Hirnforschung sucht nach Antworten
Wien (pr & d) - Wie verarbeiten wir Zahlen? Der komplexen Antwort auf diese scheinbar simple
Frage nähert sich ein neues Projekt des Wissenschaftsfonds FWF an. Das Projekt baut dabei auf jüngste
Ergebnisse einer Arbeitsgruppe aus Innsbruck. Diese belegen, dass Kinder und Erwachsene Zahlen zwar gleich gut
verarbeiten, dafür aber jeweils andere Regionen des Hirns nutzen. Im neuen Projekt werden nun die Hirnaktivitäten
von Kindern mit und ohne Rechenstörungen verglichen und so noch detailliertere Erkenntnisse über die
Vorgänge bei der numerischen und räumlichen Mengenverarbeitung von Kindern geschaffen.
Was ist mehr: 15 Smarties oder 5 Spielzeug-Autos? Selbst wenn die Bedeutung von "mehr" auf die Anzahl
der Objekte reduziert wird, erfordert die Beantwortung dieser Frage eine beachtliche Abstraktionsleistung unseres
Hirns. Denn die räumliche Ausdehnung der Objekte muss von ihrer Anzahl getrennt werden. 15 Smarties nehmen
zwar weniger Raum ein, sind aber trotzdem "mehr" als 5 Spielzeug-Autos.Rechnen ist Teamwork Für
Dr. Liane Kaufmann, Medizinische Universität Innsbruck, Klinische Abteilung für Allgemeine Pädiatrie,
ist die Beantwortung einer solchen Frage ein typisches Zahlenproblem. Dazu Dr. Kaufmann: "Für das Hirn
ist Rechnen ein Mannschaftssport. Denn gute Rechenfertigkeiten erfordern das reibungslose Zusammenspiel verschiedener
Funktionsbereiche. Mathematische Aufgaben erfordern nicht nur numerische Fähigkeiten, sondern auch nicht-numerische,
wie zum Beispiel räumliche Denkprozesse."
Dieses Zusammenspiel, so zeigen jetzt veröffentlichte Daten des Teams um Dr. Kaufmann, ändert sich aber
im Laufe der Entwicklung eines Menschen. Selbst zur Lösung einfacher Zahlenprobleme werden beim Erwachsenen
andere Hirnareale aktiviert als bei Kindern. Nutzen die Erwachsenen vornehmlich die seitlichen Areale, sind es
bei den Kindern die frontalen Hirnregionen. Für Dr. Kaufmann ein klarer Hinweis auf die wesentlich komplexer
ablaufende Informationsverarbeitung bei Kindern, die sich aber überraschenderweise nicht auf die Geschwindigkeit
und Genauigkeit der Problemlösungen auswirken.Manchmal rechnet sich's nicht Zur weiteren Erforschung der Hirnaktivitäten
nützt Dr. Kaufmann ihren Hertha-Firnberg-Preis des Jahres 2005. Dieser erlaubt ihr, ein spezielles Augenmerk
auf Kinder mit ausgeprägten Rechenstörungen zu richten. Dieses als Dyskalkulie bezeichnete Phänomen
ist tatsächlich ebenso häufig wie Lese-Rechtschreib-Störungen (z.B. Dyslexie oder Legasthenie).
Drei bis sechs Prozent der Grundschüler sind betroffen. Die Ursachen von Dyskalkulien sind zwar vielfältig,
doch konzentriert Dr. Kaufmann ihre Untersuchungen auf jene Form, die mit bestimmten Erberkrankungen einhergeht.
Dazu Dr. Kaufmann: "Seit einiger Zeit wissen wir, dass bestimmte genetische Störungen wie das Turner-Syndrom,
das Fragile-X-Syndrom und das Williams-Syndrom als häufiges Begleitsymptom auch Rechenstörungen aufweisen.
Da die betroffenen Personen auch Probleme mit dem räumlichen Mengenverständnis haben, können wir
durch genaues Beobachten ihrer Hirnaktivitäten viel über die Zusammenhänge zwischen diesen beiden
Fähigkeiten lernen."
Wesentliches Werkzeug für die Arbeiten der Gruppe um Dr. Kaufmann ist die funktionelle Magnetresonanztomographie.
Diese Methode erlaubt die Visualisierung des Sauerstoffverbrauchs von Hirnzellen und liefert damit ein Bild der
Aktivitäten verschiedener Hirnareale. Zusammen mit der Analyse von Verhaltensdaten wie der Genauigkeit und
Geschwindigkeit bei der Lösung von Zahlenproblemen können so Rückschlüsse auf die funktionelle
Koordination verschiedener Hirnbereiche gezogen werden. Dabei vergleicht Dr. Kaufmann in ihrer umfassenden Analyse
Kinder mit und ohne Rechenstörungen. Zusätzlich differenziert sie zwischen erblich bedingten Dyskalkulien
und solchen, die als isolierte Lernstörungen ohne organische Befunde auftreten.
Das nun begonnene FWF-Projekt wird mit seiner Fragestellung zu einem besseren Verständnis der funktionellen
Organisation unseres Hirns und der Vorgänge während der Zahlenverarbeitung und des Rechnens beitragen.
Zusätzlich sollen die Ergebnisse auch ein Ansatzpunkt für die Planung von effektiven Interventionsprogrammen
für Kinder mit Dyskalkulie sein. |