Schwerpunkte Europäisches Sozialmodell und Dienstleistungsrichtlinie
Wien (pk) - Das Europäische Sozialmodell, die Lissabon-Strategie und die EU- Dienstleistungsrichtlinie
standen im Mittelpunkt eines Arbeitsgesprächs zwischen Mitgliedern des Sozialausschusses des Europäischen
Parlaments und österreichischen Mandatarinnen und Mandataren im Hohen Haus. Dabei zeigte sich, dass es nicht
nur innerhalb der österreichischen Parteien, sondern auch zwischen den Fraktionen des EU-Parlaments unterschiedliche
Zugänge zu diesen Themen gibt. Sowohl die Weiterentwicklung des Europäischen Sozialmodells als auch die
Lissabon-Strategie werden, wie die österreichischen Abgeordneten ankündigten, während der EU-Präsidentschaft
Österreichs im ersten Halbjahr 2006 "sicher ein Thema sein".
Jan Andersson, der als Vorsitzender des Sozialausschusses des Europäischen Parlaments gemeinsam mit Abgeordneter
Heidrun Silhavy, Vorsitzende des Sozialausschusses des Nationalrats, das Gespräch leitete, betonte in seinen
Ausführungen, er halte den Haushalt der Europäischen Union für eines der zentralen Hindernisse bei
der Umsetzung der Lissabon-Strategie. Das Budget sei ein Budget "für das alte Europa", klagte er.
Zwar werde bei allen Gelegenheiten über sozialen Wohlstand, mehr Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum
geredet, das Geld werde aber für das alte Europa ausgegeben. Selbstverständlich könne man nicht
von einem Jahr auf das andere den gesamten EU-Haushalt ändern, räumte Andersson, Mitglied der Sozialdemokratischen
Fraktion, ein, gerade bei einer mehrjährigen Haushaltsvorschau sei es aber notwendig, neue Perspektiven zu
verfolgen. Weniger Geld für die Landwirtschaft und mehr Geld für Forschung und Entwicklung und lebenslanges
Lernen sieht er als notwendige Devise.
Was das Europäische Sozialmodell betrifft, urgierte Andersson Mindestnormen, etwa in Bezug auf Arbeitssicherheit
und Gesundheit. Zudem ist es seiner Meinung nach notwendig, die Sozialpartner verstärkt in den politischen
Prozess einzubeziehen und Arbeitnehmer an den notwendigen Umstrukturierungen zu beteiligen. Andersson äußerte
die Hoffnung, dass während der österreichischen EU-Präsidentschaft der Umsetzung der Lissabon-Strategie
mehr Augenmerk gewidmet wird als während der derzeitigen britischen Ratspräsidentschaft.
EP-Abgeordneter Jan Kulakowsky (Fraktion der Liberalen) betonte, es gelte sowohl im Europäischen Sozialmodell
als auch bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie, eine Ausgewogenheit zwischen sozialem Zusammenhalt und Wettbewerbsfähigkeit
zu finden. Österreich hat, was den Sozialpartner-Dialog betrifft, seiner Meinung nach Modellcharakter. Kulakowskys
Fraktionskollegin Ona Jukneviciene regte an, EU-Fonds einzurichten, um Lösungen für jene zu finden, die
aufgrund der Globalisierung und des Strukturwandels ihre Arbeitsplätze verlieren und umgeschult oder höher
qualifiziert werden müssten.
Ria Oomen-Ruijten (Europäische Volkspartei) zeigte sich davon überzeugt, dass in der Dienstleistungsrichtlinie
ein vernünftiger Kompromiss gefunden werden könne, und sprach sich dafür aus, Leiharbeit vollkommen
aus der Richtlinie herauszunehmen. Insgesamt urgierte sie einen besseren Informationsaustausch zwischen dem Europäischen
Parlament und den nationalen Parlamenten.
Wenig Verständnis für die zum Teil breite Ablehnung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in Österreich
zeigte Jean Marie Beaupuy (Fraktion der Liberalen). Seiner Meinung nach resultieren die in diesem Zusammenhang
geäußerten Ängste aus einem protektionistische Gefühl und haben wenig mit der Realität
zu tun. Nach der Freizügigkeit des Kapitals, des Waren- und des Personenverkehrs müsse es nun auch zu
einer Freizügigkeit der Dienstleistungen kommen, forderte er.
Von österreichischer Seite betonte Abgeordnete Heidrun Silhavy (S), Europa habe nur dann Zukunftschancen,
wenn die Zivilgesellschaft an Europa partizipieren könne. Europa dürfe nicht nur als Markt definiert
werden, bekräftigte sie. Als bedeutende sozialpolitische Fragen während der österreichischen EU-Präsidentschaft
nannte sie u.a. die Finanzvorschau und die Dienstleistungsrichtlinie.
Abgeordneter Werner Fasslabend (V) unterstrich, das Europäische Sozialmodell werde während der österreichischen
EU-Präsidentschaft sicher ein Thema sein. Die ganze Welt bewundere Europa dafür, meinte er, in der EU
selbst gebe es aber eine unzureichende Klarheit darüber, worin die Stärken und die Schwächen dieses
Modells liegen und wie es weiterentwickelt werden solle. Mehr Augenmerk müsste Fasslabend zufolge auf die
demographische Komponente gelegt werden.
