Sehr geehrte Damen und Herren,
Die jüngere Generation der Nachgeborenen, wir alle, die wir das Glück haben, vom Krieg und seinen unmittelbaren
Folgen verschont geblieben zu sein, können uns heute kaum mehr vorstellen, unter welchen Bedingungen die Wiedererrichtung
der Republik am 27.April 1945 vonstatten ging.
An diesem Tag unterzeichneten die Gründungsväter des modernen Österreich, Karl Renner, Adolf Schärf,
Leopold Kunschak und Johann Koplenig die Unabhängigkeitserklärung. Noch am selben Tag wurde unter dem
Vorsitz Karl Renners eine provisorische Staatsregierung gegründet, die Regierungserklärung verlesen und
somit sehr unspektakulär und leise der Startschuss für eine einzigartige Erfolgsgeschichte gegeben, deren
Ausmaß an jenem historischen Tag im Frühling 1945 bei weitem noch nicht absehbar war.
Wenn wir zurückblicken, wenn wir in den Geschichtsbüchern blättern und die historischen Quellen
analysieren, stellt sich uns ein zugleich erschütterndes und berührendes Bild der Anfangstage der Zweiten
Republik dar: Erschütternd, weil das verheerende Ausmaß der Zerstörung des Krieges sichtbar wird
und berührend, weil wir schon in diesen ersten Anfangstagen, als in weiten Teilen Österreichs noch gekämpft
wird, die demokratischen Kräfte im viel zitierten "Geist der Lagerstraße" versammelt sehen.
Diesem Geist, also der Einsicht ehemals verfeindeter politischer Gegner, dass Kooperation und Verständigung
über programmatische Grenzen hinweg unabdingbare Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben aller
in Frieden und Freiheit sind, ist die rasche Staatsgründung und in weiterer Folge auch die Erreichung der
vollen staatlichen Souveränität Österreichs zu verdanken.
Das war am 27. April 1945 bei weitem nicht absehbar. Noch war der Krieg nicht beendet, noch war die Bevölkerung
der nicht befreiten Teile des Landes dem ungehinderten Terror des Naziregimes ausgesetzt. In Mariazell wurden am
28. April neun junge Soldaten, die ihre Waffen niederlegen wollten, wegen "Feigheit vor dem Feind" standrechtlich
erschossen. Vom Standgericht Weyer wurden 53 Soldaten, die bewusst oder unabsichtlich den Kontakt zu ihrer Truppe
verloren hatten, zum Tode verurteilt und hingerichtet. In Prein an der Rax wurden siebzehn Frauen und alte Männer
von der SS erschossen, weil sie auf ihren Häusern weiße Fahnen gehisst hatten. Im Chaos der letzten
Kriegstage glich Österreich einem unübersichtlichen Heerlager: Hunderttausende Zivilisten und Soldaten
waren entweder auf der Flucht oder auf der Suche nach ihren Angehörigen. In den Ruinen der Städte und
auf dem verwüsteten Land herrschten Hunger, Verzweiflung und Not. Mehr als zehn Millionen Menschen hatten
in Europa ihre Heimat verloren, und für viele von ihnen war der Albtraum der Vertreibung, Verfolgung und Gefangenschaft
auch nach der Kapitulation des Nazi-Regimes noch nicht beendet. In Österreich haben mehr als 350.000 Menschen,
darunter 65.000 jüdische KZ-Opfer, die Befreiung vom Hitler-Faschismus nicht mehr erlebt. Wir werden ihr Andenken
immer in Ehren halten, ebenso wie jenes all der tapferen Menschen, die im Kampf gegen die Diktatur ihr Leben lassen
mussten.
Wir sollten aber auch nie vergessen, was uns in jahrelanger Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und im oft
schmerzhaften Dialog mit der Generation unserer Eltern und Großeltern klar geworden ist: Dieses Österreich,
auf das wir alle mit Recht so stolz sind, war nicht nur ein Land der Opfer, sondern auch ein Land der Täter.
