München (ifo) - Zum sechsten Mal legt die European Economic Advisory
Group at CESifo den Bericht zur Lage der europäischen Wirtschaft vor. Neben einer Konjunkturprognose und den
kurzfristigen Aussagen zur Wirtschaftspolitik befasst sich der Bericht in diesem Jahr mit den Komponenten eines
geeigneten europäischen Wirtschaftsmodells.
Hauptaussagen der kurzfristigen Analyse:
- Das Wachstum der Weltwirtschaft schwächt sich nur leicht ab. Europa erholt sich langsam, aber stetig.
- Wegen niedriger Inflationsraten sind weitere Zinserhöhungen der EZB nur schwer zu rechtfertigen.
- Die europäischen Staaten sollten den gegenwärtigen Aufschwung stärker zur Konsolidierung der
Staatsfinanzen nutzen. Die Staatsausgaben sollten verstärkt in mehr Investitionen, Bildung sowie Forschung
und Entwicklung fließen.
- Die gemeinsame Geldpolitik im Euroraum entspricht nicht immer den Belangen der einzelnen Länder. Insbesondere
Italien und Irland stehen unter großem Anpassungsdruck. Zur Lösung des italienischen Anpassungsproblems
sollte eine umfangreiche Deregulierung erfolgen, um die Produktivität anzukurbeln.
- Die zehn EU-Beitrittsländer des Jahres 2004 wachsen schnell. Wenn sie die anderen Kriterien der Euro-Einführung
erfüllen, sollte ihnen ein Inflationsabschlag gewährt werden, um ihnen den Beitritt zur Eurozone schnell
zu ermöglichen.
Schlussfolgerungen zum europäischen Wirtschaftsmodell:
- Die wirtschaftliche Entwicklung der skandinavischen Länder ist zwar gut, aber nicht ganz so positiv, wie
oft behauptet wird. Die Erfahrungen zeigen, dass ohne marktwirtschaftliche Reformen keine Erfolge erzielt werden
können und dass die Reformen auf den Güter- und Arbeitsmärkten Hand in Hand gehen sollten.
- Der Steuerwettbewerb hat zu einer Senkung der Körperschaftsteuern in Europa geführt und eine Diskussion
über Verteilungsgerechtigkeit entzündet. Um Kapital effizient zu besteuern, sollte eine Erhöhung
der Mehrwertsteuer mit einer gleichzeitigen Senkung der Einkommensteuer einhergehen.
- Wirtschaftlicher Nationalismus in Form nationaler Champions, dem Verhindern grenzüberschreitender Unternehmenszusammenschlüsse
oder Verkäufe heimischer Unternehmen vermindert die wirtschaftliche Effizienz. Hauptursache des wirtschaftlichen
Nationalismus ist die Beteiligung des Staates an den Unternehmen. Diese sollte eng begrenzt und europaweit einheitlich
geregelt werden.
Konjunkturprognose und Wirtschaftspolitik
Das Wachstum der Weltwirtschaft wird sich mit einer Rate von etwas weniger als 5 Prozent in diesem und
im nächsten Jahr leicht abschwächen. Auch in den Ländern der Europäischen Union wird das Wirtschaftswachstum
etwas zurückgehen, jedoch ohne die Erholung ernsthaft zu gefährden. Das reale BIP wird im Jahr 2007 um
2,2 Prozent und im Folgejahr um 2,5 Prozent steigen.
Zwar werden sich die Budgetdefizite der EU-Mitgliedstaaten verringern, aber die Finanzierungsprobleme der einzelnen
Staaten sind noch lange nicht überwunden. Die bisher erfolgte Konsolidierung ist vor dem Hintergrund der demographischen
Entwicklung keineswegs ausreichend. Ausgabenschwerpunkte müssen Investitionen, Bildung sowie Forschung und
Entwicklung sein.
Das geldpolitische Umfeld wird sich durch eine weitere Aufwertung des Euro und weiter rückläufige Inflationsraten
straffen. Der Leitzinssatz der EZB liegt bereits über der Zielmarke, so dass ein weiterer Zinsanstieg kaum
zu begründen ist.
Die gemeinsame Geldpolitik im Euroraum hat in der Vergangenheit nicht immer den Belangen der einzelnen Länder
entsprochen. Noch ist keine Entwicklung hin zu einer verstärkt gleichlaufenden Konjunktur zu sehen. Gemessen
an ihrer wirtschaftlichen Bedeutung haben die großen Staaten innerhalb der EZB zu wenig Gewicht.
