Einblicke in die Entwicklungsgeschichte der Tiefseeasseln
– NATURE berichtet über Expeditions-Ergebnisse
Bochum (universität) - In der unwirtlichen, eiskalten und finsteren Tiefsee in der Nähe
des Südpols hatte man wenig oder gar kein Leben vermutet. Bei drei Expeditionen des Forschungsschiffs "Polarstern"
2002 und 2005 wurden die Forscher dann mit einer enormen Artenvielfalt überrascht. Diese Fülle konnten
sie nun erstmals systematisch erfassen und Organismen auf ihre Evolutionsgeschichte und ihre Verbreitungsmuster
untersuchen. So zeigte sich z.B., dass in antarktischen Gewässern bestimmte Tiefsee-Arten auch im flachen
Wasser leben und umgekehrt. Für die Asellota, eine Untergruppe der Asseln, konnte der Bochumer Forscher Dr.
Michael Raupach (Lehrstuhl für Evolutionsökologie und Biodiversität der Tiere) eine detaillierte
Familiengeschichte aufstellen. Über ihre Ergebnisse berichten die Forscher in der aktuellen Ausgabe von Nature.
Bizarre Formen beeindrucken
Die Tiefsee ist der mit Abstand größte Lebensraum der Erde; fast 80 Prozent des Meeresbodens
liegen tiefer als 3000 Meter. Lange Zeit ging man davon aus, dass die Tiefsee weitgehend verödet sei, doch
trotz widrigster Umweltbedingungen - Finsternis, Wassertemperaturen nahe dem Gefrierpunkt, Nahrungsknappheit, hoher
Druck - findet sich in den Tiefen der Weltmeere eine Fülle bizarr anmutender Organismen wie beispielsweise
Anglerfische oder Riesenkalmare. Insbesondere der Tiefseeboden galt lange Zeit als sehr artenarm. Erste umfangreiche
Untersuchungen am Kontinentalhang der Ostküste der USA in 2000 bis 3000 Metern Tiefe zeigten, dass dieses
Bild täuscht: Tatsächlich findet sich eine Vielzahl wenn auch oft nur wenige Millimeter großer
Tiere wie Kammerlinge (Foraminiferen), Fadenwürmer (Nematoden), Borstenwürmer (Polychaeten), Muscheln
(Bivalven), Seegurken (Holothurien), Schlangensterne (Ophiuroiden), Flohkrebse (Amphipoden) und Asseln (Isopoden)
im Tiefseeschlamm. Unter den Asseln gelten die Asellota weltweit als eines der bedeutendsten Elemente der Tiefsee
und beeindrucken mit einer unglaublichen Arten- und Formenvielfalt: Einige Formen sind extrem lang gestreckt, andere
bizarr bedornt, gelappt oder kompakt und muskulös gebaut.
Leben in verschiedenen Tiefen
Über die Biologie dieser Tiere war so gut wie nichts bekannt: Die Tiefsee-Fauna der Antarktis ist
bisher kaum untersucht worden. "Bemerkenswert ist, dass viele Flachwasserarten in antarktischen Tiefgewässern
gefunden werden, aber auch viele typische Tiefseegattungen im antarktischen Flachwasser zu finden sind", erklärt
Dr. Raupach. "Die Ursache dafür liegt vermutlich in der niedrigen Wassertemperatur sowohl der Tiefsee
als auch des Oberflächenwassers, was temperatursensitiven Tieren eine entsprechende Verbreitung in beiden
Tiefen ermöglicht." Dies gilt auch für die Asellota, die sich auf Grund ihres Arten- und Individuenreichtums
für molekulargenetische Untersuchungen der Verbreitung, Evolutionsgeschichte, Populationsstruktur und Artbildung
anbieten.
Proben aus 6000 Metern Tiefe
Im Rahmen der drei mehrmonatigen ANDEEP-Expeditionen (Antarctic benthic deep-sea biodiversity, Bestandteil
der internationalen Initiative Census of the Diversity of Abyssal Marine Life "CeDAMar"), organisiert
von Prof. Angelika Brandt und Dr. Brigitte Ebbe, machte sich in den Jahren 2002 und 2005 ein internationales Biologenteam
erstmals an eine systematische Erfassung der antarktischen Tiefseefauna. Die Forscher nahmen von Bord des deutschen
Forschungseisbrechers "Polarstern" unter Koordination des Alfred Wegener Instituts für Polar- und
Meeresforschung (AWI) Proben aus dem antarktischen Meeresboden in bis zu 6000 Metern Tiefe. Dabei kamen unterschiedlichste
Fanggeräte wie Kastengreifer, Epibenthosschlitten oder Mehrkernbohrer zum Einsatz. Ein Schwerpunkt der Probennahme
war die Tiefseeebene der Weddell See.
Artenzahl wurde bislang unterschätzt
"Neben der Entdeckung einer Vielzahl bis dato unbekannter Arten und wichtigen neuen Erkenntnissen
zur Biogeographie verschiedenster Organismen konnten wir während dieser Expeditionen zum ersten Mal Asellota
der Tiefsee für molekulargenetische Untersuchungen fangen", erzählt Dr. Raupach. Die Forscher nahmen
mitochondriale und nukleare Gene unter die Lupe, um Rückschlüsse auf die Evolutionsgeschichte und die
Populationsstruktur ziehen zu können. Die große Formenvielfalt der Asellota, besonders innerhalb der
Tiefseefamilien, ermöglichte bislang kaum verlässliche Verwandtschaftshypothesen. Die Ergebnisse zeigen,
dass die Besiedlung der Tiefsee in mehreren Gruppen unabhängig und vermutlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten
voneinander stattfand. "Bemerkenswert ist eine morphologisch hyperdiverse Gruppierung, in der sich die Mesosignidae,
Macrostylidae, Janirellidae, Ischnomesidae, Desmosomatidae, Nannoniscidae und Munnopsidae zusammenfassen",
erklärt Dr. Raupach. Weitere molekulare Ergebnisse bestätigen eine hohe genetische Variabilität
innerhalb morphologisch sehr ähnlicher Arten und die Existenz so genannter kryptischer Arten: Arten, die sich
zwar morphologisch nicht unterscheiden, genetisch aber unterschiedlich sind. "Dies ist von entscheidender
Bedeutung für die Biodiversitätsforschung in der Tiefsee, da es zeigt, dass die Artenzahl der Asellota
und auch anderer Gruppen bislang unterschätzt wurde", so Dr. Raupach. |