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Vorstellung des Programms des österreichischen Vorsitzes |
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erstellt am
18. 01. 06
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Rede des Vorsitzenden des Europäischen Rates, Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel vor
dem Europäischen Parlament
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es ist mir eine Freude und Ehre, hier vor dem Europa-Parlament sprechen zu dürfen. Dieses Parlament ist aus
einer historischen Wahl hervorgegangen. Zum ersten Mal sind 25 Länder in Freiheit zu einer Wahl angetreten
und haben ihre Volksvertretung gewählt. Dieses Haus repräsentiert den Populus Europaeus. Dieses Parlament
verdeutlicht die Stärke Europas, seine Vielfalt, seine Ideen und Erfahrungen, seine Geschichte und Geschichten
und seine Hoffnung. Der Klang Europas ist kein Soloinstrument, sondern ein Orchester, wie auch dieses Parlament.
Europas Farbe ist nicht monocolor, sondern bunt, wie auch das Logo des österreichischen Vorsitzes. Seine Stärke
liegt in der Vielfalt, die verschiedenen Identitäten machen die Identität Europas aus. Kein Land hat
verloren, alle Länder haben von ihrem Beitritt zur Union profitiert. Wir haben Freiheit, Frieden, Sicherheit
und Wohlstandschancen gewonnen.
Wenn aber alles so großartig ist: Woher kommt dann diese spürbare Skepsis vieler Bürger? Wir brauchen
dafür eine genaue Analyse: Nach den Höhen des Jahres 2004 kam 2005 eine schwierige Phase. Nach den beiden
negativen Verfassungsreferenden in Frankreich und Niederlanden, dem mühsamen Tauziehen um die Finanzielle
Vorausschau, den Terrorangriffen in einigen EU-Hauptstädten, der wachsenden Sorge der Bevölkerung über
die weiteren Erweiterungen der EU entstand eine echte Vertrauenslücke zwischen den Bevölkerungen und
den EU-Institutionen.
Der österreichische Vorsitz will genau hier ansetzen: Am Ende des Vorsitzes soll das Vertrauen der Bürger
zur EU, das Vertrauen der Mitgliedstaaten zu einander und zur Union und das Vertrauen zwischen den Institutionen
wieder wachsen. Dazu aber brauchen wir Klarheit über die wichtigen Fragen, die die Menschen bewegen.
Der berühmte österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger hat mich auf einen Punkt in der Physik aufmerksam
gemacht, den ich sehr spannend finde: "Die Frage ist das Wichtigste. In der Quantenphysik ist das noch viel
wichtiger als im alltäglichen Leben. Aber auch hier gilt: Die Art der Frage bestimmt die Qualität der
Wirklichkeit." Daher müssen wir zuerst die richtigen Fragen stellen. Diese Fragen müssen ehrlich
sein, und wir müssen uns auch der unangenehmen Perspektive mancher Fragen bewusst sein und dürfen nicht
davor zurückscheuen. Wir dürfen auch nicht erwarten, immer gleich die richtigen Antworten zu haben und
wir müssen uns vor den schnellen Abkürzungen vorsehen. Dabei ist auch Zuhören gefragt. Europa muss
nützen und Europa muss schützen.
Als wir die Präsidentschaft am Beginn dieses Jahres begonnen hatten, fand in Wien traditionell zum Jahresauftakt
das Neujahrskonzert statt. In dem Moment, als der lettische Dirigent Maris Janssons den Taktstock hob, haben die
Russen die Gaslieferungen erst um 30%, dann um 50% reduziert. Bundesminister Martin Bartenstein hatte dann die
Aufgabe, mit den Partnern, den Ukrainern, den Russen und den europäischen Partnern, Lösungen zu finden.
Das hat uns gezeigt, dass ein bisher rein nationales Thema wie die Energieversorgung nur mehr auf europäischer
Ebene gelöst werden kann. Hier braucht es mehr Europa.
