Deblockierung in der Frage des Verfassungsvertrags momentan nicht realistisch
St. Pölten (bmaa) - „Diese Subsidiaritätskonferenz ist ein Frischeschub, eine Konferenz
der Muntermacher und der Mutmacher. Das ist genau das, was wir derzeit in Europa brauchen. Eine Fülle an Goldkörnern
wurde hier ausgebreitet, eine Fülle von umsetzbaren konkreten Vorschlägen formuliert. Subsidiarität
ist der Klebstoff zwischen den verschiedenen Ebenen des europäischen Geschehens. Dies bedarf aber auch der
Kontrolle“, betonte Außenministerin Ursula Plassnik in ihrem Eröffnungsstatement im Rahmen der Europäischen
Subsidiaritätskonferenz „Europa fängt zu Hause an“. „Die Europäische Union ist eine lernfähige
Organisation. Das Potential für ein besseres und respektvolleres Zusammenwirken der verschiedenen Ebene in
dieser neuen Europäischen Union ist noch lange nicht erschöpft. Wir müssen Europa als Kontinent
der Zuversicht betrachten, denn unsere eigene Verzagtheit ist das größte Hindernis für ein gutes
Fortkommen des Europäischen Projekts“, so Plassnik weiter. Die Ratsvorsitzende und Außenministerin versprach
die zahlreichen Anregungen aufzugreifen und im Rat für Außenbeziehungen zu thematisieren.
Die Inhalte dieser Konferenz entsprechen den Schwerpunktsetzungen des österreichischen Ratsvorsitzes, betonte
Plassnik. „Unser Schwerpunkt liegt in der Stärkung des Vertrauens. Wir sind auf der Suche nach "vertrauensstärkenden
Substanzen". Die Subsidiarität gehört zweifellos dazu“, präzisierte die Ratsvorsitzende. "Auch
wenn Subsidiarität ein sperriger Begriff ist - die Bürgerinnen und Bürger verstehen genau, worum
es geht", zeigte sich Plassnik zuversichtlich. „Subsidiarität entspricht einer praktischen Lebenserfahrung.
Sie entspricht der Erfahrung, die jeder von uns in seiner Familie, an seinem Arbeitsplatz, in seiner näheren
Umgebung, in seiner Gemeinde macht. Wir müssen dort Regulierungen schaffen, wo es Sinn macht, wo es überschaubar
ist und wo ein Mehrwert erzielt werden kann“, so Plassnik
In ihrer Einleitung ging die Außenministerin auch auf das geplante informelle Treffen der Außenminister
zur Zukunftsdebatte ein. „Wir müssen realistisch sein. Wir sollten uns selbst vor Illusionen hüten und
keine Illusionsbewirtschaftung betreiben. Hier möchte ich ganz klar warnen: Es ist nicht realistisch anzunehmen,
dass unter österreichischer Präsidentschaft, etwa im Juni, eine Deblockierung in der Frage des Verfassungsvertrags
erfolgen kann. Das liegt nicht etwa am mangelnden Einsatz oder am mangelnden Willen des österreichischen Vorsitzes,
sondern vielmehr liegt es daran, dass die Diskussion in einigen Mitgliedstaaten noch nicht ausgereift ist, und
deshalb eine Lösung in der Sache momentan nicht möglich ist. Das bedeutet aber alles andere als Schweigen
und Diskussionsverweigerung. Denn eben dies würde ich für einen Giftstoff und keine vertrauensstärkende
Vorgangsweise ansehen. Wir müssen miteinander reden und wir dürfen keine Scheu auch vor schwierigen Fragen
zeigen“, betonte Plassnik. |
Erklärung der Vorsitzenden
- Als Teil der europäischen Zukunftsdebatte veranstaltete der österreichische EU-Ratsvorsitz am 18.
und 19. April 2006 gemeinsam mit dem österreichischen Parlament und dem Bundesland Niederösterreich die
Europäische Subsidiaritätskonferenz 2006 „Europa fängt zu Hause an“. Vertreterinnen und Vertreter
der EU-Mitgliedstaaten sowie der EU-Institutionen diskutierten gemeinsam mit Expertinnen und Experten über
Mittel und Wege, eine effektivere Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im europäischen Rechtsetzungsprozess
zu erreichen und dadurch einen Beitrag zu mehr Bürgernähe zu leisten.
