Rede des österreichischen Bundeskanzlers und Präsidenten des Europäischen Rates,
Dr. Wolfgang Schüssel, vor dem Europäischen Parlament
Straßburg (bpd) - Rhetorik alleine genügt nicht für Europa. Wir brauchen Resultate
und Aktionen, ganz Sinne von Robert Schuman, der gesagt hat, Europa wird nicht an einem Tag sondern durch die Tat
gebaut. Wahrscheinlich hat er damit sogar den Plural, Taten, gemeint. Wir haben beim Frühjahrsgipfel einige
wichtige institutionelle Änderungen vorgenommen. Erstmals waren die europäischen Sozialpartner in den
Gipfel eingebunden. Der Präsident des Europäischen Gewerkschaftsbundes, Mendez, sowie der Präsident
der UNICE, Ernest-Antoine Seilliere, haben an den Beratungen teilgenommen, ebenso erstmals der Präsident der
Europäischen Zentralbank. Auch Parlamentspräsident Josep Borell hat eine wichtige Stimme, nämlich
die des Europaparlaments, in die Diskussion eingebracht.
Wir haben uns bei diesem Gipfel konkrete Ziele gesetzt. Viele dieser Ziele waren im Vorfeld sehr umstritten, wir
haben uns aber nicht entmutigen lassen und präzise Ziele verankert in den Bereichen Arbeit und Wachstum, und
der Verbesserung der Beschäftigungslage für die derzeit 18 Millionen Arbeitslosen in Europa. Hier wollen
wir uns auf die nationalen Reformprogramme konzentrieren und ein höheres Beschäftigungswachstum von jährlich
1% erzielen. Das würde jährlich eine Reduktion der Arbeitslosenzahlen um 2 Millionen bedeuten, und damit
in den kommenden fünf Jahren 10 Millionen Jobs schaffen. Wir wollen uns auch bewusst auf die Jugend konzentrieren:
25% der Jugendlichen sollen eine höhere Ausbildung absolvieren, wir wollen die Zahl der Schulabbrecher auf
zehn Prozent senken. Jedem jungen Menschen wollen wir bereits ab nächstem Jahr anbieten, innerhalb von 6 Monaten
einen Job, eine Lehrstelle oder eine Weiterbildungsmöglichkeit zu erhalten. Später soll dieser Zeitraum
auf 4 Monate reduziert werden. Wir haben auch verstärkte Anstrengungen zur Gleichstellung der Geschlechter
in der Arbeitwelt beschlossen und uns mit der Frage der Flexicurity intensiv auseinander gesetzt. Auch der Globalisierungsfonds
der Kommission wurde angesprochen, als ein vernünftiges Instrument, um Arbeitnehmern, die mit Problemen im
Zuge der weltweiten Globalisierung zu kämpfen haben, eine Um- und Weiterbildung zu ermöglichen.
Wie kann man das erreichen? Wir wollen uns auf die KMU konzentrieren, die in der Vergangenheit eher stiefmütterlich
behandelt wurde. Wie können wir den insgesamt 23 Millionen Klein- und Mittelbetrieben in Europa das Leben
erleichtern? Das geht beispielsweise über eine Verkürzung der Behördenverfahren und eine Streichung
der überzähligen administrativen Vorschriften. Die Kommission liefert hier mit ihrem Programm zu Better
Regulation, das der niederländischen Programmatik nachgebildet ist, sehr wesentliche und hilfreiche Unterstützung.
Wir haben uns konkret überlegt, dass Jungunternehmer ihren Betrieb binnen einer Woche gründen können
sollen. Eine Anlaufstelle soll sicherstellen, dass KMU nicht zu hundert Behörden müssen, sondern so rasch
wie möglich etwas unternehmen können. Ich danke an dieser Stelle vor allem auch der Kommission für
ihre Bereitschaft, die "de minimis"-Schwelle hinauf zu setzen und zu verdoppeln. Damit wird auch eine
finanzielle Förderung der KMU wesentlich erleichtert. Wir stellen auch über die EIB 30 Mrd. Euro zusätzlich
für gestützte Kredite und Haftungen zur Verfügung, damit die KMU ihren Beitrag für mehr Arbeitsplätze
leisten können.
