Rede von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel anlässlich der Eröffnung der Salzburger
Festspiele
Salzburg / Wien (bpd) - am Sonntag (24. 07.) eröffneten Bundespräsident Dr. Heinz Fischer,
Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel und Salzburgs Landeshauptfrau Mag. Gabi Burgstaller die Salzburger Festspiele.
Hier die Rede des Bundeskanzlers im Wortlaut:
Liebe Freunde Salzburgs, liebe Freunde der Kunst !
Ich will über die Verletzlichkeit unserer, dieser Welt angesichts von Naturkatastrophen in Europa, angesichts
von Bränden aber auch Überschwemmungen sprechen. Das sind aber nicht die einzigen Bedrohungen mit denen
wir konfrontiert sind. Wurden vor zehn Jahren etwa nur 100 Cyberattacken gezählt, so hat man voriges Jahr
die Zählung bei 200.000 aufgegeben. Erst in jüngster Zeit kamen Terroranschläge wie jene in Madrid,
in Istanbul oder London als neue Bedrohungen hinzu.
Wir leben in einer Zeit in der man nachdenken sollte, wie und ob unsere Welt verletzlich ist. Sie ist es. Und deshalb
sollten wir innehalten und wir sollten uns fragen, was das Wesen unserer Gesellschaft, unseres europäischen
Modells ausmacht. Und wir sollten uns dessen bewusst sein und sollten uns auch auf eine Begründung, eine Verteidigung
dieser Lebensumstände gefasst machen.
Da ist zunächst einmal die Wertschätzung der persönlichen Freiheit in allen ihren Dimensionen wesentlich
und begründend für das europäische Modell. Die europäische Lebenskultur ist eine Kultur der
Freiheit, die es auch im Alltag zu verteidigen gilt. Politische, religiöse Vorstellungen, die dieses Gut der
Freiheit in welcher Form auch immer einschränken wollen, dürfen in Europa nicht die geringste Aussicht
auf Verwirklichung erhalten. In dieser Frage muss Europa einig und konsequent zusammenstehen. Dass es so ist, haben
die Reaktion in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren bewiesen. Erst gestern hat uns ein Leitartikel auf den
verräterischen Charakter der Sprache hingewiesen. Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus und manche
Fundamentalisten verwenden dieselbe Sprache; sie gleichen sich in ihren Ausbildungsmethoden und Formen der Indoktrination.
All dies ist der gleiche Schoß, ist die gleiche Mentalität, der es von Demokraten aller Couleurs und
aller Schichten entgegenzutreten gilt.
Ein zweites Merkmal des europäischen Wegs ist unsere Wertschätzung von Natur und Lebensqualität.
Gerade an einem Ort wie Salzburg, in dem die landschaftliche und kulturelle Schönheit kulminieren, ist dieses
Merkmal besonders hervorzuheben, denn die Natur ist auch ein verletzlicher Wert. Natur, saubere Luft, klares Wasser,
sichere Lebensmittel, all dies ist nicht so selbstverständlich wie wir gelegentlich glauben. Wir sollten daher
aufhören über unsere Zeit hinaus die Ressourcen der kommenden Generationen zu verbrauchen. Auch das ist
ein zentraler europäischer Wert. Es ist nicht wichtig wie das Quartalsergebnis eines Betriebs aussieht. Wichtig
ist, dass mittelfristig und langfristig die Lebensbedingungen für uns alle, auch für die Wirtschaft,
für die Arbeitnehmer und Bauern gesichert sind.
Dieses Nachhaltigkeitskriterium hat natürlich auch mit dem Schöpfungsgedanken zu tun. Ich zögere
nicht es gerade hier in Salzburg auszusprechen, wo sich vor 1300 Jahre die ersten Benediktiner in Sankt Peter niedergelassen
haben. Es war der Vorgänger des heutigen Namensträgers Benedikt, Benedikt XV, der mitten im Schrecken
des Ersten Weltkriegs in seinem berühmten Friedensmanifest von Europa als dem Garten der Welt gesprochen hat.
Aber ein Garten will gepflegt sein. Die Blumen, die Früchte wollen gepflegt sein; sie brauchen Zuneigung und
Aufmerksamkeit. Dieses Gartengefühl hat nichts mit "sich selbst genug sein" zu tun. Das ist eine
Hoffnung für viele, die wir hier leben können.
