30.000 atypisch Beschäftigte können trotz Job Lebenskosten
nicht finanzieren; Wiener Sozialpartner fordern Engagement
Wien (rk) - Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten 10 Jahren dramatisch verändert. In Wien
gibt es zur Zeit rund 900.000 erwerbstätige Personen. War früher der Großteil aller Arbeitenden
in klassischen versicherten Vollzeit-Jobs beschäftigt, so ist der Anteil der neuen Beschäftigungs- formen
rasant angestiegen. Für mehr als 200.000 Personen hat sich die Situation massiv verändert: 90.000 Menschen
sind in den Neuen Erwerbsformen tätig, 100.000 arbeiten als Teilzeitkräfte, und 40.000 Menschen verdienen
ihren Lebensunterhalt als Ein-Personen- Unternehmen. Alleine von den 90.000 Beschäftigten der Neuen Erwerbsformen
ist ein Drittel den so genannten "working poor" zuzurechnen, also jenen Menschen, die trotz Job nicht
genügend Geld zum Leben haben.
"Viele Menschen werden zu häufigem Jobwechsel gezwungen, befinden sich in arbeitsrechtlichen Konstruktionen,
die wenig Schutz bieten oder verdienen nicht genug, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können",
erklärte Finanz- und Wirtschaftsstadtrat Vizebürgermeister Dr. Sepp Rieder am 28. 04. bei einem
Mediengespräch zu der am selben Tag stattfindenden Enquete zu atypischen Beschäftigungsformen im Tech-Gate
Vienna gemeinsam mit Sozialstadträtin Mag.a Renate Brauner, WKW Präsidentin KR Brigitte Jank und AK Präsident
Mag. Herbert Tumpel.
"Wir sperren uns nicht gegen notwendige Flexibilisierungsmaßnahmen, treten aber entschieden dafür
ein, Menschen, die in diesem Prozess unter die Räder kommen', zu helfen. Es gibt Übereinstimmung zwischen
uns, dieses Thema verstärkt aufzugreifen und wenn notwendig einzugreifen", erklärten die Vertreter
der Sozialpartner.
Als erste Reaktion wurden folgende Maßnahmen beschlossen:
- Expertengruppe arbeitet Maßnahmen für Ein-Personen-Unternehmen aus
- Das waff-Bildungskonto steht nun auch Neuen Selbstständigen offen
- Der WWFF verstärkt Förderangebote für Neue Selbstständige in Wachstumsbereichen, wie zum
Beispiel den Creative Industries.
Unterstützung für Ein-Personen-Unternehmen - Expertengruppe arbeitet Maßnahmen aus
Für die Gruppe der Ein-Personen-Unternehmen (EPU) aus der gewerblichen Wirtschaft wurde beschlossen,
eine Expertengruppe einzurichten, die den konkreten Unterstützungsbedarf analysiert, auf dieser Basis entsprechende
Ziele definiert und ein konkretes Unterstützungsprogramm ausarbeitet. "In einem ersten Schritt ist es
unser Ziel, das bewährte Modell des waff-Bildungskontos für die EPUs zielgerichtet zu adaptieren, um
die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen zu verbessern", erklärte die Präsidentin der Wirtschaftskammer
Wien, KR Brigitte Jank. Die Arbeitsgruppe wird sich aus Experten des waff, des WWFF, der Wiener Wirtschaftskammer
und dem Bereich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zusammensetzen.
Ausweitung des waff-Bildungskontos auf Neue Selbstständige - Alle waff-Programme bereits für neue
Erwerbsformen offen
Das sogenannte waff-Bildungskonto wird nun auch für die Gruppe der "Neuen Selbstständigen"
zugänglich gemacht. Ein entsprechender Beschluss dazu wird im nächsten waff-Kuratorium gefasst. Das Bildungskonto
ist einfach zugänglich und soll einen finanziellen Anreiz zur beruflichen Weiterbildung bieten bzw. das selbstständige
Engagement für lebensbegleitendes Lernen fördern. Die Weiterbildung muss bei einem vom waff anerkannten
Bildungsträger absolviert werden. Der waff übernimmt 50% der Kurskosten bis zu einer maximalen Höhe
von 200 Euro.
Mit der Öffnung des Bildungskontos für die Neuen Selbstständigen stehen nun sämtliche waff-Programme
für die Neuen Erwerbsformen zur Verfügung. Denn bereits 2002 wurden die waff- Richtlinien dahingehend
geändert, dass nicht nur Vollzeitbeschäftigte, sondern auch Geringfügig Beschäftigte, Freie
Dienstnehmer und Leiharbeitskräfte die waff-Programme zur Aus- und Weiterbildung nutzen können.
WWFF verstärkt Angebote für Neue Selbstständige in Wachstumsbereichen
Weiters wird der WWFF seine Angebote vor allem im Bereich der Infrastrukturunterstützung für
Neue Selbstständige in Wachstumsbereichen, wie zum Beispiel den Creative Industries oder im Bereich Forschung
& Entwicklung verstärken.
Schon jetzt können alle Förderinstrumente des Wiener Wirtschaftsförderungsfonds (WWFF) auch von
Kleinstbetrieben in Anspruch genommen werden.
Stärkster Anstieg bei den Geringfügig Beschäftigten und Freien Dienstnehmern
Im Vorfeld der Enquete wurde erstmals für Wien die aktuelle Situation bei den Neuen Erwerbsformen
analysiert. Derzeit arbeiten rund 90.000 Wiener und Wienerinnen in den Neuen Erwerbsformen als Geringfügig
Beschäftigte (49.173 Personen) auf Basis eines freien Dienstverhältnisses (12.582 Personen) bzw. eines
geringfügig freien Dienstverhältnisses (14.814 Personen), als Leiharbeiter (10.314 Personen) oder als
Neuer Selbstständiger (6.111 Personen).