Das dritte Thema ist Wissen und Forschung. Mit unserem Lohnniveau in Europa können wir im Wettbewerb nur bestehen,
wenn wir mehr für Forschung und Wissen tun. Dieses Ziel haben wir in Europa zwar schon im Jahr 2000 fixiert,
es aber nicht eingehalten. Daher haben wir in die Schlussfolgerungen des Frühjahrsgipfels einen Annex aufgenommen,
mit dem jedes Land seine eigenen Selbstverpflichtungen überprüfen kann, um bis 2010 das Ziel von 3% des
BIP für Forschungsausgaben zu erreichen. Wenn uns das gelingt, dann bedeutet das, dass pro Jahr 100 Milliarden
Euro für Forschung investiert werden können. Das ist der gewaltigste Wachstumsschub, den es überhaupt
geben kann.
Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Rat die Idee der Kommission unterstützt, ein
Europäisches Institut für Technologie zu schaffen. Diese Idee war bei vielen Mitgliedstaaten zunächst
sehr umstritten. Manche fürchteten Parallelbürokratien, oder dass bestehende Exzellenzeinrichtungen zu
kurz kommen. Ich unterstütze diese Idee aber vollinhaltlich. Das EIT soll ein Bindeglied zwischen Forschung
und Innovation, den Anwendern, den Universitäten und der Wirtschaft werden. Keine Superbehörde, aber
ein perfekt ausgebautes Netzwerk. Ich gratuliere Jose Manuel Barroso und der Kommission für ihre Idee, und
wir erwarten uns konkrete legistische Vorschläge bis Juni dieses Jahres.
Hier ein kurzer Hinweis auch auf das Budget: Wir haben uns verpflichtet für den Bereich des Lebenslangen Lernens
und der Austauschprogramme wesentlich mehr Geld zu geben, nämlich 800 Mio. Euro zusätzlich. Das ist ein
interessanter und wichtiger Impuls für die Jugend. Ich habe verschiedene Studien gelesen, warum wir die Lissabon-Ziele
bisher nicht erreicht haben: Zu wenig 'national ownership', das bedeutet, dass sich in den Mitgliedstaaten zu wenige
verantwortlich fühlen. In Österreich sind wir deshalb mit gutem Beispiel vorangegangen und haben im Ministerrat
in dieser Woche den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit als politischen Koordinator bestellt. Ich werde
jeden Mitgliedstaat einladen, diesem Beispiel zu folgen, damit die Vertreter im Wettbewerbsrat die Umsetzung der
selbst gesetzten Ziele beobachten können, damit unsere Zielsetzungen auch Wirklichkeit werden können. |
Zum Thema Energiepolitik:
Beim Frühjahrsgipfel hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel auf meine Bitte hin die Einleitung zu
diesem Thema übernommen, wofür ich ihr danken möchte. Ich möchte an dieser Stelle aber auch
dem britischen Premierminister Tony Blair danken, der bereits in Hampton Court den Startschuss für dieses
Thema gegeben hatte. Der Jänner dieses Jahres war für uns alle ein Weckruf, ein Alarmsignal. Die Russen
haben in der ersten Nacht des Jänner ihre Energielieferungen um 30 Prozent und in der zweiten Nacht um 50
Prozent gekürzt. Die österreichische Ratspräsidentschaft hat gemeinsam mit der Kommission in den
ersten Tagen diese Krise entschärfen können, aber die Probleme sind noch immer vorhanden. Fast alle Produzenten
leben in politischen Krisengebieten, wir sind mit schwankenden Rohstoffpreisen, einer zu geringen Diversifizierung
konfrontiert. Zu manchen Zeiten besteht in Europa höchste Blackoutgefahr. Wir sind mit dem Klimawandel und
gestiegenen Sicherheitsrisiken konfrontiert. Das alles schreit geradezu nach einer neuen europäischen Kraftanstrengung.
Die Kommission hat hier mit ihrem Grünbuch ausgezeichnete Vorarbeit geleistet. Wir haben uns beim Frühjahrsgipfel
auf drei Kernbereiche konzentriert: Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Umweltverträglichkeit.