Viele von ihnen haben, ob verblendet und fehlgeleitet von einer menschenverachtenden Ideologie, ob gutgläubig
oder schlicht blind für die Zeichen der Menschenverachtung, die einige wenige schon früher erkannt hatten,
am Verbrechen des Holocaust mitgewirkt. Mit dieser historischen Tatsache müssen wir leben. Sie ist unleugbar
und das Erbe dieser unseligen Zeit. Es ist dem damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky zu danken, die Mitverantwortung
an den Verbrechen des Nationalsozialismus benannt und außer Diskussion gestellt zu haben. Der Österreichische
Nationalfonds und Versöhnungsfonds für die Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter, die in den
letzten Jahren eingerichtet wurden, haben dazu beigetragen, die Folgen des begangenen Unrechtes, das zu unser aller
Leidwesen nicht ungeschehen gemacht werden kann, anzuerkennen. Ich betone ausdrücklich, dass ich meinem Vorgänger
im Amt, Dr. Wolfgang Schüssel, für seine diesbezüglichen Bemühungen Dank und Anerkennung auszusprechen
möchte. Die Bundesregierung wird weiter alles tun, um die noch offenen Fragen im Rahmen ihrer Verantwortung
zu lösen.
Meine sehr geehrte Damen und Herren!
Die Gründerväter der Zweiten Republik haben uns neben manch anderer vor allem eine Lehre erteilt, die
wir auch heute, nach 62 Jahren des Friedens und Wohlstandes, nie aus den Augen verlieren sollten: Die Erfolgsgeschichte
dieses Landes war nur möglich, weil sie auf einem dauerhaften politischen und sozialen Konsens beruhte. Es
war das Verdienst der Männer um Karl Renner, nicht nur rasch für stabile und unumkehrbare demokratische
Verhältnisse zu sorgen, sondern mit der Etablierung der Sozialpartnerschaft ein System zu schaffen, das die
Beteiligung aller Österreicherinnen und Österreicher am wachsenden Wohlstand sicherstellte. Auf dieser
Grundlage konnte der ökonomische Wiederaufbau erfolgreich beginnen und Österreich zu einer Heimat für
alle hier lebenden Menschen werden. Schon Leopold Figl hatte gänzlich undogmatisch die Zielsetzung umrissen,
als er 1945 davon sprach, "ein freies und soziales, ein neues und revolutionäres, ein von Grund auf umgestaltetes
Österreich" zu schaffen. Keinesfalls wolle man, so Figl wörtlich, "eine Wiederholung von 1933
noch von 1938". Mit dieser Abgrenzung war auch klar, dass man von Beginn an die sozialen Spannungen zu vermeiden
gewillt war, die Jahrzehnte zuvor die Erste Republik zerstört und den Boden für alles Spätere aufbereitet
hatten.
Das sollte nun anders werden, und es wurde anders. Österreich wurde in Zusammenarbeit aller politisch relevanten
Kräfte zu einem Land, das allen seinen Söhnen und Töchtern die gleichen Chancen und Möglichkeiten
des Aufstieges gab. Es wurde zu einem Land, in dem sich nicht mehr nur die Reichen und Wohlhabenden, sondern auch
die einfachen Arbeitnehmer, Bauern und Handwerker aufgehoben und zu Hause fühlen konnten. Seine Erfolgsgeschichte,
diese Verwandlung vom armseligen Aschenputtel zur strahlenden, umworbenen Schönheit inmitten Europas wurde
auch deshalb möglich, weil wirklich alle Österreicherinnen und Österreicher daran teilhaben konnten
- am Wiederaufbau ebenso wie am Aufschwung und Wohlstand. Der Glanz, der heute noch von der Ära Bruno Kreiskys
auf uns herüberstrahlt, ist nicht nur einer der Nostalgie und der Erinnerungsverklärung. Wir sehen von
unserem gesicherten Standpunkt aus historischer Distanz auch in einer Lage Schwächen und Fehler, die gemacht
wurden, zu sehen und einzugestehen. Aber mehr noch kann meine Generation auf die Erfahrung gelebter Solidarität
verweisen, auf das Gefühl der sozialen Fairness, das diese Jahre geprägt hat, auf ein Miteinander, das
Österreich so unverwechselbar und erfolgreich gemacht hat.
Natürlich hat sich seither vieles verändert. Der globale Wettbewerb hat sich verschärft und mit
ihm die Auseinandersetzung zwischen den Gesellschaften, die im Reichtum leben, aber um dessen Bestand fürchten
und den Gesellschaften, die in Armut leben und deren Bürger immer nachdrücklicher eine weltweite, gerechtere
Umverteilung der Ressourcen fordern. Darüber hinaus sehen wir uns mit Herausforderungen konfrontiert, die
noch vor wenigen Jahrzehnten vernachlässigbar schienen, wie zum Beispiel die internationale Migration. Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir diese Herausforderungen nur dann bestehen können, wenn wir uns auf
die Werte besinnen, die uns die Begründer der Zweiten Republik vermittelt haben:
Nur im Dialog, der auch die Standpunkte des politischen Gegners respektiert, ist eine gedeihliche Entwicklung zum
Wohle aller Österreicherinnen und Österreicher möglich. Kompromisse einzugehen und umzusetzen heißt
nicht, aus zwei Teilmengen nur das Trennende auszusondern, sondern eine möglichst große Schnittmenge
an Gemeinsamkeiten zu finden. Der Konsens im größeren österreichischen Sinn, wie er in den überwiegenden
Phasen der Zweiten Republik geherrscht hat, bestand nie nur im wechselseitigen Abtausch von Partikularinteressen.
