Wien (fwf) - Selbst bei gegenseitiger Abstoßung können Materieteilchen in einer Lösung zusammenklumpen.
Die Bedingungen, unter denen diese scheinbar widersprüchliche Clusterbildung erfolgt, wurden im Rahmen eines
Projekts des Wissenschaftsfonds FWF gefunden und jetzt veröffentlicht. Diese Ergebnisse aus der theoretischen
Physik haben grundlegende Bedeutung für das Verständnis der Wechselwirkung zwischen Polymeren - und etablieren
den noch jungen Wissenschaftszweig der "Weichen Materie" in Österreich.
Ob Milch oder Mayonnaise, ob Farben oder Tinte, ob Proteine oder DNA - sie alle gehören zur "Weichen
Materie". Ihre physikalischen Eigenschaften werden erst seit wenigen Jahren systematisch analysiert - mit
oftmals überraschenden Ergebnissen. Ein solches Resultat wurde jetzt von der Arbeitsgruppe um Prof. Gerhard
Kahl, Institut für Theoretische Physik, Technische Universität Wien gefunden und veröffentlicht.
Harte Fakten aus Weicher Materie
"Rein intuitiv betrachtet, können in einer Flüssigkeit Teilchen nur dann zusammenklumpen,
wenn sie sich anziehen," erläutert Prof. Kahl, "jetzt aber konnten wir zeigen, dass dies nicht immer
so sein muss. Auch Teilchen, die einander völlig abstoßen, können Cluster bilden." Die dafür
notwendigen Voraussetzungen können in einer bestimmten Art der "Weichen Materie", den kolloidalen
Dispersionen, gegeben sein. In solchen Systemen sind verhältnismäßig große Teilchen (z. B.
Polymere) in einem Lösungsmittel gelöst, das aus deutlich kleineren Teilchen aufgebaut ist.
Für solche Lösungen hat das Team mit KollegInnen der Universitäten Wien und Düsseldorf nun
Berechnungen durchgeführt, die eindeutig zeigen: Stoßen sich Teilchen gegenseitig ab, dann können
sie trotzdem zusammenklumpen, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens müssen sich die Teilchen
gegenseitig überlappen können, und zweitens müssen die abstoßenden Kräfte mit zunehmender
Entfernung zwischen den Teilchen sehr rasch geringer werden.
Sind diese Bedingungen erfüllt, dann kommt es zu dem scheinbar widersprüchlichen Verhalten der Teilchen.
Ihre überraschenden Voraussagen konnten Mag. Bianca Mladek und Dr. Dieter Gottwald, Mitarbeiter von Prof.
Kahl, mit komplexen Computersimulationen bestätigen. Die Übereinstimmung aus Vorhersage und Simulation
überzeugte dann auch die Gutachter der renommierten Fachzeitschrift Physical Review Letters, in der die Arbeit
nun veröffentlicht wurde.
Geordnete Verhältnisse unter Druck
Weitere unerwartete Ergebnisse konnten für das Verhalten der Teilchen unter Druckeinwirkung gefunden
werden. "Unter höherem Druck", so Prof. Kahl, "ordnen sich die Cluster in Kristallen an. Noch
mehr erstaunt haben uns die Ergebnisse zusätzlicher Untersuchungen. Diese zeigen nämlich, dass bei weiterer
Kompression der Abstand zwischen den kristallin geordneten Clustern konstant bleibt, eine Eigenschaft, die durch
die Ansammlung von mehr und mehr Teilchen in den Clustern ermöglicht wird." Diese Ergebnisse stehen im
Gegensatz zum Verhalten anderer geordneter Systeme wie metallischer Festkörper, in denen sich unter Druck
die Gitterabstände verringern.
Solche Berechnungen waren auf Grund der hohen Komplexität kolloidaler Dispersionen nur durch mathematische
Tricks möglich. Dazu Prof. Kahl: "Die statistische Mechanik ist Grundlage unserer Berechnungen an Weicher
Materie. Allerdings stellt die große Zahl an Freiheitsgraden der größeren Teilchen der Dispersionen
ein Problem dar. Durch geeignete Mittelung konnten wir die Zahl der Freiheitsgrade drastisch reduzieren, sodass
die Berechnung des Verhaltens der Teilchen nur noch von einer kleinen Zahl von Koordinaten abhängt."
Für Prof. Kahl sind die so gewonnenen und z. T. sehr unerwarteten Ergebnisse illustrative Beispiele dafür,
dass die Natur eine große Vielfalt an Lösungen anbietet, um Teilchen energetisch optimal anzuordnen
- und viele dieser Lösungen sind noch unbekannt. Das Projekt des FWF trägt nicht nur dazu bei, der Natur
einige dieser Geheimnisse zu entlocken, sondern hilft auch, den noch neuen Forschungsbereich der "Weichen
Materie" in Österreich zu etablieren.
Originalpublikation: Formation of Polymorphic Cluster Phases for a Class of Models of Purely Repulsive Soft
Spheres. B. M. Mladek, D. Gottwald, G. Kahl, M. Neumann und C. N. Likos. Physical Review Letters 96, 045701 (2006).
DOI: 10.1103/PhysRevLett.96.045701 |