Erklärung von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel  

erstellt am
27. 10. 06

Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung,
liebe Österreicherinnen und Österreicher!

Dieser Sonderministerrat findet an einem besonderen Nationalfeiertag statt: Am Ende der XXII. Gesetzgebungsperiode, wenige Tage vor der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Nationalrates. Daher gibt es Anlass für eine Bestandsaufnahme: Nicht nur für eine Rückblende, sondern auch für einen Blick nach vorne auf die Herausforderungen, die Aufgaben und vor allem Chancen, die vor uns liegen. Dabei macht uns jedes Jahr um zahlreiche Erfahrungen und Erkenntnisse reicher.

Insgesamt kann man durchaus auch nach dem Wahlkampf feststellen, Österreich steht gut da, unser Land ist gut aufgestellt und bestens gerüstet für die Zukunft!

Wir sind in Europa in wichtigen Bereichen von den hinteren Rängen weit nach vorne gerückt: Bei den Staatsfinanzen- wir haben nur 1% Budgetdefizit-, beim Wachstum –deutlich über 3%-, bei der Steuerquote, die sich in Richtung 40% bewegt, bei der Forschung, bei der Inflation, bei der Stabilität des Geldwertes und bei der Modernisierung der Verwaltung. Die gesenkte Steuerlast belässt den Bürgern mehr Geld zum Leben und den Unternehmern auch mehr Geld für Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen. In der Hälfte der Arbeitsmarktbezirke Österreichs kann man heute schon wieder von Vollbeschäftigung sprechen. Unser Exportanstieg liegt seit den letzten 5 Jahre um 2/3 über dem EU-Schnitt. Wir werden heuer die Schallmauer von € 100 Mrd. bei den Exporten durchstoßen. Alleine heuer entstehen durch gestiegene Exporte 63.000 Arbeitsplätze in Österreich.

Wir haben den Umstieg zur Wissensgesellschaft gemacht: Noch nie zuvor in der Geschichte Österreich ist soviel geforscht, gelernt und entwickelt. Und dem Bürger steht eine modernere und leistungsfähigere Verwaltung zur Verfügung, fast alle Amtswege können heute von zu Hause aus am PC erledigt werden.

Wir haben es aber auch geschafft, durch notwendige, mutige und langfristige Reformen das soziale System auch für die Zukunft auf gesunde Beine zu stellen. Das harmonisierte österreichische Pensionssystem ist mittlerweile zum internationalen Benchmark geworden. Das Gesundheitssystem, das jedem unterschiedslos Zugang zur Spitzenmedizin gewährleistet, hat vielfach Vorbildcharakter. Und in punkto Sicherheit liegt unser Land unter den besten drei weltweit.

In dieser Stunde des Nachdenkens stehen wir aber auch immer wieder vor neuen Fragen, denen wir uns in Zukunft zu stellen haben: etwa der Frage nach einem funktionierenden Zusammenleben; einer Balance der Generationen, einer Balance zwischen sozialer Umsicht und wirtschaftlichem Fortschritt, ohne die es keinen Wohlstand und keine Freiheit gibt, der Schaffung von optimalen Entwicklungs- und Lebensmöglichkeiten für die Jugend und die nächste Generation und nicht zuletzt der Frage der nachhaltigen Finanzierung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Wir müssen uns auch im Interesse der sozialen Sicherheit und des sozialen Zusammenhalts den Fragen nach den Grenzen von Zuwanderung und den Herausforderungen in der Integration von Zuwanderern in unsere Gesellschaft stellen.

Für mich steckt die Antwort auf diese wichtigen Zukunftsfragen vor allem in der Verantwortung, die jeder im Staat - Politiker und Bürger – tragen muss. Verantwortung tragen heißt für mich: Jeder muss an seinem Platz das Beste geben, dabei aber immer das Wohl der anderen – auch jener, die nach uns kommen - mit im Auge haben. Verantwortung tragen heißt: Den Starken Entfaltung ermöglichen, die Schwachen stützen und schützen! Die Teilung der Verantwortung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft hat sorgfältig und nach dem Grundsatz der Subsidiarität zu erfolgen. Die Leistungsfähigkeit der Menschen ist dabei besonders zu berücksichtigen.

Die Bewahrung dieser dynamischen Balance sind wir nicht zuletzt jenen Frauen und Männern der Aufbaugeneration schuldig, denen wir den heutigen Festtag und den Erfolg unseres Landes maßgeblich verdanken. Einigen von Ihnen leben noch und einigen können wir so unsere Anerkennung persönlich zurückgeben, indem wir ihren Lebensabend sichern, und ihre persönlichen Anliegen, Bedürfnisse und Nöte durch bestmögliche Gesundheitsversorgung und Betreuung berücksichtigen.

