Psychische Erkrankungen europaweit auf dem Vormarsch  

erstellt am
31. 05. 07

Erster Mental Health Kongress in Wien fordert Maßnahmenpaket
Wien (ikp) - Jährlich sterben in Europa mehr Menschen durch Selbstmord als bei Verkehrsunfällen. Bereits jeder vierte Österreicher ist heute von einer psychischen Erkrankung betroffen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Erstmals treffen bei der Mental Health Europe Konferenz in Wien nicht nur Fachkräfte für psychische Gesundheit, sondern auch Politiker sowie Wirtschaftsexperten, Angehörigen- und Betroffenenvertreter zusammen, um gemeinsam Strategien zur Förderung psychischer Gesundheit zu entwickeln.

Vom 31. Mai bis 2. Juni diskutieren Experten aus den Bereichen Gesundheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik gemeinsam mit Fachkräften für psychische Gesundheit sowie Vertretern öffentlicher Institutionen, Betroffenen und Angehörigen über mögliche Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung. Mehr als 200 Teilnehmer aus insgesamt 23 Ländern werden bei dieser Konferenz in Wien zusammentreffen. Im Rahmen des Kongresses sollen wichtige Impulse für die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Strategie für psychische Gesundheit erarbeitet werden. Auf europäischer Ebene wurden bereits erste Schritte gesetzt. Im Oktober 2005 veröffentlichte die Europäische Kommission ein Grünbuch zur Förderung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung. Auf Ebene der Nationalstaaten – besonders in den neuen EU-Mitgliedsstaaten – sind öffentliche Initiativen zur Förderung der psychischen Gesundheit noch relativ neu. Nur in einigen wenigen EU-Mitgliedsstaaten ist das Thema bereits Teil nationaler Aktionspläne. „In Österreich gibt es von Seiten des Gesundheitsministeriums erste Ansätze, eine bundesweite Strategie fehlt aber noch“, so Univ. Prof. Dr. Karl Dantendorfer, Obmann pro mente Wien. Die Konferenz bietet eine Plattform, um bereits vorhandenes Know-how zu vertiefen, Informationen über erfolgreiche Initiativen auszutauschen und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten zu intensivieren.

Psychische Erkrankungen europaweit auf dem Vormarsch
Heute gehören psychische Gesundheitsprobleme in Europa zu einer der häufigsten Ursachen für Erkrankungen. Bei den Spitalsaufenthalten liegen psychische Erkrankungen in Österreich bereits an zweiter Stelle. Bis im Jahr 2020 wird die Depression neben Herz-Kreislauferkrankungen zu den am weitesten verbreiteten Krankheiten gehören. Bereits heute sind psychische Störungen eine der häufigsten Gründe für Arbeitsunfähigkeit. Bei den Invaliditäts- und Frühpensionen liegen psychische Erkrankungen an zweiter Stelle nach Skeletterkrankungen. Tragisch: Immer mehr junge Menschen leiden an psychischen Störungen. Suizid gehört zu den zweithäufigsten Todesursachen bei Jugendlichen. Global ist die Suizidrate von 1950 bis 1995 um 60% gestiegen und auch hier sind die Prognosen der Experten düster: Sie weisen auf einen dramatischen Anstieg des Suizidverhaltens in den nächsten zehn Jahren hin, wenn nicht bald wirksame Präventionsmaßnahmen gestartet werden. Im Jahr 2005 starben in Österreich 1.392 Menschen durch Selbsttötung, das sind fast doppelt so viele wie bei Verkehrsunfällen (768 Tote).[1]

Gesellschaftlicher Wandel als Auslöser für psychische Leiden
Die Ursache für diese drastische Zunahme psychischer Erkrankungen sieht Univ. Doz. Dr. Werner Schöny, Obmann von pro mente Austria, vor allem in veränderten gesellschaftlichen Strukturen: „Gesamtgesellschaftlich diagnostizieren wir ein Phänomen der Beschleunigung. Am Arbeitsmarkt sind Anpassungsfähigkeit und Flexibilität gefordert. Der Leistungsdruck ist enorm und auch das Tempo der Arbeit hat sich verändert“, so Schöny. Diese „Stressoren“ können mitunter psychisch stark belastend sein. Wesentlichen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden haben auch die persönlichen sozialen Beziehungen und auch hier lassen sich einschneidende Veränderungen diagnostizieren: Das soziale Netzwerk „Familie“ befindet sich im Umbruch und die Schnelllebigkeit wird auch im Beziehungsalltag deutlich spürbar. „Nicht immer sind die Menschen diesen neuen Anforderungen gewachsen“, so Schöny. Allgemein gültige Modelle bzw. Handlungsstrategien fehlen und müssen individuell entwickelt werden.