- Wenn das europäische Projekt auch in Zukunft erfolgreich sein soll, müssen die Bürgerinnen und
Bürger wieder mehr Vertrauen in die EU gewinnen. Dazu müssen sich die Menschen in Europa wieder besser
mit dem europäischen Integrationsprozess identifizieren können. Eine starke Union, die vom Willen ihrer
Bürgerinnen und Bürger getragen wird, muss ihre Entscheidungen bürgernahe und für die Bürger
verständlich treffen und bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben das richtige Gleichgewicht zwischen der EU und
ihren Mitgliedstaaten zu finden.
- Die EU kann – so steht es in ihren Gründungsverträgen - nur dort tätig werden, wo ihr die Mitgliedstaaten
ausdrücklich eine Befugnis dazu übertragen haben. Im Zweifelsfall sind die Mitgliedstaaten zuständig
- nicht die Union. Wo auch immer die EU keine ausschließliche Zuständigkeit hat, gilt das Subsidiaritätsprinzip,
d.h. die Union kann nur tätig werden, wenn sie im Vergleich zu den Mitgliedstaaten einen Mehrwert erzielen
kann. Damit ist der Grundsatz der Subsidiarität auch ein Garant für die Erhaltung der nationalen und
regionalen Identität, Kultur und Eigenständigkeit.
- In sämtlichen Phasen des europäischen Rechtsetzungsprozesses muss sowohl durch europäische als
auch durch nationale Akteure überwacht werden, dass die Grundsätze von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit
respektiert werden. Im Einzelfall muss die Einhaltung des Grundgedankens der Subsidiarität auch gerichtlich
kontrolliert werden können.
- Die Regionen und Gemeinden tragen eine Mitverantwortung für eine bürgernahe europäische Politik.
Sie haben den direkten Kontakt zur Bevölkerung und sind dadurch in der Lage, die Anliegen und Sorgen der Bürgerinnen
und Bürger in den europäischen Rechtsetzungsprozess einzubringen. Sie sollen im Dialog mit den Bürgerinnen
und Bürgern den Europagedanken, die Bedeutung und die Ziele der EU noch mehr als bisher bewusst machen und
dazu beizutragen, dass sich die Menschen mit Europa und seiner Rechtsordnung identifizieren können.
- Die Europäische Kommission wird eingeladen, die Regionen und Gemeinden verstärkt und möglichst
frühzeitig bei der Vorbereitung von Rechtsetzungsvorschlägen einzubinden, damit europäische Regelungen
bürgernahe formuliert werden. Sie wird weiters ersucht, im Rahmen ihrer Folgenabschätzungen auch die
Auswirkungen eines Rechtsetzungsvorschlages auf die lokale und regionale Ebene zu berücksichtigen. Der Ausschuss
der Regionen wird eingeladen, sein Subsidiaritätskontrollnetzwerk weiter zu entwickeln, damit die Ergebnisse
seiner Subsidiaritätsprüfungen bei der Formulierung europäischer Rechtsakte so weit wie möglich
berücksichtigt werden können.
- Die europäischen, nationalen und regionalen Ausbildungsstätten für den öffentlichen Dienst
werden eingeladen, ihre Fortbildungsprogramme zum europäischen Rechtsetzungsprozess stärker zu vernetzen
und dabei den Subsidiaritätsgedanken und das partnerschaftliche Kooperieren aller Ebenen im Interesse der
Bürger zu betonen.
- Die Bemühungen um eine Verbesserung der rechtlichen Möglichkeiten zur interregionalen Zusammenarbeit
in Europa müssen als Beitrag zur Stärkung der lokalen und regionalen Komponente und als bewährtes
Instrument des friedlichen grenzüberschreitenden Kooperierens gezielt fortgesetzt werden.
- Den nationalen Parlamente stehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten offen, an der EU-Rechtsetzung mitzuwirken:
einerseits über ihre nationalen Regierungen, andererseits durch die direkte Prüfung der Rechtsetzungsinitiativen
der EU-Institutionen.
- Die nationalen Parlamente sind aufgerufen, die Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Subsidiaritätsprüfung,
die ihnen die Protokolle zum Vertrag von Amsterdam einräumen, voll auszuschöpfen.
- Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente sollten in regelmäßigen Abständen
parallel zueinander die von den EU-Institutionen geplanten Rechtsakte im Hinblick auf das Subsidiaritäts-
und Verhältnismäßigkeitsprinzip prüfen.
- Auf der Grundlage des geltenden EU-Rechts wird auch die Europäische Kommission ersucht, ihre Rechtsetzungsvorschläge
nicht nur den europäischen Institutionen, sondern zeitgleich auch den nationalen Parlamenten zuzuleiten, und
sie einer neuerlichen Überprüfung zu unterziehen, falls eine repräsentative Anzahl von nationalen
Parlamenten begründete Zweifel an deren Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip vorbringt.
