Europaforum Wachau auf Stift Göttweig  

erstellt am
07. 06. 05

Rede von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel
Göttweig (bpd) - Wie kommt es, dass manchmal richtige Entscheidungen so schwer fallen? Nämlich zuerst einmal eine parlamentarische Ratifizierung, und zwar nicht erstreckt über zwei Jahre, sondern verdichtet in einem Zeitraum von sechs oder acht Monaten, und dann das Ergebnis, dem europäischen Volk in einer europaweiten Volksabstimmung vorgelegen. Das wäre eigentlich der normale Weg. Ich bin überzeugt, wenn man die Menschen fragt, dann würden sie sagen, ja, so sollte man das machen. Wieso fällt uns so etwas so schwer? Oder wieso kommen wir erst dann darauf, wenn es fast schon zu spät ist? Wieso kommt es, dass jetzt manche in einer schwierigen Situation auf einmal die Nerven zu verlieren beginnen? Jeder redet, was ihm gerade einfällt, irgendein südlicher Nachbar-Minister ist jetzt der Meinung, wir sollten jetzt auf einmal eine Parallelwährung zum Euro einführen. Ich bin ein kleiner, bescheidener Ökonom, aber irgendwer muss mir erklären, was der Sinn sein soll; man kann aussteigen aus dem Euro, gut, das ist zwar selbstmörderisch, aber es ist eine Option. Aber eine Parallelwährung noch einmal einzuführen, quasi dann in Lire und in Euro zu rechnen, das muss mir einer erklären, das ist aberwitzig! Es wird aber gesagt. Oder die Wähler zu erpressen und zu sagen, ich trete zurück, wenn nicht … Das wirkt nicht! Das ist auch nicht gut! Das ist auch, aus meiner Sicht, gar nicht notwendig, denn im Prinzip, glaube ich, sollten gerade wir Politiker, in dieser Situation kühlen Kopf bewahren. Es ist falsch jetzt den totalen Erweiterungstopp auszurufen. Es ist falsch, jetzt zu sagen, ihr anderen Länder, die ihr noch nicht ratifiziert habt, jetzt dürft ihr nicht mehr ratifizieren. Ein großer Kommissar aus dem fernen Westen hat jetzt ausgerufen: „We have now to push the pause button.“ Warum der Pausenknopf die gegenwärtigen Probleme lösen soll, muss mir einmal einer erklären. Ich glaube überhaupt, dass Denkpausen, Handlungspausen nichts zur Lösung der Probleme beitragen können, eher sie verschärfen. Daher: ich wünsche mir in einer solchen Situation eher eine pro-aktive Strategie. Kurshalten! Mut zum aufrechten Gang, zu den Prinzipien, die wir gemeinsam festgelegt haben im Konvent oder auch in den Ratifizierungsdiskussionen, einstehen, und das auch öffentlich erklären. Ich bin überzeugt, dass wir damit auch mehr Respekt bei den Wählerinnen und Wählern bekommen, wenn wir zu dem stehen, was wir vor einem halben Jahr noch für richtig gehalten haben, oder was etwa der österreichische Nationalrat vor zwei Wochen noch für fast einstimmig für richtig gehalten hat.

Was könnte zu einer solchen pro-aktiven Strategie gehören? Erstens, dass jede Institution Europas sich selbst fragt, was sie an konkreten Lösungen zur Überwindung dieser kritischen Situation beitragen kann. Und ich denke mir, die Kommission könnte da einige Dinge zusammenbringen. Sie soll es aber selber machen! Etwa verunglückte Richtlinien zurückziehen und neu erarbeiten. Oder sich einmal vornehmen, dass man für zwei Jahre, für eine befristete Zeit, bestimmte Regulierungen, Überregulierungen aussetzt, und sagt, jetzt brauchen wir Arbeitsplätze, jetzt brauchen wir Investitionen! Versuchen wir, von unserer Seite alles zu erleichtern, was diesem Ziel – Arbeitsplätze, Wohlstand zu schaffen – im Weg steht.

