied zu den männlichen Architekten - aus der Kenntnis des täglichen Lebens und der Hausarbeit Anliegen waren. Das Bauen und Wohnen sollte in Einklang gebracht werden mit der neuen Zeit und den Vorstellungen von einem "neuen Menschen", den beispielsweise Adolf Behne - ein Wortführer der avantgardistischen Architektur der zwanziger Jahre - in dem 1927 publizierten Architekturklassiker "Neues Wohnen, Neues Bauen" postulierte: "Neues Bauen setzt voraus ein neues Wohnen (...) neues Wohnen aber setzt voraus den neuen Menschen." Bauhausarchitektin Wera Meyer-Waldeck setzte eins drauf: "Die Technik ist dazu da, das Leben angenehm zu machen, aber die Kunst macht es erst wertvoll und lebenswert." Sie ist nur eine der "Neuen", die am Bauhaus und den Technischen Hochschulen Architektur oder Design studiert hatten und Architektur jetzt als "soziale Kunst" (Behne) ausübten: Indem sie sich mit vielen Ideen und Visionen vom "neuen Menschen" daran machten, das moderne Leben mitzugestalten.

Die Palette der Entwürfe und Bauten der jungen Architektinnen der zwanziger Jahre war breit gefächert: Synagogen, Kindergärten, Reihenhäuser, Villen, Kurhotels, "Drive-in-Wohnungen", Kaufhäuser, Postämter, Arbeitersiedlungen, Sparkassen, Tankstellen, Ausstattungen für Geschäfte und Kaffeehäuser, Theaterfoyers u.v.m.

Beispiel und auch Highlight der Ausstellung: Margarete Schütte-Lihotzkys (1897-2000) legendäre erste Einbauküche. Die "Frankfurter Küche" war auf Schritt- und Griffersparnis ausgerichtet. Schütte-Lihotzkys "Wohnung der berufstätigen Frau" bestand aus einem rund 20 m2 großen Raum ausgestattet mit flexiblen Möbeln mit integriertem Sanitär- und Küchenbereich. Die in Wien geborene Architektin und Mitarbeiterin von Adolf Loos bleibt in keiner Publikation zur Architektur und Wohnkultur der zwanziger Jahre unerwähnt. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte: serielle Produktion von Einrichtungsgegenständen, Rationalisierung von Wohnungseinrichtungen, Wohnhaustypisierung, Kindergarten- und Schulbau.

Auch erfolgreich sowie preisgekrönt beim "Neuen Bauen" war die deutsche Architektin Paul Marie Canthal (1912-1986), die gemeinsam mit ihrem Mann Dirk Gascard z.B. ein auf 52 m2 erweiterbares "Wachsendes Haus" für eine dreiköpfige Familie schuf, das einen funktionalen Organismus mit viel Wohnqualität trotz Raumknappheit barg.

Ebenfalls in der Ausstellung vertreten ist die bekannte Bauhaus-Architektin Friedl Dicker (1898-1944, geb. in Wien, gest. in Ausschwitz). Sie betrieb mit Franz Singer ein Atelier, das für luxuriöse Häuser, Geschäfte, Inneneinrichtungen und Stoffe Entwürfe fertigte. Dickers vielfältige Talente als Innenraumgestalterin, Malerin, Grafikerin und Architektin kamen zum Tragen.

Nicht alle Frauen in der Ausstellung haben die technischen Hochschule besucht und ein abgeschlossenes Architekturstudium. Beispielsweise war die vielseitige Künstlerin Lilly Reich (1885-1947) - die im Umfeld und für Bauten Mies van der Rohes hervorragende Einrichtungen und Möbelentwurfe schuf - gelernte Kurbelstickerin, Kunstgewerblerin, Schaufenster- und Ausstellungsgestalterin.

