Wien (wifo) - Die wirtschaftliche Bilanz Europas für die letzten zehn bis fünfzehn Jahren fällt
enttäuschend aus. Das Wachstum ist niedriger als in der Vergangenheit und in den USA. Die hohe Dynamik der
Weltwirtschaft in den Jahren 2004 bis 2006 kann in Europa nicht voll genützt werden. Die Konsequenzen zeigen
sich deutlich auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote liegt bei 7,9% (EU 15) bzw. 8,7% (EU 25), die Zahl der
Arbeitslosen bei 14 Mio. (EU 15, 2005; EU 25 19 Mio.) und das, obwohl Europa einen relativ arbeitsintensiven Wachstumspfad
gewählt hat. Diese Entwicklung steht im Gegensatz zu den Erfolgen früherer Integrationsschritte, die
zur Folge hatten, dass Europa einen erheblichen Teil seines Produktivitätsrückstands gegenüber den
USA aufgeholt hat. Und sie steht im Gegensatz zur Erwartung, dass die Intensivierung des Binnenmarktes, die Einführung
der gemeinsamen Währung und die Erweiterung der EU zusätzliches Wachstum und Beschäftigung bringen
würden. Dennoch ist als gesichert anzusehen, dass Europa ohne europäische Integration noch schlechter
dastünde und Österreich ohne Mitgliedschaft ein geringeres Wachstum, höhere Inflation und eine um
50.000 Personen höhere Arbeitslosigkeit (niedrigere Beschäftigung) hätte.
Die unbefriedigende Entwicklung hat einerseits von außen (von Seiten der USA, aber auch der internationalen
Organisationen) zur Kritik an den unflexiblen Strukturen, den hohen Sozialleistungen, den hohen Staatsquoten und
den regulierten Arbeitsmärkten Europas geführt. Im Gegensatz dazu werden in Europa – besonders von der
Arbeitnehmerseite, aber auch von weiten Teilen der Bevölkerung – die mangelnde soziale Komponente der europäischen
Politik (im EU-Vertrag, aber auch in den nationalen Politiken), das Überwiegen der Wirtschaftsinteressen,
die verringerte makroökonomische Steuerung, die Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung als Ursachen
für die aus Wachstums- und Beschäftigungssicht nicht befriedigende Situation angeführt. Die Ablehnung
der Verfassung und die niedrigen Zustimmungswerte zum Projekt Europa sind allgemein und in Österreich im besonderen
wahrscheinlich primär auf die Verschlechterung der Arbeitsmarktlage zurückzuführen.
Die Wirtschaftspolitik in Europa beruht auf drei Säulen: der Binnenmarktpolitik, der gesamtwirtschaftlichen
Steuerung und der Forcierung von Technologie und mittelfristigem Wachstum. Die Binnenmarktpolitik soll nationale
Monopole und Grenzen beseitigen, einen gemeinsamen Markt schaffen, auf dem 460 Millionen Menschen Waren und Dienstleistungen
in größerer Vielfalt und zu niedrigen Preisen kaufen können und Unternehmen weltweit konkurrenzfähiger
und erfolgreicher werden. Zur Binnenmarktpolitik gehört eigentlich auch die Freizügigkeit – sie umfasst
ja die vier Freiheiten (Kapital, Arbeit, Dienstleistungen, Waren). Langfristig ist von dieser Linie eine Steigerung
von Wachstum und Beschäftigung zu erwarten, kurzfristig sind die Beschäftigungsverluste oft größer,
schneller und deutlicher fühlbar. Die zweite Linie – die makroökonomische Steuerung – soll Konjunkturschwankungen
ausgleichen, Inflation verhindern, die Verschuldung des Staates und die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen
Finanzen herstellen. Mittelfristig kann sie eher wachstumsfreundlich oder eher preisstabilisierend ausgeführt
werden, Instrumente sind öffentliche Haushalte und Zinssätze. Der langfristige Wachstumspfad ist von
der Höhe und Qualität der Forschung, der Ausbildung, der Weiterbildung, der Diffusion von Technologien
und der modernen Infrastruktur abhängig (dritte Linie der Wirtschaftspolitik). In der europäischen Wirtschaftspolitik
überwog in den letzten zehn Jahren die Binnenmarktpolitik, im Bereich der makroökonomische Steuerung
wurde die restriktive Variante gewählt (u. a. zur Beseitigung zweistelliger Defizite und eines Schuldenstandes
in einigen Ländern, der die jährliche Wirtschaftsleistung überstieg, letztlich auch zur Schaffung
einer gemeinsamen Währung und der Etablierung des Rufs der Europäischen Zentralbank als stabilitätsorientiert).