Der Europäische Rat hätte jetzt eine historische Chance zu zeigen, dass wir handlungsfähig bleiben und sind in der Frage der Finanzvorschau. Natürlich können wir jetzt ein Jahr weiter verhandeln. Ich sage nur eines gleich voraus: In einem Jahr werden wir nicht klüger sein als heute, in einem Jahr wird nur sehr viel Porzellan zusätzlich zerschlagen, was jetzt noch unberührt und schön in der Vitrine steht. Wir könnten jetzt mit einer erfolgreich abgeschlossenen Finanzvorschau zeigen, wir ziehen die richtigen Lehren aus der Entscheidung der Wählerinnen und Wähler, denn die wollen ja kein schwaches Europa, die leiden ja darunter, dass manches zu lange dauert, zerredet wird, manches zu kompliziert erscheint. Geben wir doch ein Signal, auch wenn es nicht perfekt ist für den einen oder anderen, auch nicht für uns. Ich sage das hier sehr offen, für uns ist die unverrückbare Position der Nettozahler schriftlich fixiert, aber ich weiß, es ist wichtiger, diesen Punkt jetzt zum Abschluss zu bringen im Interesse des größeren Ganzen, weil niemand sonst davon profitieren würde. Ich bin nicht hundertprozentig auf der Linie des Luxemburger Präsidentschaftsvorschlags, aber er ist ein vernünftiger Ansatz in eine richtige Richtung zu gehen, auf dem man durchaus aufbauen kann. Ich habe vorgestern Früh mit dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder geredet, und er sieht das übrigens ganz ähnlich. Aber jetzt kommt es darauf an, sind alle bereit, einen solchen Weg zu gehen, und einander die Hände zu reichen, jetzt die richtigen Lehren aus dieser Situation zu finden? Wir müssen deutlich machen, dass wir Europa sind, nicht Brüssel, nicht eine Institution, sondern wir alle, wir Slowenen, wir Österreicher, wir Deutsche, wir Franzosen, wir Niederländer, wir Italiener, wir Slowaken, wir Tschechen, wir sind Europa! Das kann nicht delegiert werden an jemand anderen. Und wir müssen auch wiederum lernen, Europa vom Kopf auf die Füße zu stellen, die wichtigen Grundwahrheiten so zu wiederholen, dass sie weiter im Bewusstsein bleiben. Denn es ist nicht selbstverständlich, und es ist gerade hier in Niederösterreich wichtig das zu betonen, denn hier habe ich meine politische Karriere begonnen als junger Abgeordneter im nördlichen Waldviertel, da waren, wie ich begonnen habe, noch die Maschinengewehrnester, der Eiserne Vorhang mit dem Minengürtel! Und Europa ist nur dann lebendig, wenn wir es am Leben erhalten. Wenn die Erinnerung schwindet, dass es in diesem Teil Europas – und da sind natürlich auch alle Nachbarländer mit eingeschlossen –, eben nicht immer selbstverständlich war, Friede und Freiheit zu erleben, dann glaube ich, können wir gewinnen. Daher müssen wir davon reden, dass es nicht selbstverständlich ist, dass - seit wir in die Union gekommen sind - 50.000 österreichische Studenten in ganz Europa studieren konnten und Stipendien bekommen haben, dass seit dem Beitritt unserer Nachbarn Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien die Kriminalitätsrate um 5 % gesunken ist. Dass es nicht selbstverständlich ist, dass seit einem Jahr die Zahl der Asylwerber um 25 bis 30 % zurückgegangen ist, dass Globalisierung für uns heißt, seit der Erweiterung sind unsere Exporte um 13 % angestiegen. Ich nehme jetzt nur das Beispiel Slowenien. Es ist nicht das größte europäische Land, aber wir haben mit diesem Land ein Handelsvolumen von zusammengenommen Russland und China. Das heißt, für uns hat das kleine Slowenien handelspolitisch die gleiche Bedeutung wie Russland und China zusammengenommen. Und aus dem, glaube ich, sollte man auch einen gewissen Respekt ableiten und auch eine gewisse Aufmerksamkeit dieser regionalen Zusammenarbeit und der Kostbarkeit des europäischen Verbundes letztlich zuwenden.