Unbekannte Architektinnen. Aus der Geschichte der modernen Architektur sind nur wenige Namen von Frauen - etwa Eileen Gray, Lilly Reich oder Margarete Schütte-Lihotzky - bekannt. Viele sind bislang noch immer nicht berücksichtigt, teils weil ihre Arbeiten - nicht zuletzt, da bloß verstreut publiziert und dokumentiert - unbekannt blieben. Namenswechsel ließ sie mitunter quasi von der Bildfläche verschwinden. Nicht vergessen werden darf die politische Geschichte dieser Zeit mit Verfolgung und Vertreibung, die eine Reihe von Architektinnen jüdischer Abstammung betraf.

Hauptkontingent der Ausstellung sind die Arbeiten von Frauen aus Deutschland als Schwerpunkt der Recherche von Ute Maasberg und Regina Prinz. Die Schau umfasst auch Persönlichkeiten aus dem breiten Feld des Architekturschaffens mit Bezug auf Österreich (eine vertiefende Recherche steht hier zu Lande jedoch noch aus): neben bekannten Namen wie Margarete Schütte-Lihotzky und Friedl Dicker sind auch weniger bekannte, aber nicht minder innovative Frauen zu erwähnen, wie Ella Briggs-Baumfeld (1880/Wien-1977/London), Anna-Lülja Praun (1906/St. Petersburg-2004/Wien), Carmela Haerdtl-Prati (1901/Bozen-1989), Liane Zimbler (1892/Prerau in Böhmen-1987/ Los Angeles), Rosa Weiser (1897-1982).

Ausstellung. In der Ausstellung werden original erhaltene Architekturfotografien, Zeichnungen, Dokumente und Publikationen sowie Möbel, Skulpturen und Gemälde präsentiert. Vieles davon kommt aus Privatbesitz und war bislang unbekannt. Ergänzend sind Tondokumente und Filme aus den zwanziger Jahren zu hören und zu sehen.

Gezeigt werden Arbeiten der Bauhaus-Architektinnen Friedl Dicker (Möbel und Fotografien von Arbeiten) und Kath Both, Möbel von Lilly Reich und Werke der Künstlerin SophieTaeuber-Arp. Margarete Schütte-Lihotzkys berühmte "Frankfurter Küche", die sie 1926 für Ernst Mays "Neues Frankfurt" entwickelte, ist mit einem begehbaren Originalexemplar aus Privatsammlung ausgestellt. Voll mit Küchenutensilien aus der Zeit bestückt gibt sie einen mehr als anschaulichen Gesamteindruck der Problematik der Arbeit der Architektinnen, die sich oft vielmehr in der Rolle der Soziologin oder Aufklärerin fanden ohne jedoch die der Gestalterin zu vernachlässigen.

Neben Skizzen und Zeichnungen der Architektinnen Lucy Hillebrand, Marlene Moeschke-Poelzig oder Gretel Norkauer sind auch Fotografien und Zeichnungen der Münchner Architektin Hanna Loev zu sehen, die bei Robert Vorhoelzer in der Münchner Postbauschule tätig war.

Die Ausstellung basiert auf einem Forschungsprojekt, das am Institut für Bau- und Stadtbaugeschichte an der TU Braunschweig von den beiden Architekturhistorikerinnen Ute Maasberg und Regina Prinz erarbeitet wurde.

Katalog (deutsch): Ute Maasberg, Regina Prinz: "Die Neuen kommen. Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre. Junius Verlag, Hamburg 2004, 171 Seiten mit ca. 150 SW-Abbildungen, Preis: 20 Euro.



Die Neuen kommen!
Weibliche Avantgarde in der Architektur der zwanziger Jahre

15. Juni bis 2. September 2005 (Geänderte Laufzeit!)

Kuratoren: Regina Prinz, Ute Maasberg

Eröffnung: Dienstag, 14. Juni 2005, 18.30 Uhr

Ausstellungsort:
Wiener Städtische Allgemeine Versicherung AG
Ausstellungszentrum im Ringturm
A-1010 Wien, Schottenring 30

Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag: 9.00 bis 18.00 Uhr; freier Eintritt
Donnerstag bis 19.30 Uhr
     
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