Am 21. Jänner 1907 ebnete das Herrenhaus den Weg zum neuen Wahlrecht
Wien (pk) – Am 1. Dezember 1906 hatte das Abgeordnetenhaus mit 194 zu 63 Stimmen ein neues Wahlgesetz
beschlossen, welches das freie, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für Männer beinhaltete. Ehe diesem
Gesetz jedoch entsprechende Gültigkeit zukommen konnte, musste sich auch die zweite Kammer des Reichsrates,
das Herrenhaus, zu einer Zustimmung durchringen. Die altehrwürdigen Hochadelsgeschlechter sahen es gleichwohl
mit weit weniger Freude, dass in Hinkunft auch der gemeine Mann sein Votum würde abgeben dürfen, und
dementsprechend gespannt blickte die Monarchie am 21. Januar 1907 auf jene Mitglieder, die sich zur 69. Sitzung
der 17. Session des Herrenhauses einfanden.
Karl Schwarzenberg: Neues Wahlrecht wird desintegrierend wirken
Als erster Debattenredner ergriff Karl Fürst Schwarzenberg (1859-1913) des Wort. Schwarzenberg gehörte
dem Hause seit 1904 an, als er die Nachfolge seines berühmten Vaters gleichen Namens angetreten hatte, der
ein Vierteljahrhundert im Herrenhaus zugebracht und eine wichtige Rolle in der böhmischen Politik gespielt
hatte. Der "junge" Schwarzenberg nahm schon im Vorfeld der Debatten eine bekannt skeptische Haltung zur
Wahlrechtsreform ein, und daran ließ er auch in seiner Rede vor dem Herrenhaus keinen Zweifel aufkommen:
"Auch die Hoffnungen, die seitens der hohen Regierung an die Wahlreform geknüpft worden sind, können
mich in meiner Ansicht betreffend das Prinzip des allgemeinen, gleichen Wahlrechts nicht schwankend machen."
Schwarzenberg verwies darauf, dass sich die Befürworter einer Wahlrechtsreform positive Auswirkungen auf die
Wehrbereitschaft der Bevölkerung erwarteten und erinnerte daran, dass diese Frankreich als Beispiel für
ein Land genannt hätten, in welchem die "suffrage universelle" gelte. Doch gerade Frankreich sei,
so Schwarzenberg, "nach der ersten Schlacht jämmerlich zugrunde gegangen, indessen unser Reich lange
und intensive Kriege geführt hat und aus ihnen glücklich hervorgegangen ist, merkwürdiger Weise
ohne eine moderne Verfassung."
Vielmehr habe das allgemeine Wahlrecht in Frankreich einen Kulturkampf zur Folge gehabt, der für "Verheerungen"
und unerfreuliche Zustände verantwortlich sei. Das allgemeine Wahlrecht werde daher nicht, wie von seinen
Befürwortern erhofft, dem Reiche neue Stabilität bringen, sondern vielmehr desintegrierend wirken, da
durch eine solche Vorgangsweise nur extreme Kräfte gestärkt werden würden. Ein demokratisches Parlament
werde "zumeist jenem Volkswillen Vorschub leisten, welcher leider bei uns auseinanderstrebt, weil ihm der
Sinn für das ganze Reich mangelt."
Auch sei es eine Illusion zu glauben, ein allgemeines Wahlrecht werde dem Nationalitätenhader ein Ende bereiten.
Vielmehr werde zum nationalen Zwist nun auch noch der Klassenkampf hinzutreten, meinte Schwarzenberg: "Das
wird der Streit der Klassen gegeneinander sein, und so wie in anderen Staaten, wo der Sozialismus in der Zunahme
begriffen ist, sich der Nationalismus ihm entgegenstellt, so glaube ich, wird auch hier das nationale Moment und
vielleicht auch der nationale Streit keine Einbuße erleiden."
