Forscher der TU München und der Ludwig-Maximilians-Universität
München (LMU) sind dem physikalischen Verständnis der Fortbewegung und Zellteilung von Gewebe-Zellen
einen entscheidenden Schritt näher gekommen
München (idw) - Basierend auf Erkenntnissen über einzelne Bausteine des Grundgerüsts
von Zellen ist es Wissenschaftlern an TUM und LMU gelungen, das physikalische Verhalten des "Zytoskeletts"
zu erforschen und mittels theoretischer Berechnungen vorherzusagen. Diese Forschungsarbeit bildet eine wichtige
Grundlage für das Verständnis der mechanischen Eigenschaften von Gewebezellen. Für viele Prozesse
wie die der Zellteilung und Fortbewegung von Zellen haben die mechanischen Eigenschaften eine herausragende Bedeutung.
All diese Prozesse spielen zum Beispiel bei der Entstehung von Organen im Embryonalstadium von Lebewesen eine wichtige
Rolle. Mögliche praktische Anwendungen der neuen Erkenntnisse können die Entwicklung neuer Materialien
oder die Verbesserung medizinischer Untersuchungsmethoden sein.
Das Zytoskelett als Grundgerüst und Antriebsmotor von Zellen Den mechanischen Aufbau von tierischen Zellen
kann man sich wie den eines Luftschiffs vorstellen. Die äußere Hülle, die Zellmembran, wird im
Inneren der Zelle von einem Gerüst getragen und stabilisiert. Dieses Gerüst bezeichnet man als Zytoskelett.
Es besteht aus nur wenige Nanometer dünnen Fasern, die miteinander zu einem Netz verwoben sind. Als Baustoff
dienen so genannte Bio-Polymere. Diese weisen wie die Polymere in gewöhnlichen Kunststoffen eine kettenförmige
Struktur auf. Das elastische Verhalten von Biopolymeren lässt sich mit ähnlichen physikalischen Modellen
wie das der Kunststoff-Polymere beschreiben. Das Zytoskelett einer Zelle gibt ihr Stabilität gegen Krafteinwirkung
von außen und bleibt dabei elastisch und reißfest. Aber es spielt auch eine entscheidende Rolle bei
der Fortbewegung der Zelle. Hierbei verlagert sie die Bausteine ihres Zytoskeletts Schritt für Schritt nach
vorne, in Fortbewegungsrichtung entsteht vorübergehend ein Fortsatz, wie ein Arm. Dafür wird in Gegenrichtung
Material abgebaut. Durch diese Umbaumaßnahme bewegt sich das Zytoskelett insgesamt nach vorne, und mit ihm
die ganze Zelle. Eine derartige Fortbewegung von Zellen findet zum Beispiel statt, wenn sich bei einem Embryo Organe
entwickeln oder Zellen bei der Wundheilung an vorbestimmte Orte wandern. Das Zytoskelett ist somit hochdynamisch
und verändert ständig seine Struktur - ganz im Gegensatz zu einem Luftschiff oder sonstigen technischen
Werkstoffen die von Menschen entwickelt wurden.
Bündelbildung als Voraussetzung für die Zellbewegung Das Zytoskelett einer Zelle muss in Fortbewegungsrichtung
stabil genug sein, um sich in dem umgebenden Gewebe durchzusetzen. Diese Stabilität kann nur erreicht werden,
wenn die einzelnen Biopolymer-Fasern zu Bündeln verklebt sind - vereint sind die Elemente stärker. Eine
zentrale Rolle spielt dabei der "Klebstoff", der für diese Bündelung sorgt, so zum Beispiel
das Bindeprotein Fascin. Ausgehend von dem elastischen Verhalten einzelner Biopolymer-Bündel ist es der Garchinger
Forschergruppe um Prof. Andreas Bausch an der TU München nun gelungen, die Mechanik von solch einem Netzwerk
mit physikalischen Methoden zu erklären. Eine wichtige Grundlage waren dabei die theoretischen Berechnungen
der Arbeitsgruppe von Prof. Erwin Frey von der LMU. Beide Forschergruppen kooperieren eng im Rahmen des Exzellenzclusters
Nanosystems Initiative Munich (NIM).
Die Menge des Klebstoffs ist entscheidend Als Testsubstanz haben die Forscher aus dem Biopolymer Aktin und dem
Bindeprotein Fascin ein sehr kontrolliertes Modellsystem aufgebaut und auf die mechanischen und strukturellen Eigenschaften
hin untersucht. Die Rekonstruierung dieser Bausteine in solch einem Modellsystem stellt eine große Herausforderung
dar - Untersuchungen an diesen weichen Proben erfordern besonders hochempfindliche Techniken, die kleinste Verzerrungen
detektieren können und Nanometerstrukturen genauestens auflösen können. Wichtigstes Ergebnis: abhängig
von der Konzentration des "Klebstoffs" Fascin kann das Biopolymer-Netzwerk zwei strukturelle Zustände
annehmen. Im ersten Zustand liegen noch keine Aktin-Bündel vor, und eine Verformung wirkt sich gleichermaßen,
"affin", in allen Bereichen des Netzwerks aus. Es können allerdings keine stabilen Strukturen ausgebildet
werden. Im zweiten Zustand dagegen wird eine Verformung nicht mehr gleichmäßig auf alle Regionen des
Netzwerks übertragen, man spricht von "nicht-affinen" Verformungen. Diese Art der Verformung wurde
bisher nur vorhergesagt und konnte nun erstmals beobachtet und beschrieben werden. Ursache hierfür ist die
veränderte Struktur; das Netzwerk besteht nun ausschließlich aus stabileren Aktin-Bündeln. Diese
stabilen Bündel werden jedoch erst gebildet, sobald eine bestimmte Konzentration des Klebstoffs Fascin überschritten
wird. Dann sind so viele Verknüpfungen unter den Fasern ausgebildet, dass sich Bündel bilden. Nur so
können stabile Strukturen entstehen, wie zum Beispiel die Fortsätze, mit deren Hilfe sich die Zelle fortbewegt.
So können Zellen ganz geschickt auf biochemischem Wege die Mechanik lokal auf ihre Bedürfnisse einstellen.
Vom Verständnis der Zellmechanik zu neuen Materialien, Diagnosemethoden und Therapien Den Wissenschaftlern
ist es gelungen, ausgehend vom elastischen Verhalten einzelner Aktin-Bündel das Verhalten eines komplexen
Netzwerks aus diesen Fasern zu erklären. Die Möglichkeit erstmals makroskopische Eigenschaften solcher
Netzwerke mit der Verformung auf der Nanometerskala erklären zu können, stellt einen wesentlichen Schritt
in den Bemühungen dar, funktionale Module von Zellen unter Laborbedingungen nachzubilden und quantitativ zu
verstehen. Dies führt zu einem grundlegenden Verständnis des mechanischen Verhaltens tierischer Gewebezellen
und ihrer Fortbewegungsmechanismen. Diese sind nicht nur in vielen physiologischen Prozessen, wie Zellteilung oder
Wundheilung von größter Bedeutung, sondern auch für die Differenzierung von Stammzellen. Gleichzeitig
eröffnen sich damit ganz neue Möglichkeiten zur Herstellung neuartiger Werkstoffe anhand des biologischen
Vorbildes, etwa für Implantate oder Funktionswerkstoffe mit herausragenden mechanischen Eigenschaften. Auf
der anderen Seite können von dem genauen Verständnis der Zellmechanik auch die medizinische Diagnostik
und die therapeutische Beeinflussung krankhafter Prozesse im Körper profitieren. |