Psychische Erkrankungen: Soziale Ausgrenzung und Diskriminierung
Von psychischen Erkrankungen ist keine Bevölkerungsschicht ausgenommen. Dennoch lassen sich laut Schöny ein paar Risikogruppen identifizieren: Menschen mit niedrigem sozialen und wirtschaftlichen Status sind anfälliger für psychische Erkrankungen. Auch Frauen und alleinerziehende Mütter, sowie junge Menschen und alleinstehende ältere Menschen sind häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen. Allgemein gehen Experten von einer sehr hohen Dunkelziffer bei psychischen Leiden aus. „Immer noch werden psychische Erkrankungen tabuisiert und die Menschen scheuen sich Hilfe zu suchen“, weiß Schöny aus langjähriger Praxis.

Millionen von Menschen leiden an psychischen Erkrankungen. Viele können diese erfolgreich überwinden, aber in manchen Fällen bilden psychische Erkrankungen sowohl Ursache als auch Folge von sozialer Ausgrenzung. Trotz verbesserter Behandlungsmöglichkeiten und positiver Entwicklungen in der psychiatrischen Versorgung kämpfen psychisch kranke Menschen nach wie vor mit Stigmatisierung und Diskriminierung. Dazu kommen oft auch finanzielle Probleme. Höchstens 15% aller Menschen mit psychischen Leiden im arbeitsfähigen Alter üben einen Beruf aus. Mit der Arbeitslosigkeit sind oft auch Wohnungsnot sowie das Fehlen sozialer Netzwerke verbunden. Diese Umstände haben zur Folge, dass diese Menschen extrem isoliert und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Ärztliche Interventionen tragen zwar zur Problemlösung bei, können aber keine gesellschaftlichen Strukturen ändern. „Hier sind eine Vielzahl von Akteuren gefordert, Politiker, Wirtschaftstreibende aber auch Betroffenen- und Angehörigenvertreter“, so Dr. Dantendorfer. Vor allem in den Bereichen Schule und Arbeitsplatz sieht Dantendorfer Handlungsbedarf: „Hier sind dringend Maßnahmen erforderlich, denn hier verbringen die Menschen einen Großteil ihrer Zeit.“

Politische Intervention gefordert
Allgemeine Gesundheit und psychisches Wohlbefinden stehen in einem engen Zusammenhang. Studien belegen die enge Wechselwirkung von seelischen und körperlichen Erkrankungen, so stellen etwa Depressionen einen Risikofaktor für Herzerkrankungen dar. Psychische Gesundheit, so die Forderung von Mental Health Europe, muss eine Aufwertung erfahren und soll in Zukunft mit dem gleichen Engagement gefördert werden, wie die körperliche Gesundheit. Ziel ist es, sowohl bei den Akteuren aus den Bereichen Gesundheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, sowie bei Wirtschaftstreibenden und Interessensvertretungen das Bewusstsein dafür zu stärken, dass die Förderung psychischer Gesundheit zentraler Bestandteil der allgemeinen öffentlichen Gesundheitsvorsorge ist. Bisher wurde diesem Bereich der Gesundheitsvorsorge in den meisten europäischen Staaten noch kaum Gewicht beigemessen. Von den allgemeinen Gesundheitsetats entfallen durchschnittlich lediglich 5,8% auf den Bereich Förderung der psychischen Gesundheit.[2] Dagegen sind die Kosten, die psychische Erkrankungen verursachen, enorm: Allein in Österreich werden jährlich 7,16 Milliarden € für psychische Leiden aufgewendet, das entspricht rund 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die meisten Kosten entfallen dabei auf die aufgrund von Krankheitsfällen verursachten Arbeitausfälle (31%), gefolgt von Spitalskosten und Medikamenten.[3]