Seit dem Jahr 2000 ist die Anzahl der in Neuen Erwerbsformen Tätigen insgesamt um rund 30 Prozent gestiegen.
Die größten Zuwächse waren in den Bereichen Geringfügig Beschäftigte (+ 18 Prozent) und
bei den Freien Dienstverträgen (+18 Prozent) zu verzeichnen.
Ein Drittel hat große Schwierigkeiten und braucht Unterstützung
Etwa ein Drittel dieser 90.000 in den Neuen Erwerbsformen beschäftigten Personen haben sich durchaus
bewusst und freiwillig dafür entschieden, weil sie sich beruflich besser (selbst)verwirklichen, mehr verdienen
oder diese Beschäftigung mit der familiären Situation besser vereinbaren können. Für ein weiteres
Drittel ist die Neue Erwerbsform eine zeitlich befristete Übergangslösung, das gilt vor allem für
junge Menschen, Studenten oder Eltern. Diese Gruppe beabsichtigt, wieder den Weg zurück in die Vollzeitbeschäftigung
zu gehen.
Problematisch ist die Situation bei rund 30.000 der in den Neuen Erwerbsformen tätigen Personen. Sie kommen
mit dem erzielten Einkommen nicht aus und können ihren Lebensunterhalt nicht decken.
"Atypische Beschäftigung ist längst kein Randphänomen mehr. Viele - auch junge Menschen - wollen
das aber nur als Übergangslösung. Aber immer mehr Unternehmen setzen atypische Beschäftigung verstärkt
zu ihrem Vorteil ein. Auf der anderen Seite hinkt die vertragsrechtliche und soziale Sicherheit für die Betroffenen
hinten nach. Diese soziale Schieflage muss ausgeglichen werden und wir brauchen mehr Vollzeitarbeitsplätze",
erklärte AK Präsident Mag. Herbert Tumpel.
Nicht existenzsichernde Jobs belasten Sozialsystem
"Die Zunahme von nicht existenzsichernden Arbeitsverhältnissen ist eine Form von Durchlöcherung
des Arbeitsmarktes, die in ihrer Folgewirkung auch das Sozialsystem ins Wanken bringt", warnt Sozialstadträtin
Mag.a Renate Brauner. Daher müsse man wieder alle Steuerungsmöglichkeiten der Arbeits- und Wirtschaftspolitik
nützen, um existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen. In Wien ist in den vergangenen Jahren die Anzahl
jener Personen, die zu ihrem niedrigen Einkommen oder zu ihrer niedrigen Arbeitslosenunterstützung noch ergänzend
eine Leistung der Sozialhilfe beziehen, stark gestiegen. Seit 2000 verzeichnet die Wiener Sozialhilfe bei den so
genannten RichtsatzergänzungsbezieherInnen eine jährliche Steigerung um rund 6.000 Menschen - von 23.500
im Jahr 2000 auf mittlerweile 57.600 im Jahr 2005. "Die Entlastung der Sozialhilfe durch unsere erfolgreichen
Maßnahmen zur Arbeitsintegration wird durch diese dramatische Entwicklung leider kompensiert", so Brauner.
Durch eine Vielzahl an Maßnahmen zur Arbeitsintegration ist es gelungen, die Zahl der VollsozialhilfeempfängerInnen
- der traditionelle Typus der SozialhilfeempfängerInnen - von 17.300 im Jahr 2000 auf 11.600 im Jahr 2005
zu senken, während die Zahl jener Menschen, die als "working poor" bezeichnet werden, radikal angestiegen
ist.
Im Jahr 2000 nahmen in Wien 46.037 Personen eine Sozialhilfeleistung in Anspruch. Fünf Jahre später bezogen
schon 79.964 Personen Sozialhilfe (+ 74 %). Die Stadt Wien versucht, diesem Trend u.a. mit Programmen zur Arbeitsintegration
von SozialhilfebezieherInnen entgegenzuwirken. Ein Beispiel dafür ist das waff-Programm "Jobchance".
Im Rahmen von Jobchance sind seit dem Programmstart im Jahr 1998 insgesamt 2.500 Vermittlungen von SozialhilfeempfängerInnen
erfolgreich durchgeführt worden. Im Jahr 2006 ist das Programm auf rund 800 Personen ausgerichtet.
Details zu den 40.000 Ein-Personen-Unternehmen
Zusätzlich zu den 90.000 Personen, die in Wien in den Neuen Erwerbsformen arbeiten kommen noch rund
40.000 Menschen, die als Ein-Personen-Unternehmer tätig sind und ihren Betrieb ohne zusätzliche Mitarbeiter
führen. Das ist rund die Hälfte aller Unternehmer in Wien.
Die meisten dieser Betriebe gehören zu den Branchen Unternehmensberatung und Informationstechnologie, Werbung
und Marktkommunikation sowie den Creative Industries. Laut einer WIFI- Studie erledigen knapp 75 Prozent dieser
Ein-Personen-Unternehmer die gesamte Arbeit allein bzw. werden dabei lediglich von Familienmitgliedern unterstützt.
Drei Viertel der Befragten schätzen ihre derzeitige Geschäftslage als gut bzw. zufriedenstellend ein.
Wichtigstes Anliegen zur Verbesserung der Situation ist eine Betriebshilfe im Falle von Krankheit, Karenz und Unfall.
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