Rede von Bundespräsident Dr. Heinz Fischer vor dem Europäischen Parlament  

erstellt am
16. 02. 06

Straßburg (hofburg) - Bundespräsident Dr. Heinz Fischer hielt am Mittwoch (15. 02.) vor dem Europäischen Parlament eine Rede mit den Schwerpunkten ”soziale Schieflage in Europa” und die sogenannten ”Mohammed-Karikaturen”. Es gilt das gesprochene Wort!

Herr Präsident!
Meine Damen und Herren Abgeordnete des Europäischen Parlaments!

Eine mir wohlgesinnte Abgeordnete dieses Hauses – sie stammt aus Österreich – hat mir vor einigen Tagen den Rat gegeben, ich möge mich bei meiner heutigen


Heinz Fischer und der Präsident des Europa-Parlaments Josep Borrell: Gemeinsamer Vorstoß für eine europaweite Volksabstimmung über die EU-Verfassung

Foto: Präsidentschaftskanzlei/Hofburg
Rede vor dem Europäischen Parlament nicht zu lange mit einleitenden Floskeln aufhalten.

Sie, meine Damen und Herren, haben relativ häufig Staats- und Regierungschefs aus den verschiedensten Ländern an diesem Rednerpult zu Gast und sind an Politik mehr interessiert als an kunstvollen Komplimenten.

Gut, ich werde diesen Rat befolgen. Aber eines wird mir gestattet sein: zu sagen, dass ich mich selbst als altes parlamentarisches Schlachtross betrachte, das gerne Parlamentsluft atmet. Ich bin 1971 zum ersten Mal ins österreichische Parlament gewählt worden, wo ich bis zu meiner Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten im Jahr 2004 tätig war, davon 12 Jahre als Präsident des österreichischen Nationalrates.

Ein beträchtlicher Teil dieser vielen Jahre fiel noch auf jenen Zeitraum, wo die Teilung Europas in Ost und West durch einen Eisernen Vorhang ein unverrückbares Faktum zu sein schien.

Andrej Amalrik hatte zwar ein faszinierendes Buch unter dem Titel „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 überleben“ geschrieben und einen Zusammenbruch des sowjetischen Systems prophezeit. Aber mit politischem Realismus schien das zunächst wenig zu tun zu haben. Das Jahr 1989 und die Monate vor und nach dem Fall der Berliner Mauer waren daher für mich und wohl für die meisten von uns so etwas wie ein politisches Wunder.

Heute wissen wir wesentlich mehr über die realen Ursachen dieser Entwicklung.

Dennoch hat mich dieser Abschnitt unserer Geschichte stark geprägt. Seither glaube ich an die Möglichkeit politischer Wunder oder zumindest an die Möglichkeit, das zunächst schwierig bis aussichtslos Erscheinende zu erreichen.

Die Begeisterung für das europäische Projekt ist in dieser Zeit jedenfalls wesentlich gestärkt worden und hat eine zusätzliche Dimension erhalten. Neben der Philosophie der Gründerväter des europäischen Projektes, nämlich dem Friedensgedanken, und neben dem Ideal persönlicher und wirtschaftlicher Freizügigkeit in einem möglichst großen europäischen Raum, entwickelte sich für Millionen von Menschen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch vier Jahrzehnte kommunistischer Diktatur erleben mussten, die Perspektive, doch noch ein Leben in Demokratie und Freiheit zu erreichen.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Erweiterung der EU von 12 auf 15 Mitglieder zum 1. Jänner 1995 gelangte fast zwangsläufig die Frage einer großen Erweiterungsrunde, die auch als eine Art Wiedervereinigung Europas verstanden wurde, auf die Tagesordnung.

Auch das haben wir in der Zwischenzeit, nämlich 2004 geschafft und Bulgarien sowie Rumänien werden wohl in Kürze folgen.

Damit wird verstärkt die Frage nach den Grenzen Europas und nach der europäischen Identität aufgeworfen.

Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Was ist nicht alles über die Grenzen Europas diskutiert und geschrieben worden.

Aber manchmal lassen sich auch auf komplexe Fragen relativ nüchterne Antworten geben.

Die geographischen Grenzen Europas sind im Westen, im Norden und im Süden einfach zu definieren. Sie sind unumstritten. Und im Osten sind die geographischen Grenzen Europas nicht identisch mit kulturhistorischen Grenzen und auch nicht mit bestehenden Staatsgrenzen. Für das europäische Projekt von morgen sind wir daher verpflichtet, sinnvolle politische Grenzen zu ziehen – die ja nicht Ewigkeitswert haben müssen - und über diese Grenzen hinweg durch intensive Kooperation mit den angrenzenden Ländern (Stichwort „wider Europe“) Partnerschaft zu entwickeln und Zusammenarbeit aufzubauen.