Er war stets auf das Gemeinwohl aller Menschen ausgerichtet, die in diesem und für dieses Land arbeiten, er
war stets um sozialen Ausgleich bemüht, um jene Art von Fairness, auf deren Wiederherstellung alle wesentlichen
Punkte unseres Regierungsübereinkommens ausgerichtet sind. Ich bin der Meinung, dass wir uns mit der darin
beschlossenen Konzentration auf soziale Kernbereiche, auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Verbesserung
der Bildung und Ausbildung für unsere Jugend, die Sicherung der Pensionen und Alterversorgung für unsere
älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie auf eine effizientere Ausgestaltung unseres Gesundheitswesens
auf einen Weg begeben haben, für den wir uns vor den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung vom
27.April 1945 nicht schämen müssen.
Im Gedenken an die Leistung der Aufbaugeneration, in der Freude über das für unser gemeinsames Österreich,
sollten wir aber nicht vergessen, welchen von außerhalb wirkenden Kräften wir es verdanken, mittlerweile
seit 62 Jahren in Frieden und Wohlstand leben zu dürfen. Mit dem militärischen Sieg der Alliierten über
Nazideutschland war ja erst der erste Teil der Befriedung dieses unruhigen europäischen Kontinents geschafft.
Der großzügige Marshallplan setzte die wirtschaftliche Entwicklung in Gang, die Demokratie und Freiheit
absicherte. Überwunden und endgültig besiegt wurden die finsteren Geister des Nationalismus aber erst
durch die Idee eines Vereinten Europa und das Konzept der Europäischen Integration, die ihre Wurzeln in der
Entschlossenheit der Nachkriegsgeneration hatten, nie wieder einen Krieg auf diesem Kontinent zuzulassen. Zwischen
dem Ende des Ersten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lagen lediglich 21 Jahre. Seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges, also seit 62 Jahren, wurde zwischen den Mitgliedsstaaten der EU keine kriegerische Auseinandersetzung
mehr geführt. Das ist eine Zeitspanne, die uns vielleicht kurz scheinen mag: In der größeren Geschichte
dieses notorisch unruhigen, von Kriegen, Bürgerkriegen und Revolutionen geschüttelten Kontinents wird
man aber eine derartige Zeitspanne des friedlichen Zusammenlebens nicht leicht finden. Die Vereinigung Europas,
die Geburt der EU, hat die großen europäischen Gegenspieler vergangener Jahrhunderte endlich zu Nachbarn
gemacht, deren Zusammenleben und Zusammenarbeit längst zu einem globalen Beispiel mustergültigen Interessenausgleichs
geworden ist. Gerade für uns, die wir in unserer eigenen Geschichte so oft erleben mussten, wie Kriege das
Leben und Werk ganzer Generationen zerstört haben, ist es daher eine Verpflichtung, die Friedenszone der EU
weiter auszudehnen. Bei aller berechtigten Kritik an vielen Aspekten der EU-Politik muss eines festgehalten werden
und außer Zweifel stehen: Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt, das wir unterstützen und
nach Kräften fördern werden. Die Einbindung unserer Nachbarländer in Südosteuropa in die Europäische
Union ist der sicherste Garant dafür, dass wir Auseinadersetzungen wie im ehemaligen Jugoslawien nicht mehr
erleben müssen. Das allein rechtfertigt die Idee der europäischen Integration, an deren Ende ein gemeinsames
Europa stehen wird, in dem sich seine Mitglieder der Untaten, die sie einander über Jahrhunderte hinweg zugefügt
haben, nur noch wie eines fernen, bösen Traumes erinnern werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren !
Wir neigen manchmal in der Eile des politischen Tagesgeschäftes dazu, das Pathos unserer Vorgänger zu
belächeln. Aber eben ihnen gilt in dieser Stunde unser Dank: Sie haben das neue Österreich geschaffen.
Wir wollen ihr Werk gemeinsam fortführen und dafür sorgen, dass es lebenswerte Heimat für alle unsere
Bürgerinnen und Bürger bleibt.
Quelle: Bundespressedienst |