Der Leitspruch einer solchen Verantwortungsgesellschaft in meinen Augen wird wohl besten mit den Worten zusammengefasst: „Jeder so gut er kann.“ Der Vorrang der Ellenbogen passt in unserer Zeit ebenso wenig wie die absolute Bevormundung des Staates, die den Menschen Wahlfreiheit und Entwicklungsmöglichkeiten nimmt. In Österreich war dieses dynamische Gleichgewicht selbst unter den großen demographischen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre immer gegeben. Das bestätigen viele Studien und Umfragen im In- sowie im Ausland, wo der österreichische Reformweg oft als Synonym für moderne und verantwortungsvolle Zukunftsvorsorge vor den Vorhang gebeten wird.

Wer auch immer in Zukunft an diesem Ministerratstisch Platz nehmen wird, der muss bereit sein, dieses in Österreich gewachsene Modell der Ausgewogenheit als verantwortungsvolles Erbe zu übernehmen. Das bedeutet keineswegs, die eigenen politischen oder persönlichen Überzeugungen in Politik oder Gesellschaft aufzugeben, aber es erfordert sehr wohl die Achtung jener Grundwerte und Prinzipien, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist und im Zweifel sind diese Gesamtinteressen den Einzelinteressen mancher Gruppen immer voranzustellen.

Meine Damen und Herren!

Der heutige Tag steht in den Geschichtsbüchern als Datum, an dem Österreich in voller Freiheit und Selbstbestimmung seinen Weg in die Zukunft gewählt hat. Wir haben 1955 die alleinige Verantwortung für unser Schicksal in die Hand bekommen und in die Hand genommen. Und diese Verantwortung gilt es täglich neu zu tragen.

Gerade ein souveräner und neutraler Staat, muss also das Thema der Sicherheit seiner Bürger, den Schutz seiner Bürger sehr ernst nehmen. Dazu gehört die Pflicht, unser Land zu Land und in der Luft zu verteidigen. Das ist ein Pflichtbewusstsein, das eine lange Tradition in der Geschichte der 2. Republik hat und von allen Bundespräsidenten, Bundeskanzlern, Verteidigungsministern und Innenministern ungeachtet der parteipolitischen Zugehörigkeit wahrgenommen worden ist. Die Wahrnehmung dieser Verpflichtung liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung und trifft die Rekruten, die heute auf dem Heldenplatz angelobt werden, ganz genauso, wie die Mitglieder der Bundesregierung, die ihr Gelöbnis auf eben diese Verfassung vor dem Bundespräsidenten ablegen.

Vor wenigen Tagen haben wir den 50. Jahrestag der von Moskau brutal niedergeschlagenen Revolution unserer ungarischen Nachbarn gegen den Kommunismus begangen. Damals hat das junge und kleine österreichische Bundesheer in seinem ersten Einsatzfall zur Sicherung der Grenzen nach Osten seine Feuertaufe bestanden.

Die Österreicherinnen und Österreicher haben in dieser Situation vor 50 Jahren auch bewiesen, dass sie ein wahrhaft großes Herz besitzen: Die fast 200.000 ungarischen Flüchtlinge, die über die Grenzen strömten, wurden großzügig aufgenommen, versorgt, umsorgt. Damit wurde eine große humanitäre Tradition unseres Landes begonnen, die wir uns bis heute bewahrt haben. Lange bevor man in Österreich den Traum eines wiedervereinten Europas, in dem wir mit Sitz und Stimme vertreten sind, zu träumen gewagt haben, und die Mitgliedschaft Österreichs in einer großen europäischen Familie noch kein Thema war, haben sich die Menschen in unserem Land damit als wahre Freunde, Nachbarn und als echte Europäer gezeigt. Damals hat eigentlich Österreichs europäischer Weg begonnen! Dass unser Land, seine Wirtschaft und auch letztlich jeder einzelne Bürger heute im Vergleich zu allen anderen EU-Staaten sehr stark, vielleicht am stärksten von diesem geeinten Europa durch eine Friedens- und Stabilitätsdividende profitiert, hat seine Ursachen nicht zuletzt in jenem offenen, herzlichen und verantwortungsbewussten Zugehen auf unsere ungarischen Freunde und Verwandten im Jahre 1956.