Wenn es um die Frage der Verringerung der Abhängigkeit von einem Lieferanten, der Diversifizierung, der Reservenbildung
und der Sicherheit der Energienetze geht, dann geht das nur mit einer langfristigen Perspektive und nicht mit dem
Streben nach kurzfristigem Gewinn. Langfristige Lösungen für Europa sind die einzig mögliche Antwort.
Es geht aber auch um Alternativen. Jedes Land soll seine Energiequellen wählen können. Wir in Österreich
haben unsere Lösung der Atomfreiheit gewählt und werden diese auch beibehalten. Jedes Land muss seine
Wahlfreiheit behalten können. Aber wir brauchen europäische Sicherheitsstandards, mehr Investition in
erneuerbare Energien und die Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die für uns und unsere Umwelt wichtig
sind.
Die Sicherheit der Energieversorgung wird ein wichtiges Thema für den Frühjahrsgipfel. Hier danke ich
auch der britischen Ratspräsidentschaft, die dieses Thema bereits auf ihrem informellen Gipfel in Hampton
Court zur Sprache gebracht hatte. Bei diesem Thema werden wir auch eng mit der Kommission zusammenarbeiten.
Weitere Themen sind die Vogelgrippe oder der Kampf gegen das iranische Atomaufrüstungsprogramm: Hier kann
nur mehr Europa und ein Zusammenstehen Europas auf der Weltbühne helfen.
Wachstum und Arbeitsplätze sind das zentrale Thema für den kommenden Frühjahrsgipfel: Ohne Perspektive
für Arbeit wächst das Unbehagen der Bürger über Europas. Viele haben das Gefühl, Europa
tut hier zuwenig.
Die Mitgliedstaaten haben jetzt ihre 25 Reformprogramme für mehr Wachstum und Arbeit vorgelegt, die die Kommission
nun bewerten wird. Wir wollen eine Mischung erreichen: Eine überprüfbare Selbstverpflichtung der 25 Mitgliedstaaten
plus Empfehlungen der Kommission, damit wir in eine konkrete Phase der Realisation und zu sichtbaren Ergebnissen
kommen. Aber über eines müssen wir uns auch im Klaren sein: Kein Politiker kann Arbeit versprechen. Das
ist unseriös. Aber wir können die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen, wie etwas gelingen kann.
Mit einem EU-Budget von 1,045 % des BNP können wir nicht Arbeitsplätze schaffen, aber wir können
eine Vorbildwirkung schaffen, wir können eine Selbstverpflichtung schaffen, wir können neue Themen auf
die europäische Agenda setzen.
Zentrales Thema dabei ist die Förderung der KMU und des Mittelstands: Seit langem klagen die KMU, sie haben
zu wenig Zugang, zu wenig Information, zu wenig Kapital. Die KMU sind, wenn überhaupt, die einzig wirkliche
Jobmaschine in Europa, sie sind die Gründer. Sie sind ein schlafender Riese. Wir müssen diesen schlafenden
Riesen wecken. Die KMU brauchen einen besseren Zugang zu Kapital, zu Forschung und Entwicklung, zu den Mitteln
aus Regionalförderung und Strukturprogrammen. Auch das Vorhaben der Better Regulation ist hier wichtig, um
für die KMU die Bürokratiekosten zu verringern. |
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Eine weitere große Kraftquelle für Europa sind die Europäischen Sozialpartner. Aus österreichischen
Erfahrung kann ich sagen: Demokratie und Marktwirtschaft gehen überhaupt nur mit freien, starken und unabhängigen
Sozialpartnern. Das geht freilich nicht ohne Diskussion, das ist in einer Demokratie selbstverständlich. Eine
solche freie Diskussion ist ja oft auch ein Vitaminstoss für eine Debatte. Ich möchte hier die europäischen
Sozialpartner einladen, an den genannten Debatten mitzuarbeiten und hatte bereits gute Gespräche mit dem EGB
und der UNICE.
