Wien (öj-red) - Nach dem ziemlich tief sitzenden Schock, den die Ablehnung
der EU-Verfassung durch Franzosen und Niederländer in den Regierungen der Mitgliedsstaaten ausgelöst
haben, sah man mit gemischten Gefühlen nach Brüssel, wo am 16. und 17. Juni die Tagung des Europäischen
Rates abgehalten wurde.
Mit gemischten Gefühlen deshalb, weil die Hoffnung auf eine gütliche Einigung auf das EU-Budget für
die Jahre 2007-2013 schon mehr als gering war. Der derzeitige EU-Ratspräsident, Luxemburgs Regierungschef
Jean-Claude Juncker, hatte schon im Vorfeld erklärt, er sei sicher, dass die finanzielle Vorausschau (EU-Budget)
auf diesem Gipfel nicht durchzukriegen sein werde. Immerhin ging es darum, dass die EU-Kommission für ihren
Haushalt eine Erhöhung der Beiträge gefordert hatte, die Einigung aber - vor allem - an zwei unverrückbaren
Standpunkten gescheitert ist: Frankreich und Großbritanniern wollten von ihren Forderungen nach nachhaltigen
Änderungen "Agrarbudget versus Britenrabatt" nicht abrücken.
Und Juncker sollte Recht behalten, das Budget muß neu verhandelt werden. Es ist auszuschließen, daß
Premier Tony Blair (der soeben laut über eine neue Ausrichtung Europas nachdenkt) während des Ratsvorsitzes
von Großbritannien ab 1. Juli diees Jahres eine Einigung mit Frankreichs Präsident Jacques Chirac finden
wird. Also schaut "man" gespannt nach Österreich, das von 1. Jänner bis 30. Juni 2006 den Ratsvorsitz
innehaben wird. Über diese sechs Monate werden Bundeskanzler und die Mitglieder der Bundesregierung eine wesentliche
Rolle bei der Organisation der Arbeiten der Institution spielen, insbesondere Impulsgeber bei Gesetzgebung und
im politischen Entscheidungsprozeß sein. Von Wien aus werden dann Einberufung, Vorbereitung und Leitung aller
Sitzungen wahrgenommen. Dem Bundeskanzler selbst kommt die Rolle zu, auch den Vorsitz in den zahlreichen Arbeitsgruppen
zu führen und Kompromisse auszuarbeiten.
Und gerade Letzteres wird Österreich vor eine weit über Europa hinausgehende politische Herausforderung
stellen. Denn nicht genug damit, daß die mittlerweile allumfassende Frage "EU-Verfassung: Ja, anders
oder überhaupt neu?" aus praktisch jedem der 25 Mitgliedsländer - wenn überhaupt mit einer
Stimme - mit unterschiedlichen Vorstellungen beantwortet wird, geht es jetzt auch noch darum, eine Einigung in
der eben gescheiterten Budgetfrage herbeizuführen. Aber auch weitere brisante Themen harren einer Lösung:
Wie wird mit der EU-Erweiterung weiter zu verfahren sein? Schließlich rechnen Kroatien, Rumänien und
Bulgarien aufgenommen zu werden. Welche Antwort wird die Türkei erhalten? Wird sie EU-Mitglied oder nur privilegierter
Partner? Lösungen scheinen derzeit entfernter als noch vor wenigen Wochen. Da muten Beratungen über die
heftig umstrittene Dienstleistungsrichtlinie oder die Chemikalien-Verordnung bald schon als eher leichte Übung
an.
Anfang Jänner 2006 jedenfalls wird Österreich im EU-Parlament sein Arbeitsprogramm vorstellen und mit
den Parlamentariern die politischen Themenschwerpunkte definieren. Die Herausforderungen sind hoch, die ganze Welt
wird dann über sechs Monate mit wohl größerem Interesse auf unser kleines Land schauen, als sie
es sonst tut. (mm) |