"Grünbuch " der EU-Kommission will europaweite Diskussion forcieren
Wien (pk) - Der EU-Unterausschuss des Nationalrats nahm am Donnerstag (18. 11.) ein Grünbuch
der Europäischen Kommission mit dem Titel "Angesichts des demographischen Wandels - eine neue Solidarität
zwischen den Generationen" zum Anlass, dieses Thema aus österreichischer Sicht umfassend zu diskutieren.
Dabei waren sich die Abgeordneten einig, dass die demographische Entwicklung in Europa eine Herausforderung für
den Sozialstaat darstelle und der niedrigen Geburtenrate entgegengewirkt werden müsse. Die SPÖ warnte
aber davor, die soziale Frage auf die demographische Entwicklung zu reduzieren, und wertete die hohe Arbeitslosigkeit
als drängenderes Problem.
Während der EU-Präsidentschaft will Österreich, wie Familienministerin Ursula Haubner ankündigte,
eine große Konferenz zum Thema demographische Herausforderung abhalten. Österreich setze in der Familienpolitik
auf einen breiten Maßnahmenmix, betonte die Ministerin, dadurch sei es auch gelungen, die Geburtenrate zuletzt
wieder zu erhöhen. Mit einer Fertilitätsrate von durchschnittlich 1,42 Kindern pro Frau habe man wieder
das Niveau von 1994 erreicht.
Das Grünbuch der Europäischen Kommission macht u.a. darauf aufmerksam, dass das natürliche Bevölkerungswachstum
in Europa im Jahre 2003 bei nur 0,04 % gelegen ist. Der Beitrag der Zuwanderung sei mittlerweile in vielen Ländern
entscheidend für die Aufrechterhaltung des Bevölkerungswachstums, heißt es. Trotzdem drohe ein
Altern der Bevölkerung und damit verbunden eine deutliche Reduktion des "potenziellen Wachstums".
Noch nie habe es Wirtschaftswachstum ohne Bevölkerungswachstum gegeben, verweist die EU auf drohende Probleme.
Die demographischen Veränderungen werden auf drei Grundtendenzen zurückgeführt: die Verlängerung
der Lebenserwartung, der starke Anstieg der über 60-Jährigen und die anhaltend geringe Geburtenrate.
Dabei hätten die Europäer, so das Grünbuch, auf Grund fehlender Rahmenbedingungen de facto weniger
Kinder, als sie eigentlich möchten.
Als Prioritäten für die EU werden vorgeschlagen: Förderung des demographischen Wachstums durch die
Konzentration auf den Stellenwert von Kindern und der Familie in der Gesellschaft, Sicherstellung eines Gleichgewichts
zwischen den Generationen sowie Schaffung neuer Übergänge zwischen den einzelnen Lebensabschnitten. Zudem
will die EU eine stärkere Erwerbsbeteiligung insbesondere von Frauen und älteren Arbeitnehmern fördern.
Die Diskussion im EU-Unterausschuss wurde durch eine Stellungnahme von Familienministerin Ursula Haubner eingeleitet.
Sie betonte, dass das Grünbuch der Europäischen Kommission eine Vielzahl wichtiger politischer Fragen
aufgeworfen und europaweit einen dringend notwendigen Diskussionsprozess ausgelöst habe.
Die österreichische Antwort auf das Grünbuch wurde Haubner zufolge von ihrem Ressort koordiniert und
der Europäischen Kommission Anfang Oktober übermittelt. Unter anderem hat das Sozialministerium auf die
Bedeutung von Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Frage der Kinderbetreuung und von Gender Mainstreaming verwiesen.
Als österreichische best-practice-Modelle wurden etwa das Kinderbetreuungsgeld, die Elternteilzeit und die
Familienhospizkarenz genannt.