Die Forcierung von Technologie und Wachstum wurde zwar in der Lissabonstrategie angesprochen, aber immer wieder
hinter andere Ziele und Aktivitäten zurückgestellt. Die tatsächlich gewählte Kombination der
drei Linien erklärt einen Teil des europäischen Wachstumsproblems.
Sozialpolitik und Regulierungen des Arbeitsmarktes fallen größtenteils in die nationale Kompetenz. Die
Europäische Union versucht, Arbeitsmärkte über Beschäftigungsziele und die offene Koordinierung
von Nationalen Beschäftigungsplänen sowie zusätzlich über Programme der europäischen Sozial-
und Strukturfonds zu beeinflussen. Die Zielvorgaben für Beschäftigungsquoten von Frauen, ältere
Personen, für Qualifizierungen und lebenslanges Lernen, für die Integration von Migranten, Minderheiten
und Problemgruppen, für regional rückständige Gebiete haben die nationalen Politiken bereichert,
kommen aber in ihrem Stellenwert nicht den drei wirtschaftpolitischen Hauptlinien gleich.
Die mangelnde Flexibilität der europäischen Arbeitsmärkte ist für die wirtschaftliche Dynamik
und eine rasche Reaktion auf neue Chancen kein Vorteil. Internationale Vergleich zeigen allerdings auch, dass die
Flexibilisierung allein keinen Beschäftigungseffekt mit sich bringt, wenn die übrigen Komponenten der
Wirtschaftspolitik nicht unterstützend eingreifen. Flexibilisierung kann die Wirtschaftsleistung erhöhen,
wenn sie in einem stabilen wirtschaftspolitischen Rahmen, in einer dynamischen Wirtschaft erfolgt. Mikroökonomischer
Wandel braucht makroökonomische (Nachfrage-)Stabilität, Dynamik und Vertrauen. Flexibilität ist
dann ein Vorteil, wenn ihre Gewinne geteilt werden, wenn sie die Bedürfnisse der Unternehmen und der Arbeitnehmerseite
berücksichtigt. Sie erleichtert den Übergang zwischen Arbeitsmärkten und Berufen, zwischen Teilzeit
und Vollzeit, zwischen Beschäftigung und Ausbildung, zwischen Phasen der Nichterwerbstätigkeit allgemein
(zur Übernahme von Betreuungspflichten, Aus- und Weiterbildung . . .) und der Erwerbstätigkeit, sie befähigt
Unternehmen, rasch auf Marktchancen zu reagieren. Versuche einer "ausbalancierten" und "innovativen"
Flexibilisierung werden unter der Strategie "Flexicurity" zusammengefasst. Der erste Teil des Wortes
betont die zunehmende Flexibilität vor allem auf der Unternehmensebene, der zweite Teil die Sicherheit vor
allem für die Arbeitnehmerseite. Diese Sicherheit umfasst eine hohe Einkommensersatzrate bei Arbeitsplatzverlust,
aber auch die Chancen zur Höherqualifikation und die professionelle Unterstützung bei der Suche nach
einem neuen Arbeitsplatz.