Italien und Irland - europäische "Problemkinder"
Italien und Irland sind Paradebeispiele für Länder mit Anpassungsproblemen im Euroraum.
Irland erfuhr durch die Einführung des Euro einen "Wachstumsschock". Die damit verbundene starke
Aufwertung des realen Wechselkurses hat zu einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit geführt,
der insbesondere bei einem weltweiten Abschwung in eine starke Rezession münden kann. Irland sieht sich zwei
bisher völlig unterschätzten Problemen gegenüber: Der Boom im Bausektor und der starke Anstieg der
Immobilienpreise stellen bei einer Abschwächung des weltweiten Wirtschaftswachstums ein enormes Risiko für
die irische Ökonomie dar. Ein zweites Problem ist die Immigration von Arbeitskräften während eines
Booms, die einen Anstieg der Konsumausgaben zur Folge hat. Dadurch besteht die Gefahr einer Überhitzung.
Im Gegensatz zu Irland sah sich Italien starken negativen Schocks ausgesetzt: zunehmender Wettbewerb durch aufstrebende
Länder und gleichzeitiger Rückgang der Produktivität. Zudem stiegen die Löhne in Italien schneller
als in anderen Ländern der Eurozone, was unweigerlich eine reale Aufwertung nach sich zog. Die gegenwärtig
durchgeführte Absenkung der Lohnsteuer wird nicht ausreichen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
Einziger Ausweg ist eine Deregulierung der Märkte für Güter- und Dienstleistungen zur Verbesserung
der Produktivität.
Inflationsratenabschlag für den Beitritt zur Währungsunion
Das Wachstum in den zehn EU-Beitrittsländern des Jahres 2004 liegt deutlich über den Wachstumsraten
der alten EU-Mitglieder. Bisher konnte aber nur Slowenien der Währungsunion beitreten. Litauen und Estland
scheiterten an zu hohen Inflationsraten: Die Bewerbung Litauens wurde abgelehnt, Estland wurde nahe gelegt, auf
einen Beitrittsantrag zu verzichten.
Wird durch die strenge Auslegung des Inflationskriteriums der Beitritt zur Währungsunion verschoben, entstehen
für Länder, die am EWS-II teilnehmen, Risiken: Bei einer Überhitzung wird es zu einem Kapitalabfluss
und zu einer ernsten Finanzmarktkrise kommen. Diese Länder sollten, falls sie die anderen drei Maastricht-Kriterien
erfüllen und die Inflationsrate ein hohes Wirtschaftswachstum widerspiegelt, der Eurozone beitreten dürfen.
Nach dem Balassa-Samuelson-Theorem sollte diesen Ländern ein Abschlag in Höhe von maximal einem Prozent
auf die Inflationsrate gewährt werden können.
Das Skandinavische Modell - eine Alternative?
Das Skandinavische Modell wird oft als Alternative zum angelsächsischen Wirtschaftsmodell gesehen, verbindet
es doch eine gute wirtschaftliche Entwicklung mit einer hohen sozialen Absicherung. Finnland und Schweden weisen
ein hohes Wachstum auf, auch wenn sich der Arbeitsmarkt nicht ganz so gut entwickelt hat. In Dänemark ist
die Situation genau entgegengesetzt: Trotz guter Arbeitsmarktlage reichen die Wachstumsraten nicht an die der skandinavischen
Nachbarn heran.
Die skandinavischen Länder haben durch die hohe Frauenerwerbstätigkeit die Anzahl der Beschäftigten
ausgeweitet, aber nicht zwingend auch die Anzahl der Arbeitsstunden. Zwar liegen die Pro-Kopf-Arbeitsstunden über
denen in vielen anderen europäischen Ländern, aber unter denen der USA. Der Anteil staatlicher Transferzahlungen
ist zudem relativ hoch.