Erfreut zeigte sich Haubner darüber, dass in Österreich zwischen März 2004 und Februar 2005 um 2
% mehr Kinder auf die Welt gekommen seien. Damit liege die Fertilitätsrate in Österreich derzeit bei
1,42, skizzierte sie, das entspreche dem Niveau von 1994. Österreich habe damit zwar nach wie vor eine niedrige
Geburtenrate, erklärte Haubner, der Tiefststand habe aber überwunden werden können. Insgesamt habe
der eingeschlagene Weg der Regierung ein positiveres Klima für Familien in Österreich gebracht, zeigte
sie sich überzeugt.
Hohe Priorität haben für Haubner, wie sie ausführte, politische Maßnahmen für die Jugend.
Der jungen Generation müsse es möglich sein, eine Familie zu gründen, unterstrich sie, das setze
aber soziale Sicherheit und Arbeitsplatzsicherheit voraus. Das Beispiel Frankreich zeige, welche Folgen es haben
könne, wenn Jugendlichen Perspektiven fehlten, warnte Haubner. Österreich setze nicht nur auf Qualifikation
und vielfältige Ausbildungsmöglichkeiten, sondern auch auf die Unterstützung außerschulischer
Aktivitäten, etwa was Freiwilligenarbeit oder Jugendorganisationen betrifft.
Besondere Bedeutung misst die Ministerin aber auch der Integration älterer Arbeitnehmer in die Wirtschaft
bei. Es gebe in Österreich verschiedene Anreizsysteme, um Menschen länger in Beschäftigung zu halten,
erläuterte sie, sowohl für Unternehmer als auch für Arbeitnehmer. Beispielsweise habe man im Rahmen
der jüngsten Pensionsreform Arbeiten nach 65 attraktiver gemacht. Der im österreichischen Pensionssystem
verankerte Nachhaltigkeitsfaktor sei seitens der EU, so Haubner, sehr positiv bewertet worden.
Abgeordneter Caspar Einem (S) meinte einleitend, er erachte das Grünbuch der EU-Kommission nicht unbedingt
für einen geeigneten Diskussionsgegenstand für den EU-Unterausschuss. Zudem hätte er sich, wie er
meinte, "ein bisschen mehr Ehrgeiz" Österreichs bei der Beantwortung der von der EU-Kommission im
Grünbuch aufgeworfenen Fragen gewünscht. Es sei "kein Wunder", dass sich die Europäische
Union so langsam bewege, wenn die einzelnen Mitgliedsstaaten bei solchen Gelegenheiten immer nur bereits gesetzte
Maßnahmen auflisteten und keine neuen Ideen entwickelten, sagte Einem. Das gelte beispielsweise auch für
die Umsetzung der Lissabon-Strategie.
Abgeordnete Barbara Rosenkranz (F) begrüßte den eingeschlagenen Weg der Regierung im Bereich der Familienpolitik
und betonte, dieser müsse weiter fortgesetzt werden. Ihrer Ansicht nach hat Frankreich als eines der wenigen
europäischen Länder rechtzeitig und mit Erfolg auf die absehbare demographische Entwicklung reagiert.
Frankreich habe sich nie auf ideologische Debatten eingelassen, sondern sowohl die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie als auch Mehrkinderfamilien gefördert, skizzierte sie.
Eine weitere Verbesserung urgierte Rosenkranz in Bezug auf die Anrechnung von Kindererziehungszeiten bei der Pensionsbemessung.
Die jetzige Regierung habe zwar einen Kindererziehungsfaktor eingefügt, lobte sie, die tatsächliche Leistung
der Eltern würde aber keineswegs vollständig kompensiert.
Abgeordnete Sabine Mandak (G) zeigte sich über die Antworten von Sozialministerin Haubner auf das Grünbuch
der EU-Kommission enttäuscht und hielt fest, auf die niedrige Geburtenrate mit dem Kinderbetreuungsgeld zu
antworten, sei zu wenig. Vielmehr müsse man sich grundsätzlich fragen, welche gesellschaftlichen und
finanziellen Rahmenbedingungen notwendig wären, damit Personen, die Kinder wollen, diese auch bekommen. Dabei
gehe es z.B. um Bereiche wie die Raumplanung.
