von Bundespräsident Dr. Heinz Fischer am 1. Jänner 2006 im ORF
Guten Abend!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Jetzt sind wir also wieder angelangt, an diesem ersten Tag eines neuen Jahres, mit dem das alte Jahr endgültig
abgeschlossen ist und das neue wie ein unbeschriebenes Blatt vor uns liegt.
Mir ist das Jahr 2005 unheimlich schnell vergangen. Wahrscheinlich, weil es aus vielen Gründen für Österreich
und auch für mich persönlich ein spannendes und inhaltsreiches Jahr war.
Leider auch ein Jahr mit schrecklichen Katastrophen, bei denen aber die Hilfsbereitschaft und Solidarität
der österreichischen Bevölkerung neuerlich eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurde, wofür ich
sehr, sehr dankbar bin.
Und nicht zuletzt war es ein Gedenk- und Jubiläumsjahr.
Angesichts der vielen interessanten Veranstaltungen, Diskussionen und Ausstellungen im Jahr 2005 denke ich, dass
man jetzt das Eisen schmieden sollte, solange es heiß ist und das vorhandene Material und noch weiteres Material
über Österreichs Weg durch das 20. Jahrhundert in einem Haus der Zeitgeschichte auf sachgerechter, wissenschaftlicher
und überparteilicher Basis zusammenfassen sollte.
Ich werde mich jedenfalls in diesem Sinne bemühen.
Und noch eine Anmerkung aus aktuellem Anlass am Ende des Gedenkjahres: Wir betrachten doch unsere Volksgruppen
in Österreich, wie zum Beispiel die Slowenen im Süden oder die Kroaten im Burgenland als wertvolle Bereicherung.
Als Österreicherinnen und Österreicher haben sie selbstverständlich vollen Anteil an unserem Rechtsstaat.
Dazu gehört aber auch die Berücksichtigung eines Urteils des österreichischen Verfassungsgerichthofes.
Das erwarte ich mir.
Meine Damen und Herren!
Was das neue Jahr 2006 betrifft, wissen wir alle, dass das 1. Halbjahr in besonderer Weise durch den mit dem heutigen
Tag beginnenden österreichischen EU-Vorsitz geprägt sein wird, und das 2. Halbjahr durch die im Herbst
fälligen Nationalratswahlen.
Was bedeutet eigentlich der österreichische EU-Vorsitz?
Er bedeutet, dass viele wichtige europäische Gremien für 6 Monate unter österreichischem Vorsitz
arbeiten werden. Damit sind auch intensive Vorbereitungsarbeiten verbunden.
Er bedeutet auch, dass Österreich zu vielen Themen als Repräsentant und Sprecher der Europäischen
Union Verantwortung tragen und Aufmerksamkeit finden wird.
Der EU-Vorsitz bedeutet aber NICHT, dass Österreich in dieser Zeit Europa nach eigenem Gutdünken lenken
und gestalten kann.
Vielmehr müssen auch in diesem Halbjahr alle Mitgliedsländer gemeinsam am Europäischen Projekt arbeiten.
Und es muss jedes Land seine Hausaufgaben machen, Fehler korrigieren und Vertrauen aufbauen.
Besonders wichtig ist es meiner Meinung nach, durch Worte und Taten zu beweisen, dass das Prinzip der sozialen
Gerechtigkeit im gemeinsamen und erweiterten Europa nicht an den Rand gedrängt wird.
Erfolge im Kampf gegen Arbeitslosigkeit, und ganz besonders gegen Jugendarbeitslosigkeit, wären daher ein
außerordentlich wertvolles Argument im Werben um Vertrauen für dieses Europa.
Beschäftigungspolitik muss Vorrang haben!
Denn schließlich ist die Europäische Integration ja kein Selbstzweck, sondern ein kluges Projekt von
historischer Bedeutung, um durch ein leistungsfähiges, wettbewerbsfähiges Europa die Grundlage für
humane und menschenwürdige Lebensbedingungen und für dauerhaften Frieden in ganz Europa zu schaffen.
In diesem Sinne wollen wir auch die freundschaftlichen Beziehungen zu unseren Nachbarländern festigen und
weiterentwickeln.
Liebe Österreicherinnen und Österreicher!
Das neue Jahr 2006 wird auch ein Mozartjahr und ein Sigmund-Freud-Jahr sein, wobei wir des 250. Geburtstages von
Mozart und des 150. Geburtstages von Sigmund Freud gedenken.
Ich erwähne das Mozart- und Freudjahr deshalb, weil man Mozart geradezu als Symbol für geniales künstlerisches
Schaffen sehen kann, und weil die Höhen und Tiefen im Leben und Schaffen von Sigmund Freud bis hin zu seiner
erzwungenen Emigration im 82. Lebensjahr ebenfalls Symbolkraft für ein Tabu brechendes Forscherleben haben.
In diesem Zusammenhang wünsche ich mir, dass 2006 über Mozart und Freud hinaus auch ein gutes Jahr für
Kunst und Wissenschaft mit herausragenden künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen werden möge.
Wir verdanken Kunst und Wissenschaft außerordentlich viel. Sowohl individuell als auch als Gesellschaft;
und wir honorieren das am besten, indem wir mit Kunst und Wissenschaft verantwortungsvoll und zukunftsorientiert
umgehen.
Liebe Zuseherinnen und Zuseher!
Ich möchte nicht versäumen, mich am ersten Tag des neuen Jahres auch für die vielen Zeichen des
Wohlwollens und des Zuspruches bedanken, die meine Frau und ich im vergangenen Jahr erhalten haben. Dankeschön.
Ich wünsche Ihnen allen, Ihren Familien und unserem ganzen Land ein gutes, friedvolles Jahr 2006 und bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit. |