Als erstes Ziel haben wir eine zwanzigprozentige Energieeinsparung für die kommenden Jahre festgelegt. Das
heißt, dass die Union zum ersten Mal das Wirtschaftswachstum und den Energieverbrauch nachhaltig entkoppeln
will. Das ist aus meiner Sicht einer der wichtigsten Beschlüsse dieses Gipfels.
Weiters wollen wir den Anteil der erneuerbaren Energien von 7 auf 15 Prozent anheben. Um dieses Ziel zu erreichen,
müssen wir viel tun. Auch die Biokraftstoffe sollen von 2% auf 8% angehoben werden. Das geht nur mit mehr
Forschung. Hier sind viele Partner beteiligt, unter anderem auch die Automobilhersteller oder die Cars21-Gruppe.
Die Anhebung des Biokraftstoffanteils birgt aber auch enorme Wachstumschancen.
Ein weiterer Punkt war der grenzüberschreitende Stromhandel, hier wollen wir einen Anteil von 10% zwischen
den Netzen erreichen, was auch die Blackoutgefahr wesentlich verringern würde. In den Pipelines, Netzwerken
und den Kraftwerken selbst liegt ein enormes wirtschaftliches Potential, hier steckt ein Investitionsvolumen von
800-1000 Mrd. Euro drinnen, meist privates Kapital. Klug genützt, wäre das ein ungeheurer Jobmotor für
Europa.
Wir haben bei dem Gipfel auch in einer ruhigen, aber sehr intensiven Weise über ein weiteres Thema debattiert:
Es darf keinen Protektionismus in Europa geben. Die Zeiten sind vorbei, wo jeder alleine einen "national champion"
kreieren kann. Wir brauchen eine Öffnung der Märkte und haben daher auch die Öffnung der Strom-
und Gasmärkte bis 2007 beschlossen. Die Kommission hat dafür die Instrumente und soll sie auch anwenden.
Die Kommission soll darauf achten, dass für die Konsumenten die Versorgungssicherheit garantiert ist.
Ich möchte aber auch ausdrücklich darauf hinweisen, dass in jedem Fall die Wahl des jeweiligen Energiemittels,
also des Energiemix nationale Verantwortung bleibt. Jedes Land muss wissen, ob es Atomkraftwerke haben will oder
nicht. Österreich hat hier seine eigene und klare Position und will keine Atomkraft haben. Das muss garantiert
werden.
Wir dürfen die Energiepolitik aber nicht nur aus einem wirtschaftlichen Gesichtspunkt betrachten, sondern
müssen sie auch im Kontext mit der Außenpolitik sehen. Wir haben daher die Kommission aufgefordert,
bis Juni gemeinsam mit dem Hohen Vertreter für die GASP, Javier Solana, ein Strategiepapier über die
außenpolitische Situation der Energiepolitik vorzulegen. Rückblickend wird man diese Diskussion und
die Entscheidungen des Frühjahrsgipfels als Durchbruch zu einer echten Gemeinsamen Europäischen Energiepolitik
sehen. Und wir werden in jedem Semester auf dieses Thema zurückkommen.
Ein weiteres sehr bedeutsames Thema dieses Gipfels war die Dienstleistungsrichtlinie: Ich habe sehr viel Anstrengung
und Überzeugungsarbeit mit allen Staats- und Regierungschefs darauf verwandt, dass der Gipfel den demokratisch
und mit einer breiten Mehrheit gefassten Beschluss des Parlaments aus erster Lesung zur Dienstleistungsrichtlinie
annimmt.
Auch der gestern vorgelegte Vorschlag der Kommission entspricht diesem Beschluss des Parlaments. ich bitte Sie
nun um ein beschleunigtes Verfahren, damit wir rasch zu einer gemeinsamen Beschlussfassung in zweiter Lesung kommen.
Ich danke auch den europäischen Sozialpartnern und weiß, dass dieser Kompromiss vor allem für die
Arbeitgebervertretungen nicht einfach zu akzeptieren war. Wir haben einen Durchbruch bei der Dienstleistungsrichtlinie
erzielt. Jetzt brauchen wir ein ähnliches Engagement bei der Arbeitszeitrichtlinie. Es ist wichtig und gut,
wenn wir auch hier weiterkommen. Wir werden aber Fingerspitzengefühl brauchen, um die verschiedenen nationalen
Besonderheiten abzudecken. Es ist aber in jedem Fall besser, einen vernünftigen Kompromiss als keine Lösung
zu erzielen.
