Kassel (universität) - In 12 simulierten Gerichtsverfahren - von der
Vorlesung der Anklageschrift bis zur Urteilsverkündung - werden am 4. und 5. Dezember elektronische Dokumente
von Juristen der jeweiligen Profession auf ihren Beweiswert geprüft. Sofern die von der Forschungsgruppe TransiDoc
gefundenen Lösungen zur beweiskräftigen Signatur diesen Praxistest bestehen, könnten die simulierten
Verfahren eine Wende an deutschen Gerichten einläuten, wo elektronische Dokumente bisher so gut wie keine
Rolle spielten.
Ein Fallbeispiel: Einige Jahre nach Einführung der elektronischen Aktenführung klagt Herr Rasant gegen
die Eira-Klinik auf Schadenersatz. Nachdem er sich bei einem Motorradunfall einen komplizierten Beinbruch zugezogen
hatte, leidet er nun, Jahre später, an schwerer Arthrose. Herr Rasant ist fest davon überzeugt, dass
sein Leiden auf einen Behandlungsfehler seitens der Klinik zurückzuführen ist. Streitentscheidend im
Prozess ist das Ergebnis der auf die Operation folgenden Nachuntersuchung, über deren Inhalt sich die Parteien
nicht einig sind. Kläger und Beklagte stützen ihre jeweiligen Behauptungen auf verschiedene Versionen
des damals erstellten, elektronisch signierten Untersuchungsberichts. Beide Versionen sind das Ergebnis einer Transformation
des Ausgangsdokumentes. Das Gericht muss nun entscheiden, welchem Dokument es glaubt.
Bei der Transformation der elektronischen Dokumente etwa von Word in PDF - geht die elektronische Signatur verloren
und damit die Prüfbarkeit des Dokuments hinsichtlich seiner Unverfälschtheit und Herkunft. Damit verliert
das Dokument auch seine ursprüngliche Beweiskraft vor Gericht. Die Transformation stellt ein Grundlagenproblem
des elektronischen Geschäftsverkehrs und der elektronischen Verwaltung dar, so Professor Alexander Roßnagel,
der mit dem Projekt TransiDoc - Rechtssichere Transformation signierter Dokumente an der Universität Kassel
den rechtswissenschaftlichen Teil des komplexen Forschungsvorhabens leitet. Eine Transformation von Dokumenten
wird erforderlich, wenn die Lesbarkeit des elektronischen Dokuments trotz vielfachen Versionenwechsels sichergestellt,
das Dokument in ein elektronisches Archiv eingestellt oder eine Papierurkunde in ein elektronisches Dokument umgewandelt
werden soll. Da die Zahl der Datenformate stetig ansteigt, ist die Rechtssicherheit in diesem Bereich zunehmend
gefährdet. Beispielsweise benutzen Architekten über hundert verschiedene elektronische Formate für
ihre Pläne, Baubehörden können aber nur zwei oder drei Formate verarbeiten, sodass die Dokumente
beim Eingang in der Behörde transformiert werden müssen.
Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) geförderte Projekt Transi-Doc untersucht
seit zwei Jahren Lösungen für Transformationsprobleme zum Beispiel in der Medizin bei der Digitalisierung
von Patientenakten, der elektronischen Antragsbearbeitung in der öffentlichen Verwaltung oder im Arbeitsumfeld
von Notaren und Rechtsanwälten. Entsprechend gehören Fachleute der einzelnen Bereiche zu den Projektpartnern:
Beteiligt sind das Zentrum für Informations- und Medizintechnik des Uni-Klinikums Heidelberg (ZIM), die InterComponentWare
AG (ICW), die Curiavant Internet GmbH, die Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung an der
Universität Kassel (provet) sowie die Bundesnotarkammer als assoziierte Partnerin. Konsortialführer ist
das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnik (SIT) in Darmstadt.
In einem interdisziplinären Ansatz haben die Projektpartner gemeinsam nicht nur technische, sondern auch organisatorische
Lösungsvorschläge erarbeitet. In einem zweiten Schritt sind sodann Werkzeuge zur Erzeugung, Bearbeitung
und Prüfung von Lösungen entstanden. Leitgedanke ist dabei die Entwicklung eines Transformationssiegels
für elektronische Daten. Anhand dieses Siegels sollen spätere Gutachter wie bei einer Beglaubigung genau
nachvollziehen können, was wann wie mit dem Dokument geschah. Provet bearbeitet den rechtwissenschaftlichen
Teil dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekts.
Um zu testen, inwieweit diese Konzepte geeignet sind, mit den elektronisch signierten Dokumenten auch noch nach
einer Transformation Beweis zu erbringen, haben provet und SIT eine Simulationsstudie entwickelt, die im November
und Dezember 2006 durchgeführt wird. Richter, Rechtsanwälte und Gutachter unterziehen in zwölf gerichtlichen
Verfahren, deren Streitgegenstand realistischen Streitfällen nachgestellt ist, die entwickelten Konzepte und
prototypischen Lösungen dem Härtetest der prozessualen Auseinandersetzung. Das Ergebnis der Simulationsstudie
erlaubt eine Einschätzung, ob Herr Rasant den einleitend vorgestellten Fall in der Realität gewinnen
würde. Als Höhepunkt der Simulationsstudie finden am 4. und 5. Dezember die mündlichen Gerichtsverhandlungen
zu den Streitfällen statt. |