Heute ist das wiedervereinte Europa Wirklichkeit. In wenigen Wochen wird die europäische Familie durch den Beitritt Rumäniens und Bulgariens aus 27 Mitgliedern bestehen. Wenn wir am heutigen Nationalfeiertag unsere Bundeshymne singen, so sind die Zeilen „liegst dem Erdteil du inmitten, einem starken Herzen gleich“ nicht mehr nur Wunschbild einer Dichterin, sondern Realität, Ehre und Auftrag. Dieser Auftrag wird fortgesetzt, das österreichische Herz muss auch dem europäischen Körper weiter Impulse verleihen. Dazu gehört in der Zukunft, wenn wir Frieden und Stabilität exportieren und nicht Unsicherheiten importieren wollen, dass wir auch den Ländern des Balkans ihren gebührenden Platz in Europa sichern.

Meine Damen und Herren!

Zum zweiten Mal hat unser Land in den ersten sechs Monaten dieses Jahres den Vorsitz im Rat der Europäischen Union geführt. Wir haben diesen Dienst für die Gemeinschaft in einer sehr herausfordernden Zeit angetreten. Getreu dem österreichischen Motto einer dynamischen Balance haben wir versucht, Europa einige Schritte voran zu bringen ohne zu überfordern und dabei voranzugehen ohne einen unserer Partner zurückzulassen. Wir haben das in einer guten, respektvollen und hoffentlich auch inspirierenden Atmosphäre innerhalb Europas getan. Auch dieses Klima ist Teil der österreichischen Kultur – eine Tradition, die wir auch im gesellschaftlichen und politischen Wechselspiel in unserer Heimat nicht vergessen sollten.

Erreicht werden konnten während der EU Präsidentschaft konkrete politische Erfolge im Interesse Europas und Österreichs: Die Verabschiedung eines soliden EU-Budgets, eine deutliche Aufstockung der Forschungsprogramme, die Gründung des EIT, um dessen Sitz wir uns bewerben, die Einigung bei der für das Jobwachstum entscheidenden Dienstleistungsrichtlinie und nicht zuletzt die Zukunftssicherung des ländlichen Raums in unserer Heimat. Österreich hat konkrete vorhaben und qualitative Ziele für Arbeitsplätze und Wachstum eingebracht und eine Einigung erzielt. Österreich hat auch eine Verständigung in der Frage eines Fahrplanes für die Europäische Verfassung erzielt.

Auch heikle internationale Fragen, wie der Gasstreit zwischen der Ukraine und Russland am ersten Tag des Österreichischen Vorsitzes, der so genannte Karikaturenstreit, der Sieg der Hamas bei den Palästinenser-Wahlen und die Erklärung des Iran, sein Atomprogramm ohne jede Einschränkung wieder aufzunehmen fielen in das Präsidentschaftshalbjahr und konnten mit Besonnenheit und Konsequenz erfolgreich gehandhabt werden.

Der wichtigste Fortschritt war aber, dass das Vertrauen der Menschen in das gemeinsame europäische Projekt weiter und wieder gewachsen ist. Das gilt besonders für die Jugend. Sie, die bereits in einem Europa ohne Stacheldraht und ohne eisernen Vorhang aufgewachsen ist, die ja die Vorteile grenzüberschreitender Ausbildung und Freundschaften täglich erlebt, sie sieht Europa vor allem als Chance. Das gibt uns Hoffnung.

Wenn wir in diesen Tagen zurückblicken, können wir sagen: Wahrscheinlich ist es uns in Österreich noch sie so gut gegangen wie heute: Großen Dank wollen wir daher jenen zollen, die – sei es als Unternehmer, sei es als Arbeitnehmer – täglich mit ihrem Einsatz die Basis für unseren Wohlstand legen. Hinter unseren Erfolgen steht zu allererst der Fleiß und das Engagement der Österreicherinnen und Österreicher. Fürchten wir uns daher nicht vor der Globalisierung! Wir können standhalten. Im Gegenteil - wir haben jeden Grund, selbstsicher und optimistisch in die Zukunft zu blicken. Wir sind ein gutes Land und Tag für Tag leisten die Menschen ihren Beitrag dafür, dass Österreich weiterhin so bleiben kann. Der Staat ist gefordert, diese Leistungsbereitschaft zu fördern und zu unterstützen, bietet sie doch die Grundlage dafür, dass wir auch in Zukunft eine lückenlose soziale Absicherung für jene bieten können, die sie brauchen. Unser Land verdient auch eine weitsichtige und berechenbare Politik, die überzeugende Antworten auf die Herausforderungen einer globalisierten Welt geben kann

Meine Damen und Herren!

Die Geschichte des neuen Österreich seit dem Jahr 1945 ist eine Erfolgsgeschichte. Daran weiter zu bauen, sie nicht zu gefährden, das ist der Auftrag für uns alle.. Nehmen wir daher gemeinsam die Verantwortung für die Zukunft ernst, damit die Lebenschancen der künftigen Generationen ebenso gesichert sind, wie jene in der Gegenwart.

Herzlichen Dank!
 
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