Rede von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel am 27. Mai 2006
Saarbrücken (bpd) - Europa – einig und gerecht und das in einem religiösen Kontext: Arnold
Gehlen hat vor drei Jahrzehnten formuliert, „dass es mit der Religion wieder ernst wird, das wird man am Aufbrechen
kampfbereiter Fronten bemerken.“ Dann kam 15 Jahre später Samuel Huntington mit seiner Idee eines „Clash of
Civilisations“, dass ein Kampf der Kulturen und Religionen kommen werde. Seine These wurde von vielen Theologen
in Frage gestellt, viele Politiker haben sich davon abgesetzt. Als wir zu Beginn dieses Jahres mit dem Karikaturenstreit
konfrontiert wurden, war ich verblüfft über die Sprengkraft dieser Sensibilitäten. Wir Europäer
tun uns da manchmal aufgrund unserer Geschichte und unserer abgeschliffenen Verhaltensweisen mit derartigen Emotionen
schwer.
Europa ist eine mehr als 2000 Jahre alte Idee. Sie ist wie die Geschichte einer alten Familie mit verschiedenen
Charakteren, Schattierungen, Auswüchsen, Faszinationen. Europa ist geschichtlich gewachsen, ursprünglich
zumeist von oben implementiert. Jetzt wird erstmals Europa von unten aufgebaut, demokratisch und ohne Gewalt. Europa
hat gelernt. Es hat früher Kriege geführt, Schuld auf sich geladen. Es ist gefallen, hat sich wieder
aufgerichtet, es hat unglaubliche Wissenschaftler und Erfinder, wunderbare Künstler hervorgebracht, die olympischen
Spiele, die häufigsten Fußballweltmeisterschaften, die meisten offiziellen Heiligen, das sind alle Europäer.
Wir haben populäre und populistische Politiker hervorgebracht, und auch einige gewaltige Verbrecher. Vor allem
besteht Europa heute aus einem: aus Menschen, die sich in ihrer Vielfalt diesem Kontinent zugehörig fühlen.
Wenn Sie mir die Frage stellen „Einig und gerecht?“, ist das für mich als amtierender Ratvorsitzender nicht
einfach. Denn im Konzert Europa können ja durchaus auch Dissonanzen entstehen, es gibt da eine Kakophonie
von hunderten Meinungen. Auch bei „gerecht“ gibt es viele Fragezeichen, wenn man 18 Millionen Arbeitslose hat,
wenn man viele Arme hat, wenn man Ungleichheit hat, wenn man die Wut der Ungerechtigkeit spürt. Man kann dann
nicht einfach mit „ja“ antworten. Da muss man das Fragezeichen ertragen.
Trotzdem denke ich, dass wir auf einem guten und richtigen Weg sind. Wir atmen seit der Wiedervereinigung Europas
mit beiden Lungenflügeln. Der Weg zu einer Union war nach dem 2. Weltkrieg kein selbstverständlicher.
Die katholischen Unionsgründer planten ja zunächst keine Wirtschaftsunion, sondern eine politische Union.
Es ging um nichts weniger, als den Frieden in Europa zu sichern. Weil die Zeit noch nicht reif war, hat man zunächst
eine Wirtschaftsunion in der Hoffnung gegründet, der Friede werde zunächst gesichert sein, und später
würde sich aufgrund der Dynamik der wirtschaftlichen Verflechtungen Europa zu einer politischen Union entwickeln.
Dann kam tatsächlich die Wirtschaftsgemeinschaft und immerhin wurde das Hauptversprechen, den Frieden zu bewahren,
seit mehr als einem halben Jahrhundert lückenlos erfüllt.
Trotzdem ist das heute zu wenig. Das Fehlen von Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen ist zu wenig, denn
es ist Aufgabe jeder Politik und jedes Politikers Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Wenn die Balance
und Gerechtigkeit gelingt, also von Subsidiarität und Solidarität, wenn individuelle Verantwortung und
gesellschaftliche Solidarität in Balance bleiben, dann ist Friede wahrscheinlicher.