Neben der Dienstleistungsrichtlinie und der Arbeitszeitrichtlinie stellt auch das Mehrjahresbudget einen wirklichen
Fortschritt für die Union dar.
Es geht um ein Budget für sieben Jahre, es geht um Rechtssicherheit für die EU-Programme. Es geht aber
auch darum, dass vor allem die neuen Mitgliedstaaten das umsetzen können, worauf sie hoffen. Ich danke für
das Verständnis, dass wir alle an das Ganze und nicht an Partikularinteressen gedacht haben. Auch ich selbst
habe manche eigene Red Line in den Verhandlungen überschreiten müssen. Es gab hier sehr viel Engagement
der österreichischen Ratspräsidentschaft, von mir selbst, der Außenministerin, vom Finanzminister,
in zahlreichen und engen Kontakten mit den Regierungen, dem Kommissionspräsidenten Barroso und auch dem Präsidenten
des Europaparlaments Josep Borell. Wir haben uns nahe am Dezemberkompromiss halten müssen. Wir konnten 3,5
Mrd. Euro an neuem Geld anbieten, das Europaparlament wollte 4 Mrd. Ganz im Sinne einer Teampräsidentschaft
hat die Kommission uns dann am Ende geholfen und 500 Mio. aus Umschichtungen aufgebracht. Damit kann das Europaparlament
seine 4 Mrd. Euro erhalten.
Wir werden eine 1 Mrd. Euro mehr zur Stärkung der GASP aufbringen, 5 Mrd. Euro für die Projekte der Lissabon
Strategie, die zur Hälfte aus dem Budget und zur Hälfte Cash von der EIB kommen. Da ist viel in Bewegung
gekommen. Wir können aus ehrlichem Herzen den Kompromiss zur Annahme empfehlen. Wir haben etwas erreicht,
das wir absolut nach außen vertreten können.
Außenpolitisch möchte ich noch einige Punkte klarstellen: Wir haben in den vergangenen Monaten viel
Krisenmanagement betreiben müssen: Zur Vogelgrippe, zur Gaskrise, zum Karikaturenstreit. Heute, da ich den
weißrussischen Oppositionsführer Alexander Milinkevich auf der Tribüne sehe, möchte ich aber
etwas zu Weißrussland sagen: Ich hatte gestern die Ehre und das Vergnügen, ein langes Gespräch
mit Milinkevich führen zu können. Er und die weißrussische Bevölkerung verdienen von uns jede
erdenkliche finanzielle, wirtschaftliche und politische Unterstützung, die auch und vor allem aus den politischen
Parteienfamilien kommen sollte. Hunderte Menschen sitzen im Gefängnis, Arbeiter haben ihre Jobs verloren.
Einige Staaten wie beispielsweise die Visegrad-Gruppe haben sich zusammengetan und bieten jetzt Stipendien für
Studenten an, die ihre Studienzulassung in Weißrussland verloren haben. Wir alle müssen gemeinsam unsere
Stimme erheben für die Freilassung der Gefangenen, inklusive des Präsidentschaftskandidaten Kozulin.
Die Europäische Union ist nicht daran interessiert, die weißrussische Bevölkerung zu isolieren.
Wir werden die restriktiven Maßnahmen gegen das Regime aber so lange aufrechterhalten, so lange die autoritären
Methoden anhalten.
Vor uns liegen noch drei Monate Präsidentschaft: Das bedeutet viel Arbeit. Ich vertraue auch weiterhin auf
den sehr engen und guten Kontakt und die gute Kooperation mit dem Europäischen Parlament. Ich vertraue darauf,
dass Sie sich auch einbringen werden, auch kritisch einbringen werden, wenn Sie Ideen und Vorschläge haben.
Ich verspreche Ihnen meine absolute Kooperation. Ich will mit der österreichischen Präsidentschaft auf
Ratsebene noch viel weiterbringen. Ohne viel Donnerhall, aber mit vielen Resultaten. Das ist mein Programm und
da kann ich auch aus der ersten Hälfte bereits durchaus einiges vorweisen. |