Das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell ist weltweit der ausgefeilteste Versuch, die Effizienz des Marktes
mit sozialen Aspekten und teilweise auch mit ökologischen Zielsetzungen zu verbinden. Die Gesellschaft übernimmt
eine hohe Verantwortung für die Wohlfahrt der Mitglieder, sichert sie gegen Risken der Arbeitslosigkeit, der
Krankheit und des Alters ab. Die Arbeitsmärkte unterliegen gut ausformulierten Regeln, die Übernahme
unternehmerischer Verantwortung ist an Bedingungen und Bewilligungen geknüpft, es gibt Mitbestimmung auf betrieblicher
und überbetrieblicher Ebene. Der Staatsanteil an der Wirtschaftsleistung und die Steuerquote sind in Europa
höher als in anderen Regionen, und weder die Staatsquote noch die Abgabenquote (Steuerquote) oder die Sozialquote
sind im Bereich der EU 15 heute niedriger als 1990. Das europäische Modell entspricht der Vorstellung, dass
Wachstum, Effizienz und Konkurrenzfähigkeit zwar eine Vorbedingung für Wohlfahrt sind, Wohlfahrt aber
nicht nur durch Einkommen, rein individuelle und materielle Ziele definiert ist, soziale Absicherung und Kohärenz
und Vollbeschäftigung ebenso wie eine intakte Umwelt jedenfalls auch wichtig sind. Innerhalb Europas zeigen
die skandinavischen Länder in den letzten Jahren am ehesten, wie ein europäisches Modell auch in einer
globalisierten Wirtschaft möglich ist. Schweden, Dänemark und Finnland erhalten den Wohlfahrtsstaat im
Kern (sogar in einer umfassenderen und egalitäreren Form als kontinentale Länder), flexibilisieren aber
die Märkte mit Symmetrie, Augenmaß und einem intakten Sicherheitsnetz und verstärken Ausbildung,
Weiterbildung und Technologieeinsatz. Sie erreichen diese Position bei ausgeglichenen Budgets und nach Erfahrungen
oftmaliger Krisen.
Die europäische Wirtschaftspolitik hat teilweise auf die schwache Entwicklung reagiert, indem sie den Stabilitätspakt
gelockert und das Wachstumsziel stärker betont hat. Sie hat die Lissabonstrategie in die nationale Kompetenz
gestellt und die Dienstleistungsrichtlinie zwecks Überarbeitung zurückgestellt. Dennoch waren diese Reformen
noch zu wenig oder stehen erst am Beginn.
Die Hauptstrategie Europas – auf europäischer wie auf nationaler Ebene – muss es sein, das Wirtschaftswachstum
zu erhöhen. Bei einem Wachstum von 2% gibt es keine Chance auf ein Sinken der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig
befriedigendem, die Konkurrenzfähigkeit gewährleistenden Produktivitätsanstieg. Dies gilt besonders
für Länder, in denen das Arbeitskräfteangebot steigt (wie in Österreich). Sekundär soll
eine Feinsteuerung der Arbeitsmärkte in Richtung besserer Kombination von Flexibilität und Absicherung
angestrebt werden. Für die Forcierung des Wachstumszieles wäre erstens eine Infrastrukturoffensive etwa
im Bereich der Transeuropäischen Projekte notwendig. Zweitens muss die Lissabonstrategie forciert werden.
Hier liegen die nationalen Pläne vor, sie müssen bewertet werden und in ihrem Anspruchsniveau wie auch
ihrer Durchführung noch durch eine europäische Initiative und Koordination verstärkt werden. Ein
bloßes Benchmarking ist zu wenig, wenn sich zeigt, dass die Summe der derzeitigen Pläne nicht zur Zielerreichung
ausreicht. Die Qualität der Budgets könnte in Richtung Wachstumswirksamkeit verbessert werden. In der
makroökonomischen Steuerung sollte angesichts der geringen Inflation der letzten Jahre zur Kenntnis genommen
werden, dass die Verfehlung der Wachstumsziele und eines hohen Beschäftigungsstandes heute die größere
Gefahr ist. Die EZB kann dies heute leicht tun, weil sie den Ruf einer strengen Hüterin der Preisstabilität
erworben hat und der Euro sehr stark ist. Die Binnenmarktstrategie muss fortgesetzt werden. Die damit kurzfristig
entstehenden Nachteile – u. a. durch Freizügigkeit der Arbeitnehmerseite – sollen mitberücksichtigt und
der Erhöhung der Mindeststandards im Sozialbereich (und im Umweltbereich) mehr Bedeutung zugemessen werden.
Die Chancen der Flexibilisierung sollen genützt, die Gewinne geteilt, die Rechte der Personen, denen Flexibilität
zugemutet wird, gestärkt werden, Sozialleistungen sollen mit flexiblen Verträgen verbunden werden. Mikroökonomische
Flexibilität kann besser erreicht werden in einem Klima der Partnerschaft sowie bei stabilisierender und wachstumsfreundlicher
Wirtschaftspolitik. Das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell ist unter diesen Bedingungen kein Hindernis
für den Wirtschaftserfolg, sondern kann eine Produktivkraft sein. Und die Vorteile der Mitgliedschaft Österreichs
in der EU, die schon jetzt errechenbar sind, werden dann klarer zu erkennen sein.
Quelle: WIFO
Autor: Karl Aiginger |