Die Erfahrungen der skandinavischen Länder zeigen, dass Staaten ohne marktwirtschaftliche Reformen keine Erfolge
erzielen können. Im Gegenteil, die Deregulierung der Gütermärkte hat einen wichtigen Anteil am hohen
Wachstum. Das Beispiel Dänemark zeigt zudem, dass eine begrenzte Absenkung der großzügigen Transferzahlungen
und höhere Anforderungen an die Arbeitslosen die Arbeitslosigkeit deutlich verringern kann. Die oft zitierte
so genannte 'Flexicurity'-Erklärung für die niedrige Arbeitslosigkeit in Dänemark - die Kombination
von großzügiger Arbeitslosenunterstützung mit geringem Kündigungsschutz - ist ein Mythos,
der ökonomischen Analysen nicht Stand hält.
Reformen auf den Güter- und Arbeitsmärkten können wirkungsvoll sein. Notwendig sind allerdings die
Umgestaltungen aller zusammenhängender Sozialversicherungssysteme (Arbeitslosenversicherung, Frühverrentung,
Gesundheitswesen etc.). Andernfalls wandern die Empfänger von einem System zum anderen.
Keine verzerrende Kapitalbesteuerung
Die Körperschaftsteuern in Europa sind durch den Steuerwettbewerb mit den neuen Mitgliedsländern deutlich
gesunken. Diese Entwicklung wird als ungerecht kritisiert, weil die Länder mit den niedrigsten Steuersätzen
gleichzeitig Fördermittel der EU erhalten. Fördermittel und niedrige Steuern haben aber das gleiche Ziel:
Kapital soll angezogen und Einkommensunterschiede innerhalb der EU verringert werden.
Auch in der Zukunft ist mit einem weiteren Rückgang der Körperschaftsteuern zu rechnen, was unweigerlich
Fragen der Verteilungsgerechtigkeit aufkommen lässt. Als Lösung wird eine "Bestimmungsland-Steuer"
vorgeschlagen, erhoben von Kapitalbesitzern an dem Ort ihres Konsums. Diese Steuer hat den Vorteil, die Standortentscheidungen
der Unternehmen nicht zu beeinflussen. Eine solche Steuer kann über eine Mehrwertsteuererhöhung bei gleichzeitiger
Absenkung der Einkommensteuer eingeführt werden.
Ein weiterer Vorteil für den politischen Prozess ist, dass jedes Land individuell einen Anreiz hat, eine solche
Steuerreform einzuführen, da es Kapital aus dem Ausland anlocken wird. Beteiligt sich jedes Land an diesem
System, wird der Steuerwettbewerb größtenteils verschwinden.
Keine nationalen Champions
Einige der EU-Länder haben in den vergangenen Jahren eine Politik des wirtschaftlichen Nationalismus verfolgt.
So wurden beispielsweise grenzüberschreitende Unternehmenszusammenschlüsse verboten und 'nationale Champions'
ausgerufen. Dies nutzt in erster Linie privaten Interessengruppen, schadet aber dem Verbraucher.
Wirtschaftlicher Nationalismus kann für die einheimischen Bürger positiv sein, wenn die Monopolgewinne,
die im Ausland entstehen, an die heimische Wirtschaft gegeben werden - auf Kosten der Ausländer. Normalerweise
werden die Gewinne aber durch die Verzerrungen der Märkte, die durch die nationale Politik entstehen, aufgehoben.
Eine Lockerung der Eintrittsbarrieren für ausländische Firmen innerhalb der EU sollte aber koordiniert
erfolgen. Andernfalls könnten die Reformen verschoben werden, um den nationalen Firmen Vorteile zu verschaffen.
Hauptursache des wirtschaftlichen Nationalismus ist die Beteiligung des Staates an den Unternehmen. Um wirtschaftlichen
Nationalismus zu bekämpfen, sollte staatliches Eigentum begrenzt und eine europaweit einheitliche Regelung
eingeführt werden, die Staatseigentum in Wettbewerbsmärkten einschränkt.
Zur European Economic Advisory Group (EEAG) at CESifo:
Die EEAG besteht aus einem Team von acht Volkswirten aus acht europäischen Ländern.
Den derzeitigen Vorsitz hat Lars Calmfors (Universität Stockholm). Die Mitglieder sind, Giancarlo Corsetti
(European University Institute, Florenz), Michael P. Devereux (University of Oxford), Gilles Saint-Paul (Universität
Toulouse, stellv. Vorsitzender), Seppo Honkapohja (Universität Cambridge), Jan-Egbert Sturm (ETH, Zürich),
Xavier Vives (IESE Business School, Barcelona) und Hans-Werner Sinn (ifo Institut und Universität München.
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