Zur Dienstleistungsrichtlinie: Das Europaparlament setzt sich schon seit Monaten damit intensiv auseinander. Mit
über 1000 Änderungsanträgen sehen Sie selbst, wie schwierig es ist, die Öffnung eines so großen
Marktanteils mit den notwendigen Sicherheiten zu kombinieren. Ich stehe für einen entschlossenen Kampf gegen
Sozialdumping und für den Schutz der Public Services. Es geht um die Balance zwischen Öffnung und Schutz.
Hier möchte ich die Sozialpartner an unserer Seite haben.
Der Schlüssel zu allem ist aber ein ausreichendes Wachstum. Der Frühjahrsgipfel muss daher vor allem
wachstumsstärkenden Impulsen gewidmet werden. Auch die Erweiterung, klug und richtig gemacht, kann eine solche
Wachstumsstärkung für Europa sein. Wenn wir zu einem Wachstum von 3 % bei einem Jobwachstum von 1 % gelangen,
dann können wir die Zahl der derzeit 19 Millionen Arbeitslosen in Europa in fünf Jahren halbieren. Wenn
wir zusätzlich eine Stärkung der Qualifikation und Flexibilisierung schaffen, können wir dieses
Ziel erreichen. Wir können uns im globalen Wettbewerb gegenüber den USA, Japan und China auch gar nichts
anders leisten.
Die Finanzielle Vorausschau ist ein ganz wichtiges Thema für die Kommission, den Rat und das Europäische
Parlament. Wir suchen und wir brauchen die Kooperation mit Ihnen im Europa-Parlament. Die Finanzielle Vorausschau,
auf sieben Jahre angelegt, bringt Sicherheit und Planbarkeit. Ich weiß, dass viele im EP mit dem Ratsergebnis,
das wir mit vielen Mühen beschließen konnten, nicht zufrieden sind. Ich sage aber beispielsweise hier
auch, dass, wer etwa mehr Forschung will, bei den nationalen Budgets ansetzen muss. Wenn wir das beschlossene Ziel
von 3% der nationalen Budgets in jedem Mitgliedstaat für Forschungsausgaben erreichen würden, stünden
uns pro Jahr bei 300 Milliarden Euro mehr für Forschung zur Verfügung. Ich sage es hier ganz deutlich:
Wir stoßen an Grenzen, wenn wir aus nationalen Budgets immer mehr Aufgaben herausschneiden. Auf diese Weise
werden wir das letzte Mal eine Finanzielle Vorausschau zusammen gebracht haben.
Ich sage jetzt auch etwas, dem vielleicht nicht alle von Ihnen zustimmen werden: Europa braucht eine stärkere
Eigenfinanzierung. Es geht nicht, dass wir aus den nationalen Budgets alles herausschneiden, was wir für Europa
brauchen. Dann kommen wir genau in diese unglückliche Spannung zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern.
Eine stärkere Eigenfinanzierung ist vielleicht nicht populär, aber notwendig. Auch Kommissionspräsident
Barroso sieht das ganz ähnlich. Die Kommission muss alle diese Aspekte beim Review 2008/9 auf den Tisch legen.
Es kann nicht angehen, dass kurzfristige Finanzspekulationen überhaupt nicht besteuert werden. Es kann nicht
angehen, dass der Verkehr in der Luft oder per Schiff überhaupt nicht besteuert wird. Ich bitte die Kommission,
diese Themen in den Review mit einzubeziehen. Ich bitte auch das Europaparlament um Unterstützung: Wer ein
starkes Europa will, darf sich nicht scheu um diese Frage herumdrücken.
Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner und Javier Solana müssen oft mit dem Hut in der Hand herum gehen,
um Geld für dringendst benötigte Aufgaben Europas in der Welt zu sammeln, weil wir nicht den Mut hatten,
diese Fragen ehrlich zu diskutieren.
