Wien (wifo) - Die Verteilung der Bruttoeinkommen wurde in Österreich in den letzten Jahrzehnten ungleicher.
Dies gilt sowohl für die Verteilung innerhalb der unselbständig Beschäftigten als auch zwischen
den Lohneinkommen einerseits und Einkommen aus Besitz und Unternehmung andererseits. Die ungünstige Lage auf
dem Arbeitsmarkt verbunden mit der Zunahme von Teilzeit- und geringfügiger Beschäftigung spielt für
die Ausweitung der Einkommensunterschiede eine wesentliche Rolle. Das Abgabensystem hat kaum umverteilende Wirkung,
hingegen sind von den Ausgaben des Sozialstaates vor allem die unteren Einkommensschichten begünstigt.
Eine "gerechte" Einkommensverteilung ist ein wesentliches Element der traditionellen Ziele des "magischen
Vielecks der Wirtschaftspolitik" und eine wichtige Determinante der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Allerdings
ist die Zielerreichung schwierig zu beurteilen, denn die Entwicklung der Einkommensverteilung ist als Thema wissenschaftlicher
Untersuchungen in Österreich in den Hintergrund gerückt. Dies hängt auch mit dem Fehlen aktueller
und vergleichbarer Datengrundlagen zusammen. Besonders in Bezug auf die Entwicklung der Gewinn- und Besitzeinkommen
hat sich die Datenbasis seit 1997 (Einstellung der Statistik) weiter verschlechtert. Die vorliegende Arbeit untersucht
auf Basis unterschiedlicher Datenquellen die langfristigen Trends der Einkommensverteilung. In der Analyse der
personellen Einkommensverteilung muss sie sich auf die Unselbständigeneinkommen beschränken.
Die Ungleichheit der Verteilung der Bruttoeinkommen zwischen den unselbständig Beschäftigten weitete
sich in den letzten drei Jahrzehnten deutlich aus. Das zeigen sowohl die Daten des Hauptverbandes der österreichischen
Sozialversicherungsträger als auch die Lohnsteuerstatistik. In nur zwei Phasen blieb die Verteilung der Bruttobezüge
unverändert oder wurde sogar gleichmäßiger: in der ersten Hälfte der siebziger Jahre aufgrund
des Arbeitskräftemangels und in den Jahren 1991 und 1992, als die Gewerkschaften auch dank der Hochkonjunktur
verstärkt eine Anhebung der Mindestlöhne erreichten.
Zur Zunahme der Ungleichheit der Verteilung der Bruttobezüge trug vor allem eine hohe Dynamik an den Rändern
der Verteilung bei: Die Bezüge stiegen in den obersten Einkommensgruppen kräftig (das 5. Quintil bezog
laut Lohnsteuerstatistik im Jahr 2003 46,1% der gesamten unselbständigen Einkommen), während die unteren
Einkommensgruppen zurückfielen (das 1. Quintil erreichte 2003 nur noch 2,3% der Einkommen). Die starke Ausweitung
der Teilzeitarbeit und geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse in den unteren Einkommensschichten
trägt statistisch wesentlich dazu bei, dass sich die Ungleichheit in der Einkommensverteilung ausweitet.
Zugleich bleiben die Einkommen von Frauen merklich hinter jenen der Männer zurück. Im Jahr 2003 lagen
sie im Durchschnitt bei 67,2% der Männereinkommen; der Abstand war damit um 1½ Prozentpunkte größer
als Mitte der neunziger Jahre. Während im öffentlichen Dienst die Fraueneinkommen relativ nahe an jene
der Männer herankommen (80,9%), ist der Rückstand in der Privatwirtschaft sehr groß (Einkommen
der Arbeiterinnen 61,7%, der angestellten Frauen 59,5% der jeweiligen Männereinkommen). Im unteren Einkommensbereich
(an der Grenze vom 1. zum 2. Quartil) ist der Rückstand der Fraueneinkommen deutlich höher und wächst
weiter, während er im oberen Einkommens- und Bildungssegment stabil ist.