Eine adäquate Antwort Österreichs vermisst Mandak auch im Hinblick auf den künftig steigenden Pflegebedarf
älterer Menschen. Derzeit würden 80 % der Menschen im Alter zuhause in familiären Netzen gepflegt,
umriss sie, durch die steigende Frauenerwerbsquote und die notwendige höhere Flexibilität werde dies
in Zukunft aber nicht mehr möglich sein. Darüber hinaus gab Mandak zu bedenken, dass die Armutsgefährdung
von Migrantenfamilien doppelt so hoch sei wie die Armutsgefährdung österreichischer Familien, ohne dass
es darauf Antworten seitens der Politik gebe.
Ausschussvorsitzender Werner Fasslabend (V) unterstrich, der vorliegende Themenkomplex sei eine ganz entscheidende
Frage der Zukunft. Seiner Meinung nach wurde der demographische Faktor in seinen Auswirkungen auf die Volkswirtschaften
lange Zeit "krass unterschätzt". |
Fasslabend gab zu bedenken, dass die Investitionsbereitschaft eng mit der Frage korreliere, ob die Gesellschaft
wachse oder stagniere bzw. sogar schrumpfe. In Gesellschaften, in denen die Alterspyramide "auf den Kopf gestellt"
werde, sinke die Innovationsbereitschaft zudem drastisch. Die zu geringe Geburtenrate durch Zuwanderung zu kompensieren,
hält Fasslabend, wie er sagte, nur für bedingt möglich, da die Integrationsfähigkeit einer
Gesellschaft begrenzt sei.
Neben konkreten Einzelmaßnahmen zur Hebung der Geburtenrate erachtet es Fasslabend für notwendig, das
gesellschaftliche Bewusstsein zu sensibilisieren. Ausdrücklich begrüßte er, dass Familienministerin
Haubner der Frage der demographischen Entwicklung während der österreichischen EU-Präsidentschaft
großes Augenmerk widmen wolle.
Abgeordneter Richard Leutner (S) räumte ein, dass die demographische Entwicklung eine große Herausforderung
für den Sozialstaat sei, er warnte aber davor, die soziale Frage auf die Demographie zu reduzieren. Die Frage
der Alterssicherung hänge nicht vom Verhältnis zwischen Jungen und Alten ab, skizzierte er, sonst müsste
es "in Bangladesh" eine hervorragende Altersversorgung geben. Die Chancen, die sich aus dem Grünbuch
der EU-Kommission ergeben, sollten genützt werden, forderte Leutner, man dürfe die "Demographiekeule"
aber nicht dafür benutzen, Angst zu schüren und die Kürzung von Sozialleistungen zu rechtfertigen.
Das drängendste Problem für den Sozialstaat ist Leutner zufolge die hohe Arbeitslosigkeit. Ein Prozent
mehr Arbeitslose verursache größere Probleme als demographische Veränderungen. Europa braucht seiner
Auffassung nach eine Politik, die auf mehr Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet ist. Zum Thema Zuwanderung
merkte Leutner an, es sei eine "Milchmädchenrechnung", dass Zuwanderung zu einer demographischen
Entlastung führe, vielmehr drohe eine noch höhere Arbeitslosenrate, wenn der Arbeitsmarkt durch Migration
überlastet werde.
Abgeordnete Marianne Hagenhofer (S) übte Kritik an einzelnen Formulierungen im Grünbuch, wie beispielsweise
an der Feststellung, wonach die Sicherstellung des Gleichgewichts zwischen den Generationen durch eine Verteilung
von Arbeit auf das gesamte Leben gewährleistet werden könne. Die Menschen müssten sich darauf einstellen
können, dass sie ab einem gewissen Alter nicht mehr einer Erwerbsarbeit nachgehen müssen, bekräftigte
sie.
Abgeordnete Elisabeth Hlavac (S) hielt fest, wenn es für die Menschen keine Arbeit gebe, helfe der ganze Fokus
auf die demographische Entwicklung nichts. Für sie ist es ein Problem des Grünbuchs, dass das Thema Arbeitslosigkeit
nicht zur Sprache gebracht wird. Das Ziel, die Frauenerwerbsquote zu steigern, teilte sie hingegen.