Drittens ist für uns und für unser Lebensgefühl die Gewissheit konstitutiv, Hilfe zu erhalten, wenn
wir Hilfe brauchen. Europa ist eben keine und darf keine Ellbogenkultur sein. In Amerika, das wie wir Demokratie
und Freiheit kennt, ist eben Solidarität primär zur Privatsache geworden. In Asien trägt die Familie
die Hauptlast für soziale Verantwortung. In Europa ist diese Solidarität auch institutionell abgesichert.
Aber auch diese Solidarität ist verletzlich; sie ist keineswegs selbstverständlich und sie ist jederzeit
neu durch Standortqualität und wirtschaftliche Leistung abzusichern.
Und dann meine ich: wesentlich für Europa ist das Kulturverständnis:
Der Klang Europas. Es ist eben ein Leben und Genießen in Vielfalt.
Europa ist nicht Einfalt, ist nie Monokultur gewesen. Europa lag und liegt immer an den Spannungen, an den Differenzen
auch an Dissonanzen, kulturell zwischen Okzident und Orient, zwischen dem Byzantinischen und dem Lateinischen.
Und natürlich ist gerade Salzburg mit seiner kulturellen Präsentation, wo Künstler aus dutzenden
Ländern an dieser Salzburger Identität mitwirken, ein ganz besonders schönen Beispiel dafür.
Daher: Europa ist niemals ein Status, Europa ist immer ein Prozess.
Meine Damen und Herren!
All das was ich hier gesagt habe ist wichtig, ist verletzlich und ist kostbar. Und keine UNO, keine Europäische
Kommission, kein Staat oder keine Institution können dies vollständig sichern, schützen und garantieren.
Ich glaube, dass wir vor allem zunächst in dieser Zeit, in der viele Fragezeichen über Europa hängen,
eine europäische Öffentlichkeit brauchen, damit sich Europa über seine Ziele im Klaren wird. Und
dieser Prozess soll in Rede und Gegenrede, in Sicherheit und Klarheit erfolgen. Europa braucht Identität und
Integrität. Das ist genau die alte Frage, die bereits Friedrich Heer oder Viktor Frankl einst angesprochen
haben. Wir müssen den Sinn bewahren. Europa hat auch Grenzen und Begrenzungen, und ich meine das nicht ausschließlich
geographisch, sondern in einem viel umfassenderen Sinn. Wir müssen lernen zu zeigen, dass Freiheit nur möglich
ist, wenn sie auch Verantwortung annimmt und sie sich ihrer bewusst ist.
Eine europäische Zukunft wird nicht automatisch entstehen, sondern kommt aus einer nachdenklichen Reflexion.
Sie wird nicht aus dem Nachbeten von EU Mantras, die man immer schon vorgefertigt hat, entstehen, sondern aus dem
eigenen Entwickeln eines solchen Lebensgefühls. Und Leistung und Solidarität bedingen einander mittel-
und längerfristig. Und ein buntes Zusammenleben ist eben nur dort möglich, wo es Toleranz gibt.
Meine Damen und Herren!
Ich sage ganz bewusst: man kann auch mitten auf diesem Kontinent leben, in London, in Madrid, vielleicht auch in
Salzburg ohne in Europa überhaupt angekommen zu sein, geistig angekommen zu sein. Ist das nicht merkwürdig?
Könnte nicht diese Schwäche, diese Verletzlichkeit unseres Lebensgefühls oder Lebensmodells dann
zur Stärke werden, wenn Sie, wenn wir uns alle bereit erklären, dieses europäische Lebensmodell
auch wirklich öffentlich und in unserem Alltagsleben zu verteidigen; wenn wir eben nicht weglaufen und wegsehen
und die Dinge und die Probleme wegreden, sondern - wozu uns auch die Kunst zwingt- hinzusehen, inne zu halten,
stand zu halten, zuzuhören und sich einzulassen?
Sie wissen, dass wir am 1. Jänner 2006 die Ehre und Verantwortung haben als Österreicher auf allen Ebenen
den Vorsitz in der EU zu übernehmen. Ich möchte daher diese Gedanken der Identität Europas mit aufnehmen
und an den Beginn unserer Präsidentschaft stellen. Am 27.Jänner gedenken wir des 250. Geburtstags von
Wolfgang Amadeus Mozart. Wir wollen hier in Salzburg unter dem Titel "Der Klang Europas", Sound of Europe"
eine große Konferenz veranstalten. Vielfalt, Harmonie und auch Dissonanzen können da mitschwingen. Daher:
Willkommen Salzburger Festspiele 2005, auf Wiedersehen in Salzburg 2006. |