Der erste Schritt auf einem langen Weg  

erstellt am
13. 08. 07

1874 wurde im Parlament erstmals über gleiches Wahlrecht debattiert
Wien (pk) - Wien (pk) - In der Rubrik "Entdeckungen und Begegnungen" bringen die Parlamentskorrespondenz einen weiteren Beitrag über den langen Weg zur Wahlreform vor 100 Jahren. In unregelmäßiger Folge erscheinen in dieser Rubrik neben den Beiträgen über den figuralen Schmuck am und im Parlament historische Reportagen über Reden, die Geschichte machten sowie über die Wahlreform des Jahres 1907.

1873 waren die Mandatare des österreichischen Abgeordnetenhauses grosso modo erstmals direkt gewählt worden, und zwar auf der Basis eines Kurienwahlrechts, das die Mehrheit der Bevölkerung von jedem Wahlrecht ausschloss. Die sich in jenen Jahren eben erst formierende Arbeiterbewegung erhob prompt die Forderung nach einem "allgemeinem, gleichen und direkten Wahlrecht für alle Staatsbürger vom 20. Lebensjahr an", wie es der Neudörfler Parteitag der Sozialdemokratie 1874 formulierte, was auch die Frauen einbezog. Diese Wahlberechtigten sollten die Möglichkeit besitzen, "für das Parlament, die Landtage und die Gemeindevertretungen sowie für alle Körperschaften, welche die Rechte und Pflichten der Gesamtheit wie der einzelnen Bürger zu wahren haben", Vertreter zu wählen. "Allen so gewählten Volksvertretern sind entsprechende Diäten zu gewähren."

In diesem Sinne brachte man im Februar 1874 eine Petition in den Reichsrat ein, in der das "politische Wahlrecht für die arbeitende Klasse" gefordert wurde. Überraschenderweise wurde diese Petition tatsächlich im Haus verlesen und einem Ausschuss zur Behandlung zugewiesen. Über dessen Beratungen kam es am 17. Dezember 1874 in der 99. Sitzung der VIII. Session des Abgeordnetenhauses zur Debatte.

Johann Ferdinand Schrank (1830-1881), liberaler Mandatar aus Wien und im Zivilberuf Professor an der Wiener Handelshochschule, ergriff für die Arbeiter Partei. Nur durch das gleiche, direkte und allgemeine Wahlrecht könne das Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit hergestellt werden, nur auf diese Weise sei es möglich, die Interessen aller in gleicher Weise zu berücksichtigen. Er stimme daher in den Ruf ein: "Gebt uns das Wahlrecht, dies brauchen wir – sei es mit Selbsthilfe, sei es mit Staatshilfe – um unsere Produktionsverhältnisse zu verbessern."

Kronawetter: Der Staat muss über den Interessen stehen
Der demokratische Abgeordnete Ferdinand Kronawetter (1833-1913) ging noch einen Schritt weiter, indem er die soziale Komponente der Wahlrechtsdebatte in den Fokus nahm. Zwischen Kapitalisten und Arbeitern bestünde ein unüberbrückbarer, "der menschlichen Natur, dem menschlichen Wesen und der menschlichen Bestimmung" entsprechender Interessengegensatz, der sich nicht ändern lasse. "Was aber über den Interessen steht und stehen soll und muss, das ist der Staat, die Idee, die der Staat durch seine Gewalt ausführt und durchführt, und es ist daher jeder Staat zu beklagen, in dem die einseitigen Interessen einer Partei allein Gewalt und Einfluss auf die Gesetzgebung haben."

Kronawetter erinnerte die Mitglieder des Hauses an jene Überzeugungen, für die das Gros der Abgeordneten 1848 selbst noch gestanden sei. Damals sei die Mehrzahl von ihnen für das gleiche Wahlrecht eingetreten: "Aber derlei ideale Gedanken wurden nur ausgesprochen, solange es im Interesse des dritten Standes, des heutigen dritten Standes gelegen war, sie auszusprechen. Damals, als dieser Satz ausgesprochen wurde, war der dritte und vierte Stand noch nicht geschieden."

Selbst der spätere Minister Bach habe sich, so Kronawetter, für das Wahlrecht der Arbeiter ausgesprochen, denn damals habe man "Leute gebraucht, die für die Interessen des heutigen dritten Standes auf den Barrikaden gestanden und geblutet haben". Sobald "aber der Sieg erfochten war, hat mit demselben Egoismus, mit dem der erste und der zweite Stand dem dritten gegenübergestanden war, der dritte den vierten von sich gestoßen."