Für die Festlegung politischer Grenzen des europäischen Projektes sind jedenfalls sowohl die Erfüllung der Beitrittsbedingungen als auch die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union maßgebliche Faktoren.

Dass auch die westlichen Balkanstaaten eine Europäische Perspektive verdienen, sofern sie zum gegebenen Zeitpunkt die Beitrittskriterien erfüllen, ist meine feste Überzeugung. Verbindliche Fristen oder Daten zu nennen wäre aber unseriös, weil da noch mehrere Faktoren eine Rolle spielen.


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Für eine solche Perspektive, wie ich sie soeben zu skizzieren versucht habe, brauchen wir unbedingt verbesserte Spielregeln. Alle haben hoffentlich begriffen, dass eine EU der 25 plus mit den Strukturen der EU der 12 nicht optimal, vielleicht nicht einmal zufrieden stellend, funktionieren kann.

Zur Lösung dieses Problems wurde ja der Verfassungskonvent einberufen, der in eindrucksvoller Weise den Entwurf eines Verfassungsvertrages erarbeitet hat.

Die Bereitschaft zu Kompromissen hat es letztlich auch allen Regierungen und dem Europaparlament ermöglicht, einem Text zuzustimmen, der zwar nicht jedem von uns jeden Wunsch erfüllt hat, aber der für das europäische Projekt insgesamt wichtig und nützlich ist bzw. wäre.

Negative Referenden in zwei europäischen Staaten haben nicht nur die Ampel zunächst auf rot gestellt, sondern haben auch die Europastimmung – und Stimmungen spielen nun einmal in der Politik eine wesentliche Rolle – stark getrübt.

Wir sind jetzt in einer Reflexionsphase, aber diese Reflexionen müssen sichtbar und hörbar gemacht werden, damit man zustimmen oder widersprechen kann.

Meine persönlichen Reflexionen führen mich zu der Überzeugung, dass es ein Fehler wäre, kleinmütig auf das Projekt des Verfassungsvertrages zu verzichten und dieses gewissermaßen zum Friedhof zu begleiten.

Ich glaube auch verstanden zu haben, dass es starke Argumente dagegen gibt, die ganze Prozedur von neuem in Angriff zu nehmen.

Somit teile ich die Meinung jener, die es für zweckmäßig halten, nach der Reflexionsphase die Ziele des Verfassungsvertrages, der ja auch mithelfen wird, das demokratisch-parlamentarische System der EU zu stärken, mit neuen Kräften wieder ins Auge zu fassen. Die österreichische Präsidentschaft ist bemüht, dafür gute Dienste zu leisten und den Boden aufzubereiten.

Herr Präsident!

Vorhin ist auch das Stichwort „Referendum“ gefallen.

Ich bin kein Anhänger einer plebiszitären Demokratie.

Wir gehen in Österreich mit Volksabstimmungen bewusst sehr, sehr sparsam um.

Aber wenn wir in Mitgliedsstaaten der EU für europäische Entscheidungen von sehr großer Tragweite fallweise das Instrument des Referendums verwenden oder verwenden wollen, dann scheint mir die derzeitige Situation, nämlich in manchen Ländern der EU ein Referendum abzuhalten und in anderen nicht, also ein sogenannter „Referendums-Fleckerlteppich“ (a sort of „patchwork“ of referenda) ziemlich unbefriedigend.

Da hielte ich persönlich es für besser, in einzelnen Fällen von ganz besonderer Bedeutung ein europaweites Referendum mit doppelter Mehrheit durchzuführen, wo das Ja erreicht ist, wenn die Mehrheit aller Abstimmenden und eine Mehrheit der Staaten zugestimmt hat.

Sollte dieser Gedanke in Europa grundsätzliche positive Resonanz finden, müsste man natürlich noch Einvernehmen über die Frage erzielen, auf welche Weise ein Beschluss zur Durchführung eines gesamteuropäischen Referendums zustande kommen kann.
   

Herr Präsident!

Ein Thema von zentraler Bedeutung, das ich unbedingt aufgreifen möchte, ist die Frage der sozialen Dimension, der Stellenwert der sozialen Komponente in der europäischen Politik.

Die Marktwirtschaft hat sich durchgesetzt in Europa.