Das neue Europa braucht auch eine neue Gemeinsamkeit zwischen den Institutionen. Eine fortgesetzte Kritik zwischen
den Institutionen macht keinen Sinn. Wir alle sitzen in einem Boot und müssen auch in eine Richtung rudern.
Für mich gilt das Motto: Not head to head confrontation, but hand in hand cooperation. Wir müssen auch
zuhören, wenn die Bürger Verschwendung und Missbrauch beklagen. Dafür brauchen wir eine unabhängige
Kontrolle, dafür sollten wir die Transparenz stärken, wenn der Rat als Gesetzgeber auftritt. Man könnte
auch die Subventionsvergabe öffentlich machen. Es ist immerhin europäisches Steuergeld, mit dem wir arbeiten.
Wir müssen den Fragen der Menschen zuhören: Wo bleibt der Schutz der kleinen Leute? Wo bleibt der soziale
Zusammenhalt? Wo bleibt der Schutz der Schwachen?
Jacques Delors hat einen wichtigen Satz gesagt: "Finding a balance between the market and social policy means
recognizing social issues as development factor and not as a by-product of the market economy."
Bis zum Juni-Gipfel werden wir auch die Diskussion um die Europäische Verfassung zu führen haben. Wir
haben diesen Auftrag bekommen, in einer Reflexionsphase gemeinsam mit der Kommission und dem Europäischen
Parlament, den nationalen Parlamenten und natürlich der Öffentlichkeit eine Diskussion zu führen.
Der konstitutionelle Ausschuss Ihres Hauses hat einen sehr ausgewogenen und guten Beschluss gefasst, den ich sehr
ernst nehme. Diese Diskussion darf kein elitärer Diskurs sein. Die Bürger haben Sehnsucht nach Teilhabe
und Partizipation. Es geht dabei nicht nur um einen Text. Es geht um sehr viel mehr: Es geht um unsere Identität,
was verbindet uns, was hält uns im Inneren zusammen? Es geht auch um eine faire Aufgabenteilung: Was soll
Europa tun können und müssen? Wer die großen Aufgaben lösen will, muss dafür die Hände
freihaben und loslassen können. Hier kommt der oft beschworene Begriff der Subsidiarität zum Tragen:
Europa muss die kleinen Aufgaben abgeben, um für die großen Aufgaben die Hände frei zu haben.
Es geht auch um die Grenzen Europas, die Limits, die Kriterien für die Aufnahmefähigkeit der Union. Diese
Grenzen können nicht von Landvermessern und Geographen gezogen werden, das ist ein politisches Thema. Es geht
auch um die Sichtbarkeit Europas in der Welt und nach innen hin. Wir sollten nicht nur in Brüssel und Strassburg
tagen, Europa muss auch an den Grenzen tagen. Wir sehen als Präsidentschaft, wie interessant es für die
Bürger ist zu sehen und zu begreifen, dass Europas hinausgeht und sich angreifen lässt.
Es geht auch um den Europäischen Way of Life. Ich habe nie verstanden, dass die USA stolz von ihrem American
Way of Life reden können, und wir in Europa uns nie trauen, unser Lebensmodell stolz vor uns herzutragen:
Frieden, Demokratie und Solidarität sind nicht selbstverständlich und das alles gibt es auch nicht zum
Nulltarif.
Wir wollen bis Juni eine Roadmap vorlegen und dabei sind kontroverse Diskussionsbeiträge gewünscht und
willkommen. Martin Buber hat gesagt: "Jeder ist berufen, etwas in der Welt zur Vollendung zu bringen."
Das gilt auch und besonders für Europa. Europa ist Teamarbeit. Wir bauen auf der Vorarbeit der Briten auf
und werden mit den Finnen eine gemeinsame Vorsitzführung durchführen. Wir wollen ein verlässlicher
Partner für das Europäische Parlament und die Kommission sein und hoffen dabei auf Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank und viel Glück!
Quelle: Bundespressedienst |
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