Khol: Friedensprojekt EU nicht vor lauter Einzelproblemen übersehen
Wien (pk) - Was erwarten sich junge Menschen von der EU? Welche Sorgen bedrängen sie angesichts
der Entwicklung der Union? Welche Hoffnungen verbinden sie mit einem vereinten Europa? Schülerinnen und Schüler
von fünf Oberstufenklassen hatten am Montag (19. 12.) im Rahmen des "Schülerforums" im
Parlament Gelegenheit, ihre Anliegen und Kritik Spitzenvertreterinnen und -vertretern des österreichischen
und des Europäischen Parlaments in Form einer parlamentarischen Fragestunde zu unterbreiten.
Am Vorabend der Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Österreich sollte damit bewusst ein Zeichen
gesetzt werden. Wie der Präsident des Europäischen Parlaments, Josep Borell Fontelles, betonte, steht
das Schülerforum am Beginn einer Reihe von Bürgerforen, die dazu dienen, den Dialog mit den Bürgerinnen
und Bürgern Europas zu intensivieren, um das Vertrauen in Europa wieder zu stärken. Er begrüßte
es daher auch, dass Österreich beabsichtigt, der Debatte über die Zukunft Europas mit den Bürgerinnen
und Bürgern im nächsten Halbjahr einen Schwerpunkt zu widmen. Als Moderatorin fungierte Gertrude Aubauer
von der ORF-Parlamentsredaktion. Der ORF übertrug das Schülerforum direkt - ein Hinweis auf die Bedeutung,
die man diesem Zusammenkommen mit jungen Menschen beimisst.
Nationalratspräsident Andreas Khol appellierte an die Jugendlichen und die ZuseherInnen vor den Fernsehschirmen,
das große Projekt Europa, das ein Lebensmodell für die ganze Welt sein könne, nicht vor lauter
Einzelproblemen zu übersehen. Die EU habe Frieden, Freiheit und Sicherheit gebracht und garantiere eine folterfreie
Gesellschaft und die Wahrung der Menschenrechte. Dieses größte Friedens- und Freiheitsprojekt dürfe
daher auch nationalen Streitigkeiten nicht zum Opfer fallen. Er hoffe daher, dass das während des letzten
Gipfels vereinbarte Budget auch vom Europäischen Parlament mitgetragen werde. Der Europäische Verfassungsvertrag
stecke ohne Zweifel in einer Krise, sagte Khol, und deshalb sei es notwendig, nun den Dialog mit den Bürgerinnen
und Bürgern zu verstärken. Von den anwesenden europäischen ParlamentarierInnen wurde auch der Erwartung
Ausdruck verliehen, dass Österreich während der Ratspräsidentschaft gemeinsam mit Finnland und Deutschland,
die im Anschluss daran die Präsidentschaft übernehmen werden, einen Anstoß zu diesem offenen Dialog
und zu neuen Visionen für Europa geben werde.
Die beiden Fraktionsvorsitzenden Hans-Gert Poettering und Martin Schulz bekräftigten angesichts der steigenden
Skepsis in der Bevölkerung gegenüber der EU, dass man nur gemeinsam eine Chance haben werde, indem man
die kulturelle, soziale, ökonomische und politische Kraft binde, ohne die nationale Identität zu verlieren.
Schulz kritisierte scharf die "Hauptstadtmentalität", wonach nur alles gut sei, was auf nationaler
Ebene passiere und alles Europäische schlecht sei. Ihm sei es völlig unverständlich, wenn der österreichische
Bundeskanzler für seinen Beitrag zum Europäischen Kompromiss während des letzten Gipfels in den
Medien Kritik erntet, so Schulz.
Ähnlich formulierte es der Europäische Parlamentspräsident Borrell, der meinte, Europa laufe Gefahr,
an seinem Erfolg zu ersticken, und an seinen Egoismen zugrunde zu gehen. Europa müsse vielmehr eine europäische
Identität bilden, die der nationalen Identität jedoch in keiner Weise entgegen steht.