Aber die Akzeptanz der Marktwirtschaft und auch die Akzeptanz des Europäischen Projektes erfordern eine Marktwirtschaft mit einer ausreichenden sozialen Komponente.

Das heißt eine soziale Marktwirtschaft, die den einzelnen Menschen nicht als bloßen Kostenfaktor betrachtet und dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet ist.

Der Begriff des „Humankapitals“ war mir immer schon verdächtig.

19 Millionen Arbeitslose sind nicht akzeptabel.

Die Reduzierung der Arbeitslosigkeit, die wie ein Mühlstein am Hals Europas hängt, muss ein vorrangiges nationales und europäisches Projekt sein, wenn wir die Akzeptanz des europäischen Modells nicht weiter gefährden, sondern erhöhen wollen.

Europa muss auf zwei Beinen stehen: einer gesunden Wirtschaft und einer gesunden sozialen Symmetrie.

In diesem Sinn würde ich es auch sehr begrüßen, wenn es Ihnen tatsächlich gelingt, in der Frage der Dienstleistungsrichtlinie für morgen einen Kompromiss zu beschließen, der auch auf Sorgen und Unbehagen der Arbeitnehmer und vieler Gewerbetreibender Rücksicht nimmt. Auch auf die Frage nach Kontrollmöglichkeiten und Durchsetzungsbefugnissen erscheinen mir praktikable Antworten wichtig.


Meine Damen und Herren!

Zu Beginn der österreichischen Präsidentschaft wurde nach Salzburg zu einer großen Europadiskussion unter dem Titel „Sound of Europe“ – nicht ohne Bezugnahme auf den 250.°Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart – eingeladen. Zuerst kamen die Politiker zu Wort, dann die Künstler.

Natürlich haben sich die Kunstschaffenden das Recht genommen, der Politik mit deutlichen Worten einen Spiegel ihrer Unvollkommenheiten vorzuhalten.

Nicht alles, was dabei gesagt wurde, hat mich überzeugt.

Aber eines ist jedenfalls wahr:

Die kulturelle Dimension des europäischen Projekts ist durch viele ungehobene Schätze charakterisiert und hat noch ungeahnte Reserven.

Europa kann heute wirtschaftlich mit den Vereinigten Staaten immer besser mithalten, ist aber – so sagt man – militärisch ein Zwerg – wobei mich Letzteres weniger irritiert als soziale Schieflage.

Aber sollten wir uns nicht stärker bewusst machen, wie diese Relationen im kulturellen Bereich aussehen?

Die Summe und Stetigkeit kultureller Leistungen Europas, von der Ilias bis zur Gegenwart, bildet einen unglaublichen Reichtum an Schätzen. Da müssen wir uns vor niemandem verstecken.

Nutzen wir diesen Reichtum auch für die Stärkung der europäischen Identität, für das Bewusstmachen von Gemeinsamkeiten, und vergessen wir nicht, dass die Moderne Kunst, das Kunstschaffen von heute, das kulturelle Erbe von morgen bilden wird.

Und was für die Kunst gilt, gilt auch für Bildung und Wissenschaft.

Vor weniger als zwei Wochen hat der deutsche Bundespräsident Horst Köhler sieben europäische Staatspräsidenten zu einem Dialog nach Dresden eingeladen. Zum Abschluss dieses Treffens wurde ein Gespräch mit Studierenden aus mehr als einem Dutzend Ländern organisiert. Diese Studierenden haben sich auf das sorgfältigste auf diese Begegnung vorbereitet, waren glühende und kompetente Europäer und haben uns ein „Dresdner Manifest“ überreicht, mit sehr konkreten Forderungen zum Thema Europa. Eine dieser Forderungen hat z.B. gelautet, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung nicht nur auf drei Prozent des Bruttonationalproduktes, sondern sogar auf fünf Prozent anzuheben; eine sicher sehr kühne, aber langfristig durchaus erstrebenswerte Zielsetzung, um in Europa tatsächlich eine Wissensgesellschaft aufzubauen.

Und noch etwas war in dem „Dresdner Manifest“ junger Studenten und Studentinnen aus vielen europäischen Ländern enthalten: die Forderung ein gemeinsames Haus der Europäischen Zeitgeschichte zu errichten, in dem über die Geschichte des 20. Jahrhunderts und über das Europa von heute objektiv berichtet wird und das europäische Projekt umfassend dargestellt wird, um das Verständnis für Europa zu erweitern.