„Gerechtigkeit und Friede küssen sich“, heißt es im Psalm 85. Das ist ein wunderbarer Satz. Zu einer
europäischen Friedenspolitik gehört daher nicht nur die Sorge um die innereuropäische Gerechtigkeit,
denn die wird alleine in diesem Kontinent nicht herstellbar sein. Dazu gehört auch die Sorge um die weltweite
Eindämmung von Ungerechtigkeit. Die Stärke Europas wird auch daran zu messen sein, keine Selbstversorgerzone
zu sein, sondern sich für weltweite Gerechtigkeit einzusetzen. Dazu gehören Hilfe zur Selbsthilfe, Entwicklungszusammenarbeit
und Schuldenabbau. Immerhin ist Europa der größte Geber in der Welt. Vor allem müssen wir uns für
eine gerechte Handelsordnung einsetzen. Dafür steht etwa Pascal Lamy, und er setzt sich dafür ein, dass
es eine Chance der Entwicklung auch für die ärmeren Länder gibt.
Ohne Friede fehlt aber auch die Erfahrung, dass die Freiheit heute das gegenseitige Kennenlernen in ganz Europa
erlaubt. Auch Österreich ist von einem Grenzland mit seiner EU-Mitgliedschaft zu einem Kerngebiet in der Union
geworden. Länder, wie die Balkanstaaten, müssen einmal in diese Unon hereingebracht werden, damit diese
Zone der Sicherheit und des Friedens, diese Zone der relativen Gerechtigkeit ausgeweitet werden kann.
Der europäische Reichtum liegt in seiner ungeheuren kulturellen Vielfalt, im Wissen um die eigene Verwurzelung
und ohne Nivellierung der kulturellen Unterschiede. Europa, so hat mir eine serbische Regisseurin gesagt, ist nicht
nur, wenn wir alle mit demselben Geld bezahlen, Europa entsteht erst, wenn wir aus dem gleichen Geist handeln.
Wir müssen daher, wenn Europa lebensfähig sein soll, das rein wirtschaftliche Grundgerüst überwinden
und darüber hinausgehen. „Alles hat seine
Zeit“ heißt es im Buch Kohelet. Tatsächlich braucht es zur Vertiefung eine Zeit der Reflexion, eine
Zeit des Nach-, aber auch Vorausdenkens. Das ist auch die tiefere Ursache für das Nein in einigen Ländern
oder die schlechten Umfragewerte in einigen Ländern zum europäischen Einigungsprojekt: Das Integrationstempo
ging einigen zu schnell. Die Strukturen der Union gelten oft als undurchschaubar, die Ängste vor Jobverlagerung,
Lohndumping, Steuerwettlauf sollen nicht weggeredet werden.
Europa ist und muss „work in progress“ sein. Unser Staat, unsere Bundesländer und unsere Gemeinden bedürfen
der Erneuerung und der Anpassung an die neuen Gegebenheiten und Herausforderungen. Das gemeinsame Europa, das wir
erstreben, ergibt sich ja nicht durch das Gruppenfoto der Staats- und Regierungschefs. Europa ist auch nicht das
Gemälde einer widerstrebenden Königstochter mit einem Stier. Ich glaube, das gemeinsame Europa kann nur
sichtbar, spürbar und erlebbar werden, wenn das europäische Lebensmodell, die europäischen Werte
auch spürbar sind. Papst Benedikt XVI. hat gesagt: „Europa ist immer zugleich national und übernational
gewesen. Es hat in den einzelnen nationalen seine ganz besonderen Prägungen gefunden. In den besten Zeiten
Europas gab es keine Abschließung der Nationen von einander, sondern über die nationalen Grenzen hinaus
grundlegende Organismen der Gemeinsamkeit. Vielheit war daher nicht Gegensatz, sondern Befruchtung für einander“.
Das heißt, lebbar, spürbar wird Europa nur, wenn es über das Nationale hinaus greift. Ich glaube,
dass der Verfassungstext einige solcher Gemeinsamkeiten in hervorragender Art und Weise beschreibt. Jetzt erlauben
Sie mir, dass ich für einige Sekunden neben mich trete, denn als Ratspräsident könnte ich jetzt
nicht so offen sprechen. Als Österreicher sage ich Ihnen, einen viel besseren Text werden wir nicht finden.