Sehr viel weiter sei man in jenem Jahre 1848 gewesen, das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht habe jeder im Munde geführt, "das Wahlrecht und die Wählbarkeit weder durch den Census, noch durch das Religionsbekenntnis, noch durch die Gruppierung nach verschiedenen Ständen beschränkt". Nunmehr lägen die Dinge freilich anders, und man höre allerorten, dass der vierte Stand deshalb kein Wahlrecht haben dürfe, weil "die besitzlose Klasse für den Staat nichts leistet und insbesondere für dessen Erhaltung nichts zahlt".

Nichts aber sei der Wahrheit ferner als diese Behauptung, hielt Kronawetter fest. So sei etwa die Wehrpflicht eine allgemeine und müsse von jedem wehrfähigen Staatsbürger völlig ungeachtet seiner finanziellen Situation persönlich erfüllt werden. Nicht einmal in der Antike habe man von Sklaven oder im Mittelalter von den Leibeigenen verlangt, dass sie, denen kein öffentliches Recht zustand, sich für das Gemeinwesen schlügen. Nun aber bestünde in Österreich das Gros der Heere aus den Proletarii, während die besitzenden Klassen kaum Mitglieder genug hätten, um die Offizierstellen zu besetzen: "Ist die Erfüllung einer so ausgedehnten Wehrpflicht, der jedermann genügen muss, nichts dem Staat Geleistetes? Und hat der, der sie leisten muss, kein Interesse für das Wohl und das Gedeihen des Staates, für den er sein und seiner Kinder Blut hergeben muss?"

Kronawetter ging allerdings noch einen Schritt weiter. Nicht weniger als 200 Millionen Gulden – gegenüber 80 Millionen Gulden direkter Steuern – machten die indirekten Steuern aus, "und diese werden zum größten Teile von der nichtbesitzenden Klasse gezahlt, der man immer vorwirft, sie zahle nichts und habe kein Interesse am Gedeihen des Staates." Und nicht einmal für die direkten Steuern könnten sich die Besitzenden verantwortlich fühlen, denn auch diese zahlten de facto jene, die sie erarbeiteten und mit ihrer Arbeit verdienten: "Der hat die Steuer gezahlt, er hat auch das Recht, dass er wähle, denn in Wahrheit und in Wirklichkeit zahlt er die Steuer und nicht der, dessen Kassen nur der große Sammelkasten sind, in dem das Resultat der Arbeit anderer zusammenfließt."

Kübeck: Arbeit und Kapital bedingen einander
Max Kübeck (1835-1913) wies in seiner Replik darauf hin, dass es allerorten geboten ist, gewisse Regeln aufzustellen, ohne die gedeihliche Resultate nun einmal nicht zu erwarten seien. Dies gelte auch für das Staatswesen und für parlamentarische Vertretungen. Um das Wahlrecht übertragen zu bekommen, brauche es eine gewisse Reife, gewisse Befähigungen und eben die Erfüllung der Bedingungen, an die ein solches Recht naturgemäß geknüpft sein muss. Wenn ein Arbeiter all dies erfülle, so werde er am Wahlrechte auch nicht gehindert werden, zeigte sich Kübeck überzeugt.

Im übrigen müsse er in Erinnerung rufen, dass zwar das Kapital ohne Arbeiter nicht gedacht werden könne, dass aber auch die Arbeiter nicht ihrer Beschäftigung nachgehen könnte, gebe es das Kapital nicht, welches den Arbeitern erst die Möglichkeit gebe, Arbeit zu finden und auszuüben. Beide bedingten einander also, sodass "die Feindseligkeit der arbeitenden Klasse gegen die Kapitalbesitzer eigentlich vollständig naturwidrig ist und nur dem leider der menschlichen Natur eingegeben Gefühl der Missgunst und des Neides entspringt".

Wenn also die soziale Komponente in die Diskussion eingebracht worden sei, dann möge man sich erst einmal der Arbeitsbedingungen annehmen, ehe man den nächsten Schritt setzt. Man müsse die Grundlagen schaffen, dass die Arbeitszeit so gestaltet werde, dass die Arbeitenden genug Zeit für Gesundheitspflege und Fortbildung besäßen, was auch durch eigene Inspektoren entsprechend überprüft werden möge. Generell sei das Thema wert, mit großer Aufmerksamkeit betrachtet zu werden. Man dürfe nicht erwarten, dass die damit verbundenen Fragen schnell gelöst werden könnten, vielmehr solle man ihm mit dem Mut und der Klarheit gegenübertreten, der es "in den Augen der Gebildeten würdig ist".