Die Dienstleistungsrichtlinie ist für Fasslabend eine der wenigen Möglichkeiten, mit denen in Europa
kurzfristig mehr Wachstum erzielt werden könnte. Was ihn "erschüttert" habe, sei die unprofessionelle
Vorgangsweise in diesem Bereich, sagte er und mahnte, ein zweites Scheitern würde sich negativ für Europa
auswirken.
Abgeordneter Caspar Einem (S) erklärte, für ihn habe das Europäische Sozialmodell zwei wesentliche
Säulen: die Sicherung gegen allgemeine Risken des Lebens, etwa Alter, Arbeitslosigkeit und Krankheit, sowie
der diskriminierungsfreie Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Er sprach sich dafür aus,
das Instrument der Sozialpartnerschaft auch auf europäischer Ebene stärker zu nützen, um sozial
akzeptable Lösungen zu finden.
Abgeordneter Maximilian Walch gab zu bedenken, dass viele Vorschläge, die seitens der EU kommen, den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern schadeten. Er erachtet es für dringend erforderlich, dass sich auch die EU verstärkt
dem Thema Arbeitslosigkeit widmet und ein Beschäftigungsprogramm entwickelt. Was die in Diskussion stehende
Arbeitszeit-Richtlinie betrifft, könnte Österreich ein Vorbild sein, sagte Walch und verwies darauf,
dass durch eine Kombination von gesetzlichen Rahmenbedingungen, Kollektivverträgen und darüber hinaus
gehenden Betriebsvereinbarungen große Flexibilität bestehe.
Bundesrätin Elisabeth Kerschbaum (G) meinte, die Österreicherinnen und Österreicher seien nicht
unzufrieden mit der EU, ein großes Problem sei aber die mangelnde Transparenz. Ein Europäisches Sozialmodell
kann sie sich nur in Verbindung mit einem gemeinsamen Europäischen Steuermodell vorstellen, da diese beiden
Materien ihrer Ansicht nach eng zusammenhängen.
Abgeordneter Walter Tancsits (V) führte aus, der von Österreich forcierte Begriff "Lebensmodell"
an Stelle des Begriffs "Sozialmodell" sei vielleicht nicht ganz glücklich, man wolle damit aber
ausdrücken, dass das Europäische Sozialmodell mehr sein müsse als Sozialhilfe und soziale Absicherung.
Er warnte allerdings vor zu strikten Richtlinien und Reglementierungen in diesem Bereich. Die sozialen Netze in
den einzelnen europäischen Staaten seien durch die immer größer werdende Möglichkeit des freien
Wirtschaftens stetig gewachsen, argumentierte er, mit engen Vorschriften würde man der dynamischen Entwicklung
stets hinterher hinken.
Abgeordneter Richard Leutner (S) hielt fest, der Grundgedanke des Europäischen Sozialmodells sei es, den wirtschaftlichen
Fortschritt mit sozialer Sicherheit zu verbinden. Es sei nicht notwendig, dass alle EU-Länder die gleichen
Sozialleistungen hätten, sagte er, man brauche aber eine Harmonisierung der Mindeststandards. Die Skepsis
der Gewerkschaft in Bezug auf die EU-Dienstleistungsrichtlinie begründete er mit befürchtetem Sozialdumping.
Was den Lissabon-Prozess anbelangt, gab Leutner zu bedenken, dass die derzeitige Budgetstruktur der EU nicht mit
den Zielen der Lissabon-Strategie in Einklang stehe. Darüber hinaus plädierte Leutner für eine EU-weite
Harmonisierung der Unternehmenssteuern. Seiner Meinung nach muss die Entwicklung gestoppt werden, wonach Dienstleistungsangebote
des Staates zunehmend ausschließlich von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern finanziert würden.
Abgeordneter Karl Donabauer (V) konstatierte, beim Europäischen Sozialmodell gehe es darum, einen Weg zu finden,
die historisch gewachsenen Sozialsysteme der einzelnen EU-Staaten einander anzunähern und europaweit annähernd
gleiche Bedingungen zu schaffen. Vermisst wird von Donabauer, wie er sagte, ein starkes Europa im WTO-Prozess.
Er erachtet es für notwendig, dass auch die Handelspartner der Europäischen Union Minimalstandards erfüllen.
"Wir können nicht vom Binnenmarkt reden und am Billigmarkt kaufen", bekräftigte er, das gefährde
den Wohlstand in Europa.
Im Hinblick auf die drohende Kürzung der Agrarsubventionen machte Donabauer geltend, dass durch die Subventionen
Beschäftigung im ländlichen Raum gehalten werde. Man müsse aber über die Verteilung der Agrargelder
reden, räumte er ein. Das Projekt "Soziales Europa" muss seiner Auffassung nach Vorrang vor einer
neuen Erweiterung der Union haben.
Abgeordnete Renate Csörgits (S) äußerte wie ihr Fraktionskollege Leutner die Befürchtung,
dass die EU-Dienstleistungsrichtlinie in der vorgeschlagenen Form zu Sozialabbau und Lohndumping führen würde.
Die EU befasst sich ihrer Meinung nach zudem generell zu wenig mit Überlegungen, wie soziale Errungenschaften
in Europa ausgeweitet werden könnten. Man müsse alles daran setzen, dass der Sozialpolitik in der EU
die gleiche Bedeutung beigemessen werde wie wirtschaftspolitischen Aspekten, forderte sie.
An der Aussprache nahmen von österreichischer Seite auch die Abgeordneten Fritz Neugebauer (V) und Dietmar
Keck (S) sowie Bundesrat Reinhard Todt (S) teil. |