Dieser Verfassungsvertrag ist ein vernünftiger und guter Kompromiss gewesen. Jene, die Sorge haben, dass wir
einen vermeintlich neoliberalen Weg gehen, der soll nachlesen, was im Text drinnen steht. Wir haben dort ganz konkrete
einklagbare Grundrechte verankert, es findet sich dort das Bekenntnis zur Vollbeschäftigung. Das ist ein konkretes
Ziel, das wir uns gemeinsam gesetzt haben, genau so wie die Aufwertung der Sozialpartner. In Wahrheit könnte
dieser Text direkt aus der christlichen Soziallehre abgeschrieben sein. Nichts anderes als die Subsidiarität,
die Solidarität, die Rechte des Einzelnen, das Wohl der Schwächsten und Armen, der soziale Fortschritt
in einer guten Balance, die Gleichberechtigung, die Stellung der Frau, die Aufwertung und die Sorgen um Kinder,
die Sorgen um die Menschen, die nicht übergangen werden dürfen. Wer will, dass diese Ideen nicht nur
gedacht werden, sondern auch zu einem unveräußerlichen Dokument zusammengefasst werden, sollte durchaus
dies unterstützen.
Gerade tagen die europäischen Außenminister im Stift Klosterneuburg, ganz in der Nähe von Wien.
Es ist interessant, dass dies ein Politiker in Österreich sofort kritisiert hat. Er meinte, da will die österreichische
Ratpräsidentschaft die christlichen Wurzeln und den Gottesbegriff wieder in die Verfassung über die Hintertür
wieder einführen. In Kirchen und in Klöstern darf man heute alles tun, Kongresse abhalten und Konzerte
veranstalten, aber tagen für und in einem europäischen Geist soll man nicht dürfen. Freunde, das
werden wir Christen uns nicht nehmen lassen.
An der Wiege des neuzeitlichen Europa steht der Traum von der Freiheit. Europas Geschichte ist eine Abfolge von
Freiheitsrevolutionen: von 1789 mit der Französischen Revolution bis 1989 mit der „Samtenen Revolution“. Eine
Facette der Globalisierung ist, dass sich die demokratische Freiheit, diese Sehnsucht von Europa aus auf der ganzen
Welt verbreitet hat. Unterbrochen wurde das Ringen um die Freiheit durch tragische Totalitarismen mit ihren katastrophalen
Höhepunkten dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Heute steht dieses neue Europa für die Würde
der Menschen und ihren angeborenen Freiheitsgrundrechten. „Man muss der Freiheit aber immer Gerechtigkeit abringen“,
so Lacordaire. Freiheit alleine ohne die Balance der Gerechtigkeit wäre natürlich nur das Recht der Starken.
Es braucht daher jene Errungenschaft, die neben der Freiheit in Europa unser Markenzeichen geworden ist, nämlich
einen Sozialstaat mit menschlichem Angesicht. Dazu gehört vor allem die individuelle Verantwortung. Die Subsidiarität,
also die Verantwortung des Einzelnen und die Solidarität der Gemeinschaft bis hinauf zum Staat, ist eine nicht
immer leicht zu findende Balance. Aber sie ist lebenswichtig für uns, denn sonst kommt entweder die Verstaatlichung
der Verantwortung heraus oder die Individualisierung des gesamten Systems. Daher muss diese individuelle Verantwortung
von Christen jeden Tag aufs Neue eingefordert und eingemahnt werden. Ich war betroffen von den Aussagen des Vertreters
der Bundesanstalt für Arbeit, der über die Sorgen der Menschen jenseits der 40 gesprochen hat. Wie wird
einem da, wenn eine Gesellschaft wie die deutsche, die österreichische, die europäische nicht den Wert
erkennt, der in den Erfahrungen der mittleren und älteren Generationen liegt. Hier wird sich das Schicksal
Europas mit entscheiden. Es ist wirtschaftlich und gesellschaftlich dumm, auf diese Erfahrungen zu verzichten.
Jeder Unternehmer, der etwas auf sich hält und länger voraus denkt, wird gut daran tun, die Erfahrung
der mittleren und älteren Generation zu bewahren und die Jungen rechtzeitig über Lehrstellen, Ausbildung
heranzubilden, damit er oder sie im Wirtschaftswettbewerb mithalten können. |
Gerechtigkeit ist nicht nur ein globales oder innerstaatliches Thema, es ist auch ein europäisches Thema.
Denken Sie nur, was mit dem Kohäsionsfonds gelungen ist, mit der Förderung für schwache Gebiete.
