Mit Gartenscheren gegen das Vergessen  

erstellt am
09. 05. 06

Wien (rk) - Zwischen 10.00 und 16.00 Uhr herrschte beim Tor 1 des Wiener Zentralfriedhofs am 5. Mai ungewöhnliche Betriebsamkeit. "Hand anlegen an die Geschichte" hieß die Aktion der Wiener Volkshochschulen und von http://www.erinnern.at/. SchülerInnen und Interessierte waren aufgefordert worden mitzuhelfen, Grabsteine wieder zugänglich zu machen und von Efeu und Unkraut zu befreien.

Rund 200 SchülerInnen von sechs Schulen sowie eine Reihe von Einzelpersonen waren gekommen. In der Gruppe 19 war innerhalb weniger Stunden das Ergebnis sichtbar. Die Haufen von Efeu und geschnittenen Zweigen in den Wegen waren nicht mehr zu übersehen. Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und Religion waren am Werk und stolz auf ihr Tagwerk. Teilgenommen haben die Schulen BG und BRG Wien 3, Boerhaavegasse; das Öffentliche Gymnasium der Stiftung Theresianische Akademie, Demokratische Oberstufe im WUK, BRG 15/Henriettenplatz, GrG 18 und Höhere Technische Bundeslehranstalt Wien 10, Ettenreichgasse.

Harold Basser, der vor den Nazis nach Amerika fliehen konnte, der mit seinen 80 Jahren extra für diese Aktion mit Tochter und Enkeltochter aus New York angereist ist, war beeindruckt, "dass so viele gekommen sind, die das Andenken von Menschen pflegen wollen, von denen sie und wir heute nichts mehr wissen". Raimund Fastenbauer von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien bedankte sich bei den engagierten SchülerInnen und erinnerte daran, dass endlich eine verbindliche Regelung für Pflege der jüdischen Friedhöfe Geltung bekomme.

Oswald Bazant vom Verband Wiener Volksbildung erinnerte daran, dass die Barbarei mit Ausgrenzung und Antisemitismus begonnen hat und beginnt sowie politische Bildung Teil des Programmes des Wiener Volkshochschulen ist, Bildung dürfe nicht nur in geschlossenen Räumen stattfinden.

Für alle SchülerInnen war es das erste Mal, dass sie einen jüdischen Friedhof besucht haben. "Mein Vater ist ja nicht dafür, dass ich da bin. Er fragt sich, warum wird uns heute Schuld und Verantwortung zugeschrieben", meint ein Schüler. Lernen ist manchmal auch eine Sache des Suchens. Die Verwunderung über die abgebrochenen Säulen auf Gräbern wollen einige nicht einfach so hinnehmen und stellen Vergleiche an. Alle Verstorbenen sind sehr jung, vielleicht ist es ein Symbol für abgebrochenes Leben. Es gibt nicht wenige Grabsteine ohne hebräische Schriftzeichen und ohne Davidstern. Ist das ein Ausdruck der Assimilierung der Juden? Große und kleine Fragen tauchen an diesem Vormittag auf. Wie hält die Kippa eigentlich auf dem Kopf?. Efeu schneiden kann auch kommunikativ sein und so kommt einer der Schüler der HTL ins Gespräch mit einem Fotografen der New York Times. Englischkenntnisse sind nun gefragt. "Wie heißt nur unser Schultyp auf Englisch? Mechanical Engineering. Ich habe nicht geglaubt, dass ich dieses Wort noch einmal brauchen werde." Die türkischen Mädchen mit Kopftuch hatten bei der Vorbereitung Bedenken, nicht weil es sich um einen jüdischen Friedhof handelt, sondern weil unter der Erde so viele Tote liegen. Sie sind mit Begeisterung mit der Spachtel an der Arbeit und freuen sich, wenn sie einen dicken Efeupolster von einem Grabstein heben können als wäre es ein Hut. "Bei den letzten Grabsteinen habe ich gar nicht mehr auf das Geburtsdatum und den Namen geschaut. Schade."

Es ist geplant, die Aktion in regelmäßigen Abständen durchzuführen. Im Herbst wird eine "Führung mit Gartenschere" angeboten, wo nach einer Einführung in die Geschichte des jüdischen Friedhofs und die Gräber von bedeutenden Persönlichkeiten die Besucher aufgefordert werden, einige Gräber von Efeu zu befreien. (Termin: Sonntag, 15. Oktober 2006 14.30 Uhr, Dauer 2 Stunden. Anmeldung Volkshochschule Hietzing, Tel. 804 55 24; e-mail: )

Auch interessierte LehrerInnen, die im Rahmen von Projekttagen im Juni den Zentralfriedhof Tor 1 besuchen wollen und neben einer Führung auf dem Friedhof auch Hand anlegen wollen an die Geschichte, können sich in der Volkshochschule Hietzing bei Dr. Robert Streibel, Tel. 804 55 24-12 melden. e-mail: r.streibel@vhs-hietzing.at .
     
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