Schwarzenberg warnte seine Zuhörer auch davor, dass mit einer solchen Novelle wahre Dammbrüche provoziert
werden könnten. Die Wahlreform habe noch nicht einmal das Reichsgesetzblatt passiert, und schon würden
weitergehende Forderungen aufgestellt, würde eine umfangreiche Demokratisierung aller zu wählenden Institutionen
begehrt. Und wenn sich die Regierung eine Belebung des Parlamentarismus durch neue Elemente erwarte, so werde sie
gerade in dieser Hoffnung schwer enttäuscht werden: "Denn wenn seitens der Regierung geglaubt wird, dass
man statt mit den Feudalen oder mit den engherzigen Kapitalisten oder vielleicht auch mit den bösen Klerikalen
ein leichteres Auskommen mit der sozialdemokratischen Partei finden wird, so geben sich die Herren in dieser Hinsicht
einer gewissen Illusion hin, weil, wenn auch die Partei, die heute ein gewisses freundliches Gesicht gezeigt hat,
sich einmal im Sattel fühlen und das erreicht haben wird, was sie anstrebt, sie wohl den Pferdefuß hervorkehren
und dann den Exzellenzen und Hofräten, die sich bisher ziemlich intensiv um die Sympathien der Sozialdemokraten
beworben haben, wohl Valet sagen wird und ihnen nicht mehr so zu Gesichte stehen dürfte wie heute."
Gerade da er solche Auspizien an die Wahlreform knüpfen müsse, sei es ihm, Schwarzenberg, unmöglich,
für diese Reform zu stimmen. Zudem seien es die Umstände, die diese Reform in seinen Augen besonders
"odios" machten: "Ich glaube, es liegt mehr als ein innerer Widerspruch darin, wenn von dem Parlament
gesagt werde, es sei unfähig, des Lebens unwert, und gleichzeitig von ihm die größtmögliche
legislative Aktion verlangt wird, die man überhaupt einem Parlamente aufzubürden in der Lage ist. Darin
ist zumindest ein Widerspruch gelegen, und ich muss offen gestehen, lieber hätte ich ein ehrliches Oktroi
gesehen als eine mit dem Mäntelchen des Konstitutionalismus erzwungene Wahlreform."
Schwarzenberg erklärte, er wolle also auch in dieser Stunde prinzipienfest bleiben und erinnerte daran, dass
er schon 1891 als damals frisch gewähltes Mitglied des Abgeordnetenhauses, sein Mandat nach nur wenigen Wochen
wieder niedergelegt habe, weil er es mit seinem Gewissen nicht habe vereinbaren können, der seinerzeitigen
Initiative des Premiers Taaffe nach Schaffung einer allgemeinen Wählerkurie zuzustimmen. Auch nun halte er
das allgemeine und gleiche Wahlrecht für mit der Monarchie unvereinbar, weshalb man von ihm nach wie vor nicht
verlangen könne, einer derartigen Vorlage die Zustimmung zu geben, da von einem solchen Gesetz eine große
Umwälzung in der Gesellschaft zu erwarten stehe. Schwarzenberg zeigte sich davon überzeugt, dass ihm
die Geschichte dereinst recht geben werde, weshalb es notwendig gewesen sei, dafür Sorge zu tragen, dass dieses
Gesetz nicht einfach mit einem schlichten "Ja und Amen" von diesem Hause verabschiedet werde.