Neben Nationalratspräsident Andreas Khol, der Zweiten Präsidentin des Nationalrates, Barbara Prammer,
und Staatssekretär Hans Winkler standen der Präsident des Europäischen Parlaments, Josep Borell
Fontelles, sowie die Vorsitzenden bzw. stellvertretenden Vorsitzenden der europäischen Parlamentsparteien
Hans-Gert Poettering (Europäische Volkspartei und Europäische DemokratInnen), Martin Schulz (SozialdemokratInnen),
Graham Watson (liberale Fraktion), Francis Wurtz (Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linke/,
Nordische Grüne Linke), Monica Frassoni (Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz), Jens-Peter
Bonde (Fraktion Unabhängigkeit/Demokratie), Brian Crowley (Fraktion Union für das Europa der Nationen)
und Philip Claeys (fraktionslos) den Jugendlichen Rede und Antwort. Sie besuchen die Theresianische Akademie, das
Bundesgymnasium Klosterneuburg, die Höhere Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe Wien 19, das
Gymnasium und Realgymnasium Wien 21. und das International Business College Hetzendorf (IBC). Das IBC erhielt im
Jahr 2004 den Demokratiepreis der Margaretha Lupac-Stiftung des österreichischen Parlaments.
Der Bogen spannte sich von den Themen Arbeitslosigkeit, umweltfreundliche und menschenwürdige Arbeitsbedingungen,
bildungspolitische Initiativen über Fragen zu den Grenzen der EU, zur Erweiterung, zur Migration, zur Zukunft
der Verfassung und zu einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik bis hin zu kritischer Hinterfragung
der Gentechnik in der Landwirtschaft. Den Abschluss des Katalogs bildete die Frage, wie man die EU volksnäher
gestalten könnte, nachdem die Umfragen eine immer größere EU-Skepsis unter der Bevölkerung
konstatieren.
In den Antworten spiegelten sich die unterschiedlichen Standpunkte wider, was Nationalratspräsident Andreas
Khol abschließend zur Bemerkung veranlasste, es gebe für die diffizilen Fragen keine gültigen und
einzig richtigen Antworten, und das sei eben Demokratie. Wesentlich sei es aber, das große Projekt nicht
aus den Augen zu verlieren.
Zum Fragenkomplex Arbeitslosigkeit und soziale Standards waren sich die Abgeordneten grundsätzlich einig,
dass Investitionen in Forschung und Bildung zu den zentralen Punkten für eine erfolgreiche Wirtschafts- und
Arbeitsmarktpolitik gehören. Die derzeitige Situation, sagte etwas Hans-Gert Poettering, bringe sowohl Gefahren
als auch Chancen mit sich, was die steigenden Exportzahlen bestätigten. Sowohl Poettering als auch Graham
Watson traten für mehr Wettbewerb ein, wobei Watson den Schwerpunkt auf Subventionsabbau und verstärkten
Handel mit außereuropäischen Ländern legte, denn nur dieser schaffe Arbeitsplätze und Reichtum.
Abgeordneter Martin Schulz warnte vor einer Senkung der sozialen Standards und forderte mehr Investitionen in die
Qualifizierung. Francis Wurtz erachtete es als notwendig, Kreditvergaben an Unternehmen an bestimmte Bedingungen
zu knüpfen und Monica Frassoni sprach sich für eine verstärkte Unterstützung menschenwürdiger
und ökologischer Arbeitsplätze aus. Die EU müsse Standards setzen, so Frassoni.
Als unfair und enttäuschend bezeichnete Staatssekretär Hans Winkler das EuGH-Urteil zum freien Universitätszugang.