Abgeordneter Karl Donabauer (V) hielt fest, Österreich könne die wichtige Frage der demographischen Entwicklung
nicht nur "aus einer nationalen Befindlichkeit heraus" diskutieren. Man müsse die europaweite Dimension
des Problems sehen, forderte er. Das Pensionsthema sei ein wiederkehrendes, damit werde man sich auch in Zukunft
auseinandersetzen müssen. Donabauer verwies in diesem Zusammenhang auf eine im Grünbuch dargestellte
Prognose, wonach bis zum Jahr 2030 der Anteil der Personen unter 15 und über 65 Jahre an der Gesamtbevölkerung
von derzeit 49 % auf 66 % steigen wird.
In einer zweiten Wortmeldung erklärte Abgeordnete Barbara Rosenkranz in Richtung Abgeordnetem Leutner, sie
sei froh, dass die demographische Entwicklung mittlerweile zu einem stark diskutierten Thema geworden sei. Sie
könne sich noch an Zeiten erinnern, wo dieses Problem "einfach weggewischt wurde". Ausschussvorsitzendem
Fassabend stimmte Rosenkranz dahin gehend zu, dass es "keinen Wirtschaftsstandort Seniorenheim" gibt.
In einer überalteten Gesellschaft könne es nicht zu einem Wirtschaftswachstum kommen, warnte sie und
fragte, wer solle in einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft neue Arbeitsplätze schaffen.
Sozialministerin Ursula Haubner wies darauf hin, dass man gerade in der Familienpolitik auf EU-Ebene von best-practice-Modellen
lebe, weil es in diesem Bereich keine legistische Basis gebe. Sehr lange Zeit habe man überhaupt den Standpunkt
vertreten, dass Familienpolitik alleinige Angelegenheit der Mitgliedsstaaten sei.
Kritik von Abgeordneter Mandak, das Sozialressort würde sich zu wenig Gedanken über die künftige
Organisation der Pflege älterer Menschen machen, wies Haubner zurück. Gerade in diesem Bereich habe man
innerstaatlich wichtige Weichen gestellt, betonte sie und verwies u.a. auf die Vereinbarung mit den Ländern
hinsichtlich einheitlicher Standards im Pflegebereich und die Ausarbeitung eines Entwicklungsplans. Die Betreuung
älterer Menschen zu Hause auch unter geänderten Rahmenbedingungen würde durch neue Versicherungsmöglichkeiten
für die Pflegenden unterstützt.
Für "notwendig und unverzichtbar" hält es Haubner, Zuwanderung zu steuern. Zum einen gehe es
um wirtschaftliche Integration, also um die Frage "Brauchen wir Arbeitskräfte?", zum anderen um
die gesellschaftliche Integration. Die höhere Armutsgefährdung von Migrantenfamilien hängt der Ministerin
zufolge mit der oft niedrigen Qualifikation der Zuwanderer zusammen.
Was die Frage weiterer Maßnahmen zur Familienförderung betrifft, sprach sich Haubner dafür aus,
Kinderbetreuung künftig stärker steuerlich zu berücksichtigen. Wichtig ist für sie dabei, dass
die steuerliche Entlastung allen Familien zugute kommt. Zur Forderung nach einer weiteren Verbesserung der Anrechnung
von Kindererziehungszeiten für die Pension merkte Haubner an, es sei noch nie so viel gemacht worden wie seit
dem Jahr 2000, um Familien- und Erwerbszeiten bei der Pensionsberechnung gleich zu behandeln.
Generell hielt Haubner fest, in Europa befinde man sich erst am Beginn der Diskussion, wie auf die aktuellen demographischen
Herausforderungen am besten zu reagieren sei. Als nächsten Schritt werde die Europäische Kommission anhand
der Stellungnahmen zum Grünbuch ein Weißbuch erstellen, informierte sie. |