Franz Thun: Zustimmung trotz "Schönheitsfehler"
Für die Vorlage meldete sich hingegen Franz Graf Thun zu Wort, der, im 60. Lebensjahre stehend, dem Hause
schon seit nahezu 30 Jahren angehörte. Er pflichtete seinem Vorredner bei, dass die Namen jener, die gegen
diese Vorlage stimmten, einen ebenso guter Klang hätten wie die Namen jener, "welche, sich auf politisch
ernste Erwägungen stützend, sich genötigt sehen, für das Gesetz zu stimmen." Gleichzeitig
ersuchte er seinen "sehr verehrten Schwager und Freund" Schwarzenberg, ihm zu verzeihen, dass er dessen
Kritik an der Haltung der Wiener Bürokratie nicht zu teilen vermöge. Dem Gesetz selbst stand Thun teilweise
skeptisch gegenüber und erachtete es als "unglücklich gemacht". So stellte er beispielsweise
die Frage, ob die geplante Zahl von Sitzen (es sollten insgesamt 516 Mandate zur Vergabe gelangen) nicht zu groß
wäre, um ein wirklich arbeitsfähiges Parlament zu garantieren: "Bei der Abänderung der Wahlreform
hätte man an die Frage herantreten sollen, ob es nicht vorteilhafter wäre, die Zahl der Mitglieder eher
zu restringieren als zu erweitern." Auch die seines Erachtens zu gering veranschlagte Sesshaftigkeit hielt
Thun für ein Problem, vertrat er doch die Auffassung, dass "Alteingesessene" von ihresgleichen vertreten
werden sollten, wodurch man in der Lage wäre, die "gefährlichen oder bedenklichen Elemente von einem
Einflusse bei den Wahlvorgängen fernzuhalten".
Dennoch votierte Thun für die Annahme des Gesetzes. Er habe lediglich auf einige "Schönheitsfehler"
hinweisen und "Bedenken hinsichtlich des Inhalts und der Struktur des Gesetzes" äußern wollen,
doch davon abgesehen schließe er "mit dem Wunsche, das hohe Haus wolle in seiner überwiegenden
Majorität dem Gesetzesentwurf in der Form die Zustimmung geben, in welcher er vom Abgeordnetenhaus an das
Herrenhaus gelangt ist".
Ministerpräsident Max Beck: Positive Auswirkungen der Reform
Ministerpräsident Max Wladimir Beck (1854-1943) zeigte sich erfreut über die in Aussicht stehende Zustimmung
des Herrenhauses: "Auch diesmal hat es das österreichische Herrenhaus verstanden, den Forderungen der
vorwärts schreitenden Entwicklung mit offenem Verständnis zu begegnen und dabei den konservativen Rücksichten
zu genügen, die in jedem Gemeinwesen, besonders aber in unserem althistorischen Staatsgebilde volle Beachtung
erheischen." Den Prognosen "seiner Durchlaucht" könne er hingegen nicht beitreten, meinte Beck
in Bezugnahme auf die Rede Schwarzenbergs. Vielmehr zeigten sich schon jetzt, da der Wahlreform noch gar nicht
Gesetzeskraft erwachsen sei, ihre positiven Auswirkungen.
"Es ist eine oft ausgesprochene Wahrheit, dass die Grundmaxime der österreichischen Politik der Kompromiss
bilden muss, die ehrenvolle Ausgleichung widerstreitender Interessen. Nun hat die Wahlreform das Wunder vollbracht,
dass im Laufe ihrer Verhandlung alle damit verbundenen überaus heiklen und schwierigen, weil mit Machtinteressen
verknüpften Gegensätze eine glückliche und überraschend glatte, einverständliche Lösung
gefunden haben. Da darf man wohl sagen: das kann keine schlechte Sache sein, die schon im Stadium des Werdens einen
solchen vermittelnden und ausgleichenden Einfluss zu entfalten vermochte."
Es sei bemerkenswert, so Beck weiter, dass, kaum sei die Debatte über die Wahlreform in Gang gekommen, die
negativen Erscheinungen, die das Haus unnötig ins Gespräch gebracht hatten, ein Ende gefunden hätten,
dürfe man doch nicht vergessen, dass unter dem Einfluss radikaler Tendenzen die positiven Aufgaben des Parlamentarismus
systematisch gelitten hätten: "Kein Wunder, wenn sich der Unmut der weitesten Bevölkerungskreise
über diese Erscheinungen immer häufiger bis zur grundsätzlichen Gegnerschaft gegen das Repräsentativsystem
steigerte. Die Reaktion gegen die Obstruktion war fast ebenso unheilvoll wie die Obstruktion selbst."