- Die Mitgliedstaaten werden eingeladen, zu prüfen, wie sie ihren nationalen Parlamenten die Möglichkeit
einräumen können, im Falle einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips über ihre Regierungen
den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anzurufen.
- Die nationalen und regionalen Parlamente haben in ihren jeweiligen Rechtsordnungen unterschiedliche Wege und
Prozesse für die Subsidiaritätsprüfung. Dennoch können der laufende Erfahrungsaustausch und
die gemeinsame Suche nach „best practices“ eine wichtige Rolle spielen. Die nationalen Parlamente werden ermuntert,
ihre Zusammenarbeit bei der Subsidiaritätsprüfung im Rahmen der Konferenz der Europaausschüsse (COSAC)
weiter auszubauen. Die regionalen Parlamente werden weiters ermuntert, ihre diesbezügliche Zusammenarbeit
im Rahmen des Ausschusses der Regionen verstärkt fortzusetzen.
- Die Initiativen der Europäischen Kommission zur Verbesserung der Qualität europäischer Rechtsakte
werden als Beitrag zu einer europaweiten Subsidiaritätskultur ausdrücklich begrüßt. Vermehrtes
Augenmerk wäre darüber hinaus auch der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei
der Vollziehung von Gemeinschaftsrecht zu schenken.
- Die Europäische Kommission ist aufgerufen, bei der Prüfung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
im Rahmen ihrer Folgenabschätzungen noch mehr als bisher auf objektiv nachvollziehbare Daten und Fakten abzustellen
und dies in die Begründungen für ihre Rechtsetzungsvorschläge aufzunehmen. Zudem wird sie ermuntert,
die von ihr entwickelte Methode zur Messung administrativer Belastungen für Bürgerinnen und Bürger
sowie Unternehmen konsequent weiter einzusetzen.
- Auch im Rahmen der Vereinfachung des europäischen Rechtsbestandes sollte verstärkt geprüft werden,
ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten wurden. Um
die administrativen Lasten für die Wirtschaft wie auch für die Bürgerinnen und Bürger möglichst
gering zu halten, sind die Mitgliedstaaten aufgerufen, auch auf nationaler Ebene Initiativen zum Bürokratieabbau
zu setzen.
- Der Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission werden eingeladen, einen einheitlichen
Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeits-Prüfbogen für das Rechtsetzungsverfahren
zu entwickeln. Damit könnte die europäische Rechtsetzung besser auf jene Bereiche konzentriert werden,
in denen sie deutliche Vorteile gegenüber einzelstaatlichem Handeln erbringen kann. Der Prüfbogen kann
dann auch als Grundlage für die Subsidiaritätsprüfung durch die nationalen Parlamente dienen.
- Wenn die Einhaltung von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit nach klaren Kriterien untersucht
wird, dann lässt sie sich auch leichter gerichtlich überprüfen. Der EuGH nimmt bei der Auslegung
und Überprüfung der Einhaltung des europäischen Rechts eine zentrale Rolle ein. Ergänzend zu
den Bemühungen des Rates, des Europäischen Parlaments und der Kommission um eine verstärkte Berücksichtigung
des Subsidiaritätsprinzips wird der EuGH ermutigt, dem Vorbringen von Verfahrensbeteiligten betreffend die
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips bei seiner Entscheidungsfindung besondere Beachtung zu schenken.
- Es wäre zu begrüßen, wenn sich der EuGH vermehrt mit Argumenten von Mitgliedstaaten auseinander
setzt, die sich auf die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen einer möglichen Entscheidung
beziehen. Der bevorstehenden Entscheidung des EuGH in einem Verfahren, welches sich mit der zeitlichen Rückwirkung
von Vorabentscheidungsurteilen befasst und an dem sich zahlreiche Mitgliedstaaten beteiligen, wird mit Spannung
entgegen gesehen.
- Als Beitrag zu einem noch besseren gegenseitigen Verständnis auf der Ebene der europäischen Gerichtsbarkeit
wird schließlich ein verstärkter Informationsaustausch mit nationalen Höchstgerichten angeregt.
- Die Vorsitzenden begrüßen den von den Konferenzteilnehmern geäußerten Willen, auch im
Rahmen der kommenden Präsidentschaften an der effektiven Anwendung des Subsidiaritätsprinzips weiterzuarbeiten.
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