Walterskirchen: Zuviel Demokratie macht unberechenbar
Nachdem sich der konservative Fabrikant Rudolf Auspitz (1837-1906) in ähnlichem Sinne zu Wort gemeldet hatte, ergriff Robert Walterskirchen (1839-1908) das Wort. Er warnte vor einem Zuviel an Demokratie, die dazu führen könnte, dass man vor einem "unberechenbaren Etwas" stünde. Zudem müsse man auf die jeweiligen Minoritäten Bedacht nehmen, denn ein Wahlrecht ohne Vertretung der Minoritäten wäre zweifelsfrei eine Ungerechtigkeit.

Dennoch wäre es seines Erachtens nach nicht unmöglich, den Arbeiter an der politischen Vertretung partizipieren zu lassen, doch müssten diese zuvor in die Lage versetzt werden, die Notwendigkeit der Interessenharmonie zu erkennen, damit sie wirklich für das Staatsganze einträten und nicht für ihre Partikularinteressen. Eine solche Arbeiterschaft würde erkennen, dass sie ihre Forderungen nicht mehr über ein gewisses Maß hinaus ausdehnen könne, ohne der Gemeinschaft und damit eben auch sich selbst zu schaden. Man müsse also die Arbeiter stufenweise zur politischen Reife hinführen, um, wenn sie sich dergestalt bewährt haben, ihnen auch die entsprechenden Rechte einräumen zu können, die sie jetzt schon begehren.

Ganahl: Vorarlberger Arbeiter fühlen sich als "Bürger"
Der Fabrikant Rudolf Ganahl (1833-1910) aus Feldkirch vertrat die Auffassung, die Vorarlberger Arbeiter sähen sich gar nicht als eigene Klasse, sie fühlten sich als Bürger. Dies liege auch daran, dass sie "sesshaft und nicht fahrend" seien, ihren eigenen Hausstand hätten und sogar das eine oder andere Grundstück, welches sie neben der Arbeit versorgten. Insofern wäre es in der Tat logisch, ihnen auch das Wahlrecht zuzuerkennen, eben weil die Lage in Vorarlberg sich von jener an anderen Orten unterscheide. Und daher sei die Forderung der Vorarlberger Arbeiter, ihnen das Wahlrecht zu geben, eine berechtigte, schloss Ganahl.

Josef Fanderlik (1839-1895), Rechtsanwalt aus Olmütz, griff die Wahldebatte noch einmal auf und meinte, wenn man schon den Arbeitern das Wahlrecht einräume, dann müsse man selbiges auf jeden Fall der Landbevölkerung geben, denn diese sei nicht minder zurückgesetzt, wiewohl sie doch die größte Majorität des Volkes seien, weshalb sie umgehend "in den Kreis der politisch Berechtigten hineingezogen" werden sollten.

Plener: Allgemeines Stimmrecht nicht vertretbar
Damit war die Debatte geschlossen, und Berichterstatter Ignaz von Plener (1810-1908) hielt das Schlusswort. Er nutzte die Gelegenheit zu einer politischen Stellungnahme. Das Wahlrecht sei keineswegs ein unveräußerliches Recht, das unter jeder Bedingung verlangt werden könne, vielmehr sei es "eine politische Funktion, welcher der Staat jenen verleihen kann, welche die Bürgschaft der Fähigkeit zur richtigen Ausführung desselben bieten".

Ein allgemeines Stimmrecht sei, so erklärte Plener, auch vom Standpunkt der Verfassung her nicht vertretbar. Würde man nun übereilt weitere Schritte setzen, so würde diese die Entwicklung der "freiheitlichen Institutionen und die Heranbildung einer zur Selbstverwaltung fähigen Bevölkerung verhindern".

Nachdem also auch der Berichterstatter seine Bedenken geäußert hatte, schritt das Haus zur Abstimmung und beschloss mehrheitlich, die Thematik an die Regierung abzutreten. Die sollte sich, wie es in der Entschließung des Abgeordnetenhauses hieß, mit der Frage eingehend befassen, um dem Hause zu gegebener Zeit entsprechende Vorschläge zu unterbreiten, wie mit dem Themenkomplex weiter zu verfahren sei. Die der Debatte zugrundeliegende Petition galt damit als erledigt.

In jener Gesetzgebungsperiode startete der Abgeordnete Kronawetter im Februar 1879 einen weiteren Versuch hinsichtlich des allgemeinen Wahlrechts, indem er eine Petition aus Reichenberg einbrachte, doch wurde diese nicht mehr behandelt, da die GP wenig später auslief.
 
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