Ich war mit Paul Lendvai vorgestern am Abend in Zagreb, wir haben an einer Balkan-Konferenz der Bertelsmann-Stiftung teilgenommen mit höchstrangiger Besetzung. Es war wirklich beeindruckend, wer hier aller zusammengekommen ist, es war auch vollkommen klar, dass die Erweiterung nicht mit Slowenien aufhören darf, sondern selbstverständlich Rumänien und Bulgarien und auch die übrigen Länder des Balkan, vor allem des Westbalkan, mit einschließen muss. Es ist in unser aller Interesse, denn noch vor weniger als zehn Jahren herrschte dort Krieg, wir haben Flüchtlingsströme sonder Zahl gehabt, und es war eben nicht selbstverständlich, mit europäischer Hilfe, mit internationaler, auch amerikanischer Hilfe, diese Dinge unter Kontrolle zu bekommen. Aber Europa wird nicht selbstverständlich sein, wenn wir nicht immer selbstverständlich darüber reden. Das heißt, wir müssen verständlich, nicht kompliziert, darüber reden, und wir müssen immer reden, und wir müssen es auch selber tun. Wir können es nicht delegieren, weder an die Kommission, noch an die internationalen oder österreichischen Medien, wir müssen es selber tun, meine Damen und Herren!

Ich glaube, dass wir lernen können, dass jedes Land seine Rolle spielen muss und auch die Möglichkeit haben muss, seine Rolle auszuleben und zu entwickeln. In diesem Sinne wäre es auch gut, die Idee der Subsidiarität, die regionale Subsidiarität, auch die nationalen Möglichkeiten hier stärker in den Vordergrund zu rücken, denn die heutige Situation könnte sonst sehr leicht ins Negative entgleiten. Was wir brauchen, sind in einer solchen Situation, Vitamine gegen den Frust, wir brauchen eine Art Schluckimpfung gegen den Pessimismus, gegen die, die alles verächtlich reden wollen, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten entstanden ist. Im Prinzip brauchen wir uns ja nicht fürchten: Wer zurückblickt auf 60 Jahre Geschichte seit dem Ende des 2. Weltkriegs, wird draufkommen, dass es fast immer eine ungebrochene, ununterbrochene Aufwärtsentwicklung gewesen ist. Und eine Europäische Union, die all dies geschafft hat, unterstützt hat, ermöglicht hat, ist daher nicht eine Bedrohung, sondern ist eine Chance, die wir jedenfalls ergreifen wollen.

Das sollten auch diejenigen wissen, die nichts dabei finden, untertags bei H&M die billigen chinesischen T-Shirts einzukaufen und sich am Abend dann bei den Fernsehnachrichten darüber empören, dass wir noch nicht genügend Antworten auf die Gobalisierung gefunden haben, oder diejenigen, die sich bei der Champions League darüber freuen, dass eine Fußballmannschaft wie beim Finale nur mehr aus zwei nationalen Spielern besteht und der Rest ist quasi internationales europäisches Qualitätsmerkmal, um dann am nächsten Tag aber zu sagen, wie ungeheuer diese Migration und die Zuwanderung sei. Die sollten schon auch sehen, dass wir in unserer eigenen Einstellung etwas klarer, etwas präziser und auch etwas glaubhafter sein sollten.

Wir brauchen uns daher, glaube ich, im Gedankenjahr nicht fürchten. Furcht ist nie ein guter Ratgeber, wohl aber ein gesunder Optimismus, unterlegt mit ganz konkreten Handlungen, mit einer pro-aktiven Strategie – wie ich sie uns wünsche, wie ich sie der Europäischen Union wünsche, und die wir beide, lieber Janez, sicher in knapp zwei Wochen beim Europäischen Rat auch vorschlagen werden.

In diesem Sinn: Danke allen, die mitgewirkt haben, dass dieses Göttweiger Europa-Forum wiederum eine große europäische Diskussionsrunde wurde!
     
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