Ich berichte darüber heute nicht nur deshalb, weil jungen Menschen damit bewiesen werden soll, dass ihre Wünsche und ihre Anliegen ernst genommen werden, indem ich sie vor diesem höchsten europäischen Forum vortrage, sondern weil Bildung und Forschung tatsächlich, wie Sie alle wissen, Produktionsfaktoren ganz besonderer Qualität sind. Man kann sagen, dass ist utopisch. Aber „die Existenz der Utopie ist die Voraussetzung dafür, dass die Utopie aufhört eine Utopie zu sein“, hat Martin Walser einmal geschrieben.

Zu der sehr konkret gewordenen europäischen Friedensutopie, zu der Utopie einer nachhaltigen und ökologisch verantwortungsvollen Wirtschaftsordnung muss eben auch die Kulturutopie und die Bildungsutopie im Sinne der Herausarbeitung konkreter Zielsetzungen und deren vorrangiger Verwirklichung hinzutreten.


Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Österreich hat nunmehr seit genau 1 ½ Monaten die Präsidentschaft in der EU inne, um sie Ende Juni in die verlässlichen Hände Finnlands zu übergeben, mit dem wir uns bestens abstimmen.

Bundeskanzler Dr. Schüssel hat dem Europäischen Parlament vor genau vier Wochen über die Ziele der Österreichischen Präsidentschaft berichtet.

Ich möchte nichts von dem wiederholen, was damals gesagt wurde, höchstens hinzufügen, dass sich auch in diesen vier Wochen viel ereignet und manches weiterentwickelt hat.

Das gilt z.B. für den Balkanschwerpunkt der österreichischen Präsidentschaft; aber auch die Vorbereitungen auf den EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel Mitte Mai in Wien machen Fortschritte.

Ganz besonders betroffen waren wir hingegen über die enormen Spannungen und über Gewaltakte, für die die so genannten Mohammed-Karikaturen als Auslöser genannt werden.

Zwei Positionen scheinen dabei unversöhnlich aufeinander zu prallen: Nämlich das Grundprinzip der Presse- und Meinungsfreiheit auf der einen Seite und das starke Bedürfnis nach Schutz religiöser Empfindungen und Werte andererseits.

Ich betrachte die Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle, auf das, was Menschen im wahrsten Sinne des Wortes heilig ist, als wichtiges Element im Zusammenleben von Menschen und Völkern und nicht als eine unzumutbare Einschränkung eines Grundrechtes. Wenn ein sogenanntes Abbildungsverbot ein wesentliches Element einer Religion bildet, dann soll und darf man nicht doppelt gegen diesen Grundsatz verstoßen, indem nicht nur das Abbildungsverbot durchbrochen wird, sondern durch eine karikierende Darstellung der kränkende Tabubruch noch verstärkt wird. So wie die unverzichtbare Freiheit der Kunst Gesetzesvorbehalte kennt und Rücksichtnahmen erfordert, gilt das auch für die journalistische Freiheit. Wenn auf einem Planeten Milliarden Menschen friedlich zusammenleben sollen, dann sind Respekt für die Werte anderer und gegenseitige Rücksichtnahme keine verzichtbaren Luxusartikel. Das gilt übrigens in jede Richtung.

Auf der anderen Seite sind Gewalt, das systematische Schüren von Gewalt oder Selbstjustiz sicher keine adäquaten Antworten. Ich achte und respektiere jene Moslems ganz besonders, die – wie z.B. in Österreich – ihrem Protest durch deutliche, aber friedliche Demonstrationen Ausdruck verliehen haben.

Und ich verurteile scharf und eindeutig das Verhalten von Regierungen, die es zulassen, dass diplomatische Vertretungen und schuldlose Menschen angegriffen und gefährdet werden. Wichtig bleiben jedenfalls die Bereitschaft und die ehrliche Absicht zur weiteren Intensivierung des Dialogs zwischen den Kulturen, zwischen den Religionen, zwischen den Zivilisationen, zwischen den Menschen. Dazu rufe ich alle Beteiligten auf.


Hohes Haus!

Lassen Sie mich zum Abschluss folgende Überzeugung formulieren:

Das europäische Projekt, das auf vielen Gemeinsamkeiten beruht, wird Erfolg haben. Wir haben daher das Recht und die Pflicht, die Zuversicht zu stärken, dass es gelingen wird aus dem „alten Europa“ und dem „neuen Europa“ das Europa der Zukunft zu schaffen.

Ich danke Ihnen, dass Sie mir Gelegenheit gegeben haben, von der wichtigen Tribüne des Europäischen Parlaments für diese Vision zu werben.
     
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