Integration psychisch kranker Menschen
Um die Lebensqualität psychisch kranker Menschen zu verbessern und ihre Integration in die Gesellschaft sowie den Arbeitsmarkt zu erleichtern, sind vielfältige Maßnahmen erforderlich. Eine wichtige Grundlage ist dabei die allgemeine Sensibilisierung der breiten Bevölkerung für das Thema. „Nur wenn psychische Leiden entstigmatisiert werden, können langfristig erfolgreiche Strategien zur Prävention und Behandlung dieser Erkrankungen umgesetzt werden“, ist Malgorzata Kmita, Präsidentin von Mental Health Europe, überzeugt. Umfassende Aufklärungs- und Informationskampagnen helfen Hemmschwellen abzubauen und die Integration psychisch kranker Menschen zu fördern. Ein weiterer wichtiger Schritt zur Verbesserung der Betreuungsqualität psychisch kranker Menschen ist die Deinstitutionalisierung psychiatrischer Versorgung. „Ziel ist es, weg von den großen psychiatrischen Anstalten zu kommen und kleinere, lokale Betreuungsangebote zu schaffen“, erklärt Kmita. Bisher konzentrieren sich auch in Österreich die Behandlungsangebote auf große psychiatrische Krankenhäuser. Oft liegen diese Institutionen in großer Entfernung zum Heimatort des Patienten, was zur Entfremdung führt. Gleichzeitig trägt das Image dieser Stationen zur Stigmatisierung und Ausgrenzung der Betroffenen bei. In vielen Ländern der Europäischen Union hat bereits ein Umdenken begonnen. An Stelle von der Langzeit-Institutionalisierung werden verstärkt Initiativen in Richtung begleitete Wohngemeinschaften gestartet. Zudem gibt es erfolgreiche Bemühungen, Menschen mit psychischen Erkrankungen in die allgemeine Arbeitswelt zu integrieren, an Stelle von abgesonderten Werkstätten oder Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderungen. Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Integration psychisch kranker Menschen leisten Projekte, die versuchen psychisch kranke Menschen aktiv in das soziale und kulturelle Leben lokaler Gemeinden einzubinden. Es sind bereits viele erfolgreiche Initiativen auf dem Weg, dennoch konstatieren die Experten noch jede Menge Handlungsbedarf, um die soziale Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in den verschiedensten Lebensbereichen zu stoppen. „Es kann in der Tat behauptet werden“, so Malgorzata Kmita, „dass es uns ohne angemessene Strategien, um auf die soziale Ausgrenzung von Menschen mit psychischer Erkrankung auf individuellem und gesellschaftlichem Niveau zu reagieren und diese zu bekämpfen, nicht gelingen wird, uns die Fülle der Fähigkeiten, Talente und Begabungen aller Mitglieder unserer Gesellschaft zu nutze zu machen und diese zu fördern.“

Mental Health Europe
Die politisch unabhängige Organisation wurde 1985 als regionale Zweigstelle der Weltorganisation für Mental Health gegründet. Sitz der Organisation ist in Brüssel. Mental Health Europe zählt 72 Mitgliedsorganisationen in 30 europäischen Ländern und 60 Einzelmitglieder. Ziel der Organisation ist die Förderung von psychischer Gesundheit, die Verbesserung von Pflege- und Betreuungsangeboten sowie der Schutz von Menschenrechten von psychisch Kranken, ihrer Familien und Betreuer.

Pro mente austria
Pro mente austria ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Institutionen im Bereich psychische und soziale Gesundheit in Österreich.19 Mitgliedsorganisationen in den Bundesländern leisten Betreuungsarbeit für psychisch kranke Menschen. Rund 30.000 Hilfesuchende erhalten jährlich Unterstützung bei psychischen und sozialen Problemen in den regionalen Einrichtungen nahe ihres Wohnortes. Ziel ist die Integration Benachteiligter in die Gesellschaft. Pro mente austria vertritt die Anliegen ihrer Mitgliedsorganisationen und setzt sich für die Rechte psychisch kranker Menschen ein.

[1] (Statistik Austria, Jahrbuch 2007)
[2] WHO
[3] Studie „ Cost of Disorders of the Brain in Europe“ 2007
 
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