Psychodrama "ungeregelter Schutzweg"  

erstellt am
07. 03. 07

Das Kuratorium für Verkehrssicherheit hat in einer qualitativen Studie die Interaktion zwischen Fußgängern und Autofahrern untersucht
Wien (kfv) - Seit 1. Oktober 1994 ist der prinzipielle Vorrang des Fußgängers auf ungeregelten Schutzwegen in der Straßenverkehrsordnung verankert. Der Lenker eines Fahrzeuges hat einem Fußgänger, der sich auf einem Schutzweg befindet, oder diesen erkennbar benützen will, das ungehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. „Tatsache ist, dass wir seit 1995 einen kontinuierlichen Anstieg der Fußgängerunfälle auf ungeregelten Schutzwegen beobachten“, sagt Dr. Othmar Thann, Direktor des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KfV). „Denn an der Frage, was „erkennbar benützen“ bedeutet, scheiden sich die Geister. Während es 1995 insgesamt 501 Unfälle mit Fußgängern auf ungeregelten Schutzwegen gab, lag die Zahl im Jahr 2005 bei 721.

Das KfV hat sich deshalb die Kommunikation am ungeregelten Schutzweg zwischen den „Hauptkontrahenten“ Fußgänger und Autofahrer in Tiefeninterviews angesehen. Die Haupterkenntnisse: Die Betroffenen selbst sagen, dass die Formulierung „erkennbar benützen“ unklar und schwammig ist und die Fußgänger in einer trügerischen Sicherheit wiegt. Sie wissen aber prinzipiell, dass der Fußgänger Vorrang und der Autofahrer Nachrang hat. Diese unsichere Situation beeinflusst das Sicherheitsgefühl negativ und führt zu massivem Fehlverhalten auf beiden Seiten. Interessant dabei ist, dass sich die Kontrahenten ihrer Fehler vollkommen bewusst sind und mit Mitteln der Kommunikation einen „Kampf mit Platzpatronen“ führen. Sie gehen bis an die Grenzen des Gegenübers, lassen sich aber noch Rückzugsmöglichkeiten offen, um Unfälle zu vermeiden – nicht immer mit Erfolg.

„Ich weiß, was du zu tun hast. Ich weiß, was ich zu tun habe.“
Über ihre gegenseitigen Rechte und Pflichten sind sich Fußgänger und Autofahrer weitgehend einig. „Beide Parteien wissen, dass Fußgänger am ungeregelten Schutzweg prinzipiell Vorrang haben und es wissen auch beide, dass der Autofahrer Nachrang hat“, zitiert DI Peter Felber, Leiter der KfV-Landesstelle Steiermark und Schutzwegexperte, die Befragung. Einigkeit herrscht auch darüber, dass der Fußgänger trotz seines Vorranges auf den Verkehr achten muss und die Fahrbahn nicht überraschend betreten darf. Die „Pflichtenlast“ liegt aus Sicht der Fußgänger, vor allem aber aus Sicht der Autofahrer auf den Schultern der Pkw-Lenker. Sie fühlen sich „rechtlos“. „Hier steckt der Kern des Konflikts: „Der Fußgänger hat zwar das Gesetz auf seiner Seite, der Autofahrer kann aber seine physische Übermacht in Form eines tonnenschweren Gefährts entgegenhalten“, sagt Felber. „Und er spielt diese Macht auch aus.“

„Ich weiß, was du falsch machst. Ich weiß, was ich falsch mache.“
Ein ungeregelter Schutzweg wird von den „Kontrahenten“ als äußerst konfliktträchtig eingeschätzt und beeinflusst das subjektive Sicherheitsgefühl negativ. Dadurch ist das Verhalten am ungeregelten Schutzweg sehr oft ein Fehlverhalten. Fußgänger werden bezichtigt, dass sie zu wenig auf den Verkehr achten, dass sie Verkehrsregeln missachten, überraschend auf die Fahrbahn steigen und nicht eindeutig zu erkennen geben, dass sie queren wollen.
Autofahrer werden als aggressiv erlebt, sie fahren zu schnell und fahren teilweise noch an Fußgängern vorbei, wenn diese schon am Schutzweg stehen. Es schreibt also jeder dem anderen im gleichen Maße Fehler zu. Es ist aber bei der Befragung klar zutage getreten: Beide Seiten kennen ihre eigenen Fehler ganz genau und sind sich vollkommen bewusst, dass sie oft rechtswidrig, rücksichtslos und unvorsichtig handeln.