Beck weiter: "Dieser Spuk musste gebannt werden, und die Wahlreform hat ihn gebannt durch die Weckung des
Gefühls der politischen Verantwortlichkeit." Deshalb sei es gelungen, alle Schwierigkeiten zu überwinden,
erklärte der Regierungschef. Es habe sich dabei freilich um einen Ritt über den Bodensee gehandelt, doch
die handelnden Personen seien nicht wie der Reiter Neurastheniker und Pessimisten gewesen, die bei Erhalt der Kunde,
über den zugefrorenen See geritten zu sein, das Zeitliche segneten, und daher dürften sie den Blick in
die Zukunft werfen, und dies mit einer bestimmten Dosis Optimismus.
Dabei gebe er sich freilich keinen Illusionen hin. Keinesfalls verkenne er die Schwierigkeiten, mit denen man sich
auch fürderhin konfrontiert sehen könnte, zumal zu Beginn des neuen parlamentarischen Abschnitts, als
dieser noch von einer gewissen Ungelenkigkeit geprägt sein könnte. "Aber ich schöpfe Beruhigung
aus der Tatsache, dass in den Massen ein stark konservativer Sinn lebt, insbesondere die Landbevölkerung,
deren politisches Naturell in unserem großen agrikolen Staate sehr wesentlich in Betracht kommt, wird mit
ihrer Liebe zur Scholle eine starke Wehr gegen umstürzende Tendenzen bilden", zeigte sich Beck überzeugt.
"Der große politische Gedanke, der dieses Reich hat erstehen lassen, ihm stete pragmatische Fundamente
verliehen und zu der erprobten Gemeinsamkeit geführt hat, sodass es im Herzen Europas zu einer der wertvollsten
Friedensbürgschaften geworden ist, er muss sich in der Neuordnung der Dinge, vielleicht geläutert, aber
unversehrt wieder finden."
So gab Beck abschließend seiner Überzeugung Ausdruck, dass "das neue Parlament eine feste Stütze
und einen sicheren Rückhalt" für die Selbstbestimmung "unseres Schicksals" darstellen
werde: "Auch darum glaube ich, dass sie nunmehr mit voller Beruhigung den Schlussstein zu dem großen
Werke legen können."
Innenminister Bienerth: Akzeptable Kompromisse gefunden
Schließlich meldete sich noch Innenminister Richard von Bienerth (1863-1918), der im Folgejahr Beck als Regierungschef
ablösen sollte, zu Wort. Er teilte nicht die Bedenken, wonach eine größere Zahl an Abgeordneten
der Arbeitsfähigkeit des Hauses abträglich sein könnte: "Es gibt andere Parlamente, die eine
noch größere Anzahl von Mitgliedern aufweisen und bei denen die Arbeit trotzdem anstandslos vonstatten
geht." Allerdings wäre dazu eine entsprechende Änderung der Geschäftsordnung wünschenswert.
Der Minister ging sodann vor allem auf konkrete Details der Vorlage ein und erläuterte deren Hintergründe
sowie den entsprechenden Verlauf der Verhandlungen zu den entsprechenden Punkten, die von Thun releviert worden
waren. Hier habe man, so Bienerth, akzeptable Kompromisse gefunden. Er schloss seine Ausführungen mit den
Worten: "Von diesen Gesichtspunkten aus erlaube ich mir das Hohe Haus zu bitten, dem vorliegenden Gesetzesentwurf
die Zustimmung nicht versagen zu wollen."
Abstimmung: Mit Zwei Drittel-Mehrheit in Dritter Lesung angenommen
Nach den Ausführungen Bienerths schritt das Haus zur Abstimmung, und nur wenig später konnte Präsident
Alfred Windischgrätz (1851-1927) feststellen: "Das Gesetz ist auch in dritter Lesung mit der erforderlichen
Zweidrittelmehrheit vom hohen Hause angenommen." Nur fünf Tage später, am 26. Januar 1907, wurde
die Wahlrechtsreform von Kaiser Franz Joseph bestätigt, wodurch im Mai jenes Jahres die ersten Wahlen nach
dem freien, gleichen, allgemeinen und direkten Wahlrecht durchgeführt werden konnten. |