Als Eckpunkte für eine Lösung des Problems nannte er eine Beschränkung für ausländische
Studierende, um den nationalen Bedarf nicht zu gefährden. Zugangsbeschränkungen dürften einzelne
Staaten nicht veranlassen, das Problem einfach auszulagern. Allgemein zeigten die europäischen Abgeordneten
großes Verständnis für die Schwierigkeiten an österreichischen Universitäten. Sie warnten
jedoch davor, neue Barrieren aufzubauen. Während aber zum Beispiel Jens-Peter Bonde und Philip Claeys meinten,
über die Universitäten sollte nur im eigenen Land bestimmt werden, sprach sich Graham Watson für
eine europäische Politik in diesem Bereich aus, was gleichzeitig auch mehr finanzielle Ressourcen der EU bedeuten
würde. Francis Wurtz trat für eine vernünftige Kooperation europäischer und nationaler Bildungspolitik
ein.
Einen zentralen Punkt nahm auch die Frage der Erweiterung und der Grenzen Europas ein. Dabei unterstrich Poettering,
dass es europäische Werte gebe, die in allen EU-Mitgliedern verwirklicht und respektiert sein müssen.
Selbstverständlich gehöre auch die Ukraine zu Europa, Kasachstan jedoch nicht, denn das würde die
demokratische Union unterwandern. Abgeordnete Francis Wurtz sowie Martin Schulz legten großen Wert auf die
Erweiterungsfähigkeit der Union. Schulz ging auch auf die Länder des Westbalkans ein und unterstrich
die Notwendigkeit, diesen eine europäische Perspektive zu geben. Die Perspektive EU habe wesentlich zu Reformen
in dieser Region beigetragen und darüber hinaus auch befriedend gewirkt. Vor der Erweiterung brauche Europa
aber eine Verfassung, sagte er und auch die nötigen Finanzen. In diesem Zusammenhang brachte er Kritik an
der Budgeteinigung vor und meinte, so wie man dort verhandelt habe, werde man Europa an die Wand fahren.
Auf die Frage zur gemeinsamen Außenpolitik vertraten Monica Frassoni und Brian Crowley die Auffassung, dass
man in Zukunft eine kohärentere Außenpolitik brauche, und zwar unter Einbeziehung des Europäischen
Parlaments. Beide vermissten aber einen entsprechenden politischen Willen. Frassoni hielt auch das Abgehen vom
Einstimmigkeitsprinzip in dieser Frage für notwendig.
Staatssekretär Hans Winkler definierte die Rolle der EU in der Welt damit, Hilfe bei der Bewältigung
von Krisen zu bringen und den Wiederaufbau zu unterstützen. Das Instrument dazu sei die Gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik, und dazu bedürfe es sowohl materieller als auch ziviler Unterstützung, wie PolizistInnen,
ZollbeamtInnen, WahlbeobachterInnen oder MenschenrechtsexpertInnen. Selbstverständlich gehörten auch
militärische Mittel dazu. Ziel sei eine europäische Verteidigungspolitik, von einer gemeinsamen Armee
sei derzeit keine Rede. Jedenfalls sei die Neutralität kein Hindernis, sich solidarisch an den Aktivitäten
zu beteiligen.
Unisono hielten die Europa-Abgeordneten eine verfassungsmäßige Ordnung der EU und damit eine Verfassung
für notwendig. Während etwa Hans-Gert Poettering den vorliegenden Verfassungstext als einen Kompromiss
bezeichnete, bei dem es erstmals gelungen sei, die europäischen Werte zu beschreiben und die Grundlagen für
eine demokratische transparente und handlungsfähige EU zu legen, meinten etwa Philip Claeys und Jens-Peter
Bonde, der Verfassungstext sei tot und man brauche einen neuen Entwurf. Auch Monica Frassoni, die grundsätzlich
für den vorliegenden Verfassungstext eingetreten war, hielt eine neue Initiative für erforderlich, und
diese sollte ihrer Meinung nach vom Europäischen Parlament ausgehen. |