Die Unterschiede zwischen der geleisteten Wochenarbeitszeit erklären etwa die Hälfte des Einkommensrückstands
der Frauen – sie stellen in Österreich immer noch den Großteil der Teilzeitarbeitskräfte: 37,1%
der Frauen sind teilzeitbeschäftigt, jedoch nur 3,9% der Männer. Wegen dieses relativ großen Teilzeitanteils
und der häufigen Berufsunterbrechungen sind die Aufstiegschancen von Frauen im Allgemeinen geringer als die
der Männer – ein weiterer wichtiger Grund für den Einkommensrückstand. In typischen "Männerbranchen"
sind zudem die Einkommen meist merklich höher als in "Frauenbranchen".
Das mittlere Einkommen betrug in der Gesamtwirtschaft im Jahr 2003 1.944 Euro brutto pro Monat. In der Mineralölindustrie
war es doppelt so hoch, in der Elektrizitätswirtschaft um zwei Drittel höher. Auch die erfolgreiche Exportindustrie
mit hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad (Papier-, Chemieindustrie, Maschinen- und Fahrzeugbau, Metall- und
Elektroindustrie) zahlt Einkommen deutlich über dem Durchschnitt. Im Dienstleistungssektor sind die Einkommen
nur im Bank- und Versicherungswesen ähnlich hoch. Hingegen bleiben der Handel, das Unterrichts- und Gesundheitswesen,
das Beherbergungs- und Gaststättenwesen, aber auch die Textil-, Bekleidungs- und Lederindustrie deutlich hinter
dem Medianeinkommen zurück.
Die Entwicklung des Wohlstands lässt sich weniger anhand der Bruttobezüge als anhand der verfügbaren
Einkommen nach Umverteilung des Staates durch Abgaben und Transfers beurteilen. Über direkte Steuern und Beiträge
verteilt der Staat in Österreich nur in geringem Ausmaß um – die Belastung durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge
entspricht nahezu einem Flat-Rate-System. Die Nettorealeinkommen der unselbständig Beschäftigten sanken
nach den Daten der Lohnsteuerstatistik von 1995 bis 2003 im Durchschnitt um 2,4%, in den untersten 40% der Verteilung
sogar um 14%, während die Einkommen in den obersten Kategorien stiegen. Die unteren Einkommen verloren vor
allem Mitte der neunziger Jahre. Die Nettorealeinkommen je ganzjährig Beschäftigte blieben von 1995 bis
2003 unverändert (–0,1%). Die Sozialausgaben üben hingegen einen sehr starken Umverteilungseffekt aus.
Die letzte umfassende Untersuchung der Verteilungswirkungen des Staates liegt lange zurück, doch zeigen Mikrozensusdaten
für die neunziger Jahre, dass auf Haushaltsebene monetäre Sozialtransfers einen erheblichen Teil der
Zunahme der Ungleichheit in der Primärverteilung korrigierten.
In den letzten Jahrzehnten erhöhte sich nicht nur die Ungleichheit der Verteilung der Einkommen zwischen den
unselbständig Beschäftigten, sondern auch zwischen den Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit
und jenen aus Besitz und Unternehmung. Der Lohnanteil am Volkseinkommen sank (bereinigt um die Veränderung
des Anteils von Selbständigen und unselbständig Beschäftigten) von 72% Ende der siebziger Jahre
auf 58% im Jahr 2004. Dies ist vor allem ein Ergebnis der Zunahme der Arbeitslosigkeit und des raschen Wachstums
der Vermögenseinkommen. Hohe Arbeitslosigkeit dämpft die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften – ein Anstieg
der Arbeitslosenquote um 1 Prozentpunkt hat einen Rückgang der Lohnquote um mehr als 1 Prozentpunkt zur Folge.
Innerhalb der Nichtlohnelemente des Volkseinkommens stiegen vor allem die Einkommen aus Finanz- und Immobilienvermögen
und jene der Freiberufler. Langfristig profitieren diese Einkommensgruppen stark von der Entwicklung der Einkommensverteilung,
während die Angehörigen der unteren Einkommensschichten, die oft durch ungenügende Qualifikation
benachteiligt sind, verlieren.
Quelle: WIFO, Autoren: Alois Guger, Markus Marterbauer |