Irland oder Spanien, der östlichste Teil von Österreich, das Burgenland, die neuen Bundesländer
in Deutschland oder die Erweiterung als Projekt. Als ich Wirtschaftsminister war, betrugen die Lohnunterschiede
zwischen unserem östlichen Nachbarn und uns ungefähr 1:15; als ich im Jahr 1998 Außenminister war
und die Verhandlungen mit den ersten sechs neuen Staaten begonnen haben, betrug der Lohnunterschied 1:10; heute
beträgt er 1:5 mit den unmittelbaren Nachbarn. Das ist ein unglaublicher Erfolg, von dem wir profitieren.
Denn auch bei uns werden Arbeitsplätze dadurch geschaffen, dass Europa diesen Weg gegangen ist. Das neue EU-Budget
stellt sicher, dass wir in den nächsten sieben Jahren 160 Milliarden Euro für die Entwicklung in diesen
Regionen aufwenden können. Das wird eines der besten Investitionsprojekte in unsere eigene Zukunft sein.
Interessant ist, wer sich nun aller mit Religion beschäftigt, Habermas zum Beispiel oder Enzensberger. Habermas
spricht über die Bedeutung der Religion: „Das sind die Quellen, aus denen sich das neue Bewusstsein und die
Solidarität von Bürgern speist“. Und er plädiert dafür, die Säkularisierung von heute,
die wir oft als Bedrohung empfinden, auch als komplementären Lernprozess zu begreifen. „Sie nötigt das
religiöse Bewusstsein zu Anpassungsformen, der Aufgabe des Anspruchs auf ein Interpretationsmonopol auf umfassende
Lebensgestaltung, aber sie nötigt auch die nichtreligiösen Bürger, das Verhältnis von Glauben
und Wissen selbstkritisch zu bestimmen“. Das heißt, dass wir eigentlich in dieser Säkularisierung durchaus
auch Chancen finden können, die für uns in den Kirchen unglaublich wichtig wären.
Hans Magnus Enzensberger weist darauf hin, dass eines unserer Hauptprobleme ist, dass in den reichen europäischen
Gesellschaften jeder von uns überflüssig werden kann. Wohin mit ihm? Und auch Europa bringt viele Modernisierungsverlierer
hervor, Überflüssige gleichsam: Menschen mit Behinderungen, Langzeitpflegebedürftige, Langzeitsterbende
Komapatienten, Langzeiterwerbslose, Kinder, die das Leben der Erwachsenen immer mehr stören. Die Gefahr, diese
Lebensrisiken immer mehr zu privatisieren, bedroht all diese „Überflüssigen“. Die Sorge ist nicht grundlos,
dass Europa den schwachen Bevölkerungsteilen die Sorge entzieht, sondern manche auch gleich mit entsorgt.
Ich erinnere nur an die Diskussion um die Liberalisierung der Euthanasie, sie ist ja nicht nur von einem Freiheitspathos
der Verfügbarkeit über alles und jedes gekennzeichnet, sondern hat natürlich auch eine ökonomische
Bedeutung, weil das lange Sterben und das pflegeintensive Altern stellt den Sozialstaat vor große Fragen.
Aber Gerechtigkeit und „compassion“, Mitleidensfähigkeit, bleibt in Hinblick auf die Schwachen der Gesellschaft
eine akute sozialpolitische und menschliche Herausforderung.
Wichtig ist für mich als Politiker und Christ der Dialog mit den Kirchen. Religion, die sich reduzieren lässt
auf einen Moralkanon, darf es nicht geben. Umgekehrt ist es klar, dass es keine Religion gibt, die ohne so etwas
auskommt. Die Kirchen dürfen sich nicht auf die Sakristei oder die Randbereiche der Gesellschaft zurück
drängen lassen, nur dann eingeladen, wenn irgendwo ein Wort zum Tag erforderlich ist. Mir ist wichtig, dass
die Kirchen ein aktiver und bunter Teil dieser europäischen Gesellschaft sind. Einen Beitrag werde ich nächste
Woche gemeinsam mit Kommissionspräsident Barroso leisten, indem wir einen Dialog mit den Kirchen, der offiziell
im Verfassungsvertrag vorgesehen ist, als Vorgriff führen. Am kommenden Dienstag wird erstmals ein Treffen
des Kommissionspräsidenten und der Ratpräsidentschaft mit den Vertretern der großen Religionen
stattfinden.