Rationale und emotionale Ursachen des Fehlverhaltens
Grundsätzlich wollen Fußgänger und Autofahrer Unfälle und Verletzungen vermeiden, beide befinden sich aber in einer komplexen Situation. Der Zeitdruck ist hoch, sie müssen die Verkehrslage in Sekundenbruchteilen beurteilen, auf Witterung und Lichtverhältnisse achten. „Gleichzeitig beginnen durch das niedrigere Sicherheitsempfinden am ungeregelten Schutzweg auch emotionale Aspekte zu wirken“, erläutert Felber. „Es ist ein Kampf mit Platzpatronen: Beide Seiten versuchen durch Kommunikation bis an die Grenzen des anderen zu gehen. Allerdings lassen sie sich immer eine kleine Rückzugsmöglichkeit offen, um Unfälle zu vermeiden.“ Die Gegner tasten ihre Position in der Rangordnung ab und kämpfen um die dominante Rolle.

Kommunikation als Fehlerquelle und Gefahrenpotenzial
Die Kommunikation am ungeregelten Schutzweg ist mehrdeutig und daher fehleranfällig.
Der Blickkontakt ist für Fußgänger ein wesentlicher Sicherheitsfaktor beim Überqueren der Straße. Er versteht das Suchen des Blickkontakts durch den Autofahrer als „du darfst gehen“. Umgekehrt wird von den Fußgängern auch genau verstanden, dass der Autofahrer den Blickkontakt verweigert, wenn er weiterfahren will. „Allerdings hat der Blickkontakt für Autofahrer generell eine niedrigere Priorität, weil sie durch viele andere Sachen abgelenkt sind. Ein eindeutiges Zeichen seitens des Fußgängers wäre vielen lieber“, sagt Felber.

Fatal kann das Spielen von Desinteresse seitens des Fußgängers enden. Die Befragten gaben an, betont unbeteiligt zu wirken, wenn sie beim Schutzweg stehen, aber nicht queren wollen. Autofahrer wissen das zwar, können aber zwischen gespielter und echter Ablenkung des Fußgängers nicht unterscheiden. Gefährlich ist der Einsatz der Lichthupe: Sie wird von den Autofahrern eingesetzt, wenn sie den Fußgänger über die Straße lassen wollen. Sie wird aber auch verwendet, wenn sie Fußgänger nicht queren lassen wollen. Fehlinterpretationen sind vorprogrammiert. Das Rudelverhalten ist auf beiden Seiten stark ausgeprägt. Während Fußgänger sich in der Gruppe sicher fühlen und queren wollen, wollen Autofahrer beim Anblick einer Gruppe eher weiterfahren, da sie Zeiteinbußen befürchten.

Auch bei verstärktem Verkehrsaufkommen verhalten sich Autofahrer und Fußgänger genau entgegengesetzt: Fußgänger wollen noch schnell über die Straße, um nicht ewig warten zu müssen. Autofahrer wollen hingegen den hinter ihnen nachdrängenden Verkehrsfluss nicht aufhalten und weiterfahren.

Fazit: Ungewissheit führt zu Unsicherheit
Die Regelungen der Straßenverkehrsordnung haben sich also in einem teilweise sehr bewusst unklaren Verhalten von Fußgängern und Autofahrern niedergeschlagen. Dazu kommt noch ein weiteres Problem. „Leider ist man viel zu oft der Meinung, dass ein Schutzweg alle Probleme lösen kann“, sagt Felber. „Dadurch werden aber viele Schutzwege falsch und technisch mangelhaft angelegt. Das führt wiederum zu Kommunikationsproblemen bei den Beteiligten.“

Was tun mit den ungeregelten Schutzwegen?
„Es wäre sinnvoll, alle ungeregelte Schutzwege auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen“, fordert Thann. „Und auch beim Anlegen neuer Schutzwege sollte genauer darauf geachtet werden, ob er wirklich sinnvoll ist.“ In punkto Kommunikation müsse man langfristig eine Verhaltensänderung durch Bewusstseinsbildung bewirken. Allen Beteiligten muss klar sein, dass ihr eigenes Verhalten den Grad der eigenen und fremden Sicherheit mitbestimmt. „Gerade wenn einen das Gesetz weitgehend von Pflichten befreit, muss man für sich selbst umso mehr Verantwortung übernehmen, rücksichtsvoll und eindeutig agieren“, meint Thann weiter. Daher fordert das KfV, schon bei der Verkehrserziehung stärker anzusetzen und Kindern zu vermitteln, dem Gegenüber am ungeregelten Schutzweg eindeutige Signale zu geben. Natürlich müsse man sich vor allem über die gesetzliche Regelung noch einmal Gedanken machen. „Ein Schuss aus der Hüfte wäre jetzt genau so schlecht, aber alle zuständigen Stellen sollten sich gemeinsam überlegen, wie man Rechte und Pflichten für die betroffenen Verkehrsteilnehmer besser definieren kann“, sagt Thann. Und schließlich sollte die Bezeichnung „Schutzweg“ überhaupt gestrichen werden – denn er täuscht eine Sicherheit vor, die in vielen Fällen nicht gegeben ist.
 
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