Gusenbauer würdigt "außerordentlich großes Werk" – Swoboda: Österreich
"wichtiger Ausgangspunkt" von Judts Thesen
Wien (sk) - Tony Judt habe ein "außerordentlich großes Werk" veröffentlicht,
das sechs wechselvolle Jahrzehnte der europäischen Geschichte umfassend erschließe. Er kenne "kein
anderes Werk, das sowohl die langen Schatten, die die Zeit vor 1945 bis heute wirft, als auch die Lügen und
Tabus der Nachkriegsepoche sowie deren oft schmerzhafte Aufarbeitung so plastisch und plausibel darstellt"
wie Judts Buch, so Bundeskanzler Alfred Gusenbauer am Abend des 13.06. in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung
des Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch 2006 an den britischen Historiker Tony Judt. Ein wichtiger
"Ausgangspunkt der Thesen von Judts Buch ist Österreich und seine Bedeutung am Schnittpunkt zwischen
Ost und West", betonte der Vorsitzende der Jury, SPÖ-EU-Abgeordneter Hannes Swoboda mit Verweis auf den
Beitrag, den Österreich leisten kann, um das neue Europa zu gestalten.
Den Preisträger zeichne große Courage aus, seine "Rolle als öffentlicher Intellektueller"
werde nicht zuletzt auch durch "Intervenieren und Provozieren" bestimmt: "Freilich nicht um der
Provokation selbst willen, sondern um eine politische Öffentlichkeit zu erzeugen, in der wesentliche Fragen
unserer Zeit kontrovers zur Diskussion gestellt werden", so der Präsident des Renner-Instituts, Bundeskanzler
Alfred Gusenbauer in seiner Festrede. Das Buch - ein "monumentales Unterfangen" - sei deshalb "faszinierend,
weil es wesentliche Zusammenhänge der Entstehung von Nachkriegseuropa herausarbeitet". Gusenbauer unterstrich
weiters die Wichtigkeit der Judt'schen These, wonach das neue Europa stets seiner Vergangenheit verpflichtet bleiben
müsse: Zeitgeschichtliche Forschung müsse die Vergangenheit stets erneut vermitteln und darstellen, "worin
die Wurzeln gelegen sind". In Richtung Judt und Publikum erklärte Gusenbauer: "Sie haben sich den
Preis wirklich verdient. Das Buch lohnt gelesen zu werden."
Grusa, Duffek und Swoboda würdigen Tony Judt
Er habe das 1.024 Seiten "dicke Buch mit Begeisterung zu Ende gelesen", so der Direktor der Diplomatischen
Akademie Wien, Jiri Grusa, der ebenso wie Karl Duffek, Direktor des Renner-Instituts, die besondere Bedeutung des
von Judt vorgelegten Geschichtsbuches unterstrich. "Wien ist nach wie vor ein guter Ort, um über Europa
nachzudenken", so Swoboda, der hier daran erinnerte, dass Tony Judt schreibt, dass ihm die Idee zu seinem
Buch 1989 in Wien gekommen sei, weil das "Wien von 1989 ein hervorragender Ort zum Nachdenken über Europa"
gewesen sei. Swoboda verwies darüber hinaus auf die vergangene und zukünftige Rolle Österreichs
beim Aufbau des großen Projekts Europa. Daneben gebe es in Judts Buch auch einen quasi-sozialdemokratischen
Ansatz zu verzeichnen: Dort nämlich, wo Judt die Bedeutung des Wohlfahrtsstaates als wesentliches Element
des neuen Europa herausarbeitet. Swoboda stellte hier klar, dass der Wohlfahrtsstaat bei aller Notwendigkeit von
Veränderungen nicht überholt sei.
Von zentraler Bedeutung sei schließlich auch Judts Beschäftigung mit den Elementen Erinnern und Vergessen.
So hätte Europa - nachdem es sich freilich seiner schrecklichen Vergangenheit und des Holocaust erinnert hat
- auch vergessen müssen, um ein neues Europa aufbauen zu können, hielt Swoboda zu einer Kernthese Judts
fest, in der sich der Historiker mit der Entwicklung Europas im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen auseinander
setzt. Er hoffe, dass das baldige Zustandekommen einer EU-Verfassung ein wenig auch die Möglichkeit eröffne,
der von Judt beschriebenen Vision eines Europa näher zu rücken, das der Welt mit maßvollen Ratschlägen
dabei helfen könne, eigene Fehler nicht zu wiederholen.
Judt: "Freue mich sehr, den Preis zu erhalten, der den Namen Kreiskys trägt"
Es freue ihn sehr, "heute den Preis zu erhalten, der den Namen Bruno Kreiskys trägt", machte
Tony Judt in seiner Dankesrede klar. Judt erinnerte hier neben der Rolle Kreiskys in Bezug auf den Wohlfahrtsstaat
auch an die Bedeutung des aktiven Außenpolitikers Kreisky, der nicht nur Österreich, sondern stets auch
Europa im Auge gehabt habe. Judt zeigte sich abschließend darüber erfreut, wieder einmal in Wien zu
sein - und damit in jener Stadt, in der ihm erstmals die Idee zum heute ausgezeichneten Werk in den Sinn gekommen
sei. |