Mir ist Europa zu wichtig, als dass man es denen überlässt, die sich mit ihrem Eurospeak sehr weit von
der Verständlichkeit gegenüber den durchschnittlichen Menschen abgehoben haben. Aber es ist mir auch
viel zu wichtig, um es den Populisten, die alles und jedes, wofür es in der Welt Unmutsäußerungen
gibt, auf Europa projizieren, zu überlassen. Nehmen wir als Beispiel die Kosten. Ist Europa wirklich zu teuer?
Wir haben gerade ein Budget für die nächsten sieben Jahre beschlossen. Wenn Sie es umrechnen auf die
Kosten für jeden einzelnen europäischen Bürger, dann bedeutet das ungefähr einen halben Euro
pro Tag. Ist das für den Traum eines geeinten Europas, für ein solidarisches Europa, für ein Europa,
das nützt und schützt in wichtigen Bereichen wirklich zu viel? Ich glaube nicht. Da braucht es engagierte
Bürger, die sagen: wir wollen dieses Europa, wir stehen dazu. Vergessen wir nie, dass mit diesen Geldmitteln,
einem halben Euro pro Tag und Bürger, Europa der größte Geldgeber in der Entwicklungszusammenarbeit
ist, die größte Handelsmacht geworden ist und ungefähr eineinhalb Milliarden Menschen direkt oder
indirekt von uns abhängen. Das sollte jeder wissen. Ich glaube, dann fällt die Bewertung fair und gerecht
aus.
Das gleiche gilt für die Verfassung: lassen wir uns doch nicht mundtot machen, als ob diejenigen, die einmal
Nein gesagt haben, immer Nein sagen werden. Ich habe immer die These vertreten, machen wir doch an einem Tag in
ganz Europa eine Abstimmung über eine solche Verfassung und dann soll die Mehrheit der Bevölkerung und
die Mehrheit der Staaten darüber entscheiden, ob Europa ein solches Dokument braucht. Demokratie braucht den
Demos, das Volk. Das ist unser heutiges Problem. Wir haben nationale Völker, die abstimmen und sie haben auch
die Möglichkeit für Volksbegehren und das Sammeln von Unterschriften. Auf der europäischen Ebene
haben wir das nicht, und ohne Demos keine europäische Demokratie und ohne aktive Bürger, die sich rühren,
die Initiativen ergreifen und dieses Europa auch verteidigen gegen die, die es ablehnen, die es unterminieren und
schwächen wollen, wird Europa schlicht und einfach nicht lebensfähig sein. Das gleiche gilt für
die Erweiterungsmüdigkeit, weil - wie schon ökonomisch begründet - das eines der ganz großen
Erfolgsprojekte der EU war.
Paul Zulehner hat zu Ostern einen Kommentar geschrieben mit dem Titel: „Fürchtet euch nicht“. Er spricht über
die Angst, überflüssig zu werden, aber auch die „Heidenangst, die einen Teil der privatisierten Religiosität
prägt“. In Zeiten, in denen man sich vor allem und jedem fürchtet, gerade Gesellschaften, die nicht unbedingt
mit dem Mangel zu kämpfen haben, wird die Angstminderung zu einer der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben.
Das kann auch durch eine Politik mit Augemaß geschehen, welche die Lebensrisiken nicht leugnet, aber die
Lebensrisiken der Menschen ehrlich anspricht. Keine Panikmache, sondern das Wichtige und Notwendige angehen. Qualität
muss in der europäischen Politik das prägende Wort sein. Wir müssen an der Nachhaltigkeit und der
Langfristigkeit unserer Überlegungen arbeiten. In diesem Kontext erhalten die christlichen Kirchen ein politisches
Gewicht. Sie können mit österlicher Hoffnung Angst mindern, vorausgesetzt, sie moralisieren nicht, sondern
sie heilen die Wunden der Seele. Und ein bisschen von diesem Heilen könnte auch Europa anbieten, nicht als
Salber oder als Heilsversprechen, sondern durch ganz konkrete Arbeit an einem Projekt das bisher so unerfolgreich
nicht war. Ein bisschen mehr Optimismus, ein bisschen weniger Angst und damit wäre auch der Weg zu Einigkeit
und Gerechtigkeit vorgezeichnet. |