Paris (esa) - Wenn es Forschern endlich gelingt, abstrakte Theorie auch mit praktischen Experimenten zu
untermauern, ist dies Anlass zur Freude: so geschehen diese Woche, als ein Team aus italienischen und amerikanischen
Wissenschaftlern mit Hilfe eines fluidwissenschaftlichen Weltraumexperiments an Bord der Fotonkapsel M3 eine vor
zehn Jahren erstellte Theorie erstmals bestätigen konnte.
Obwohl sich die Kapsel erst seit einer Woche in der Umlaufbahn befindet, sorgen die Daten des Experiments GRADFLEX
(GRAdient-Driven FLuctuation EXperiment) unter Wissenschaftlern bereits jetzt für Aufregung, denn die ersten
Messungen stimmen mit den in den letzten zehn Jahren erarbeiteten detaillierten theoretischen Voraussagen qualitativ
überein.
Flüssigkeiten unterliegen grundsätzlich winzigen Temperatur- oder Konzentrationsschwankungen, die auf
die unterschiedliche Geschwindigkeit der einzelnen Moleküle zurückzuführen sind. Diese Schwankungen
sind jedoch in der Regel so gering, dass man sie kaum beobachten kann.
In den 90er Jahren entdeckten Wissenschaftler, dass diese winzigen Schwankungen in Flüssigkeiten und Gasen
steigen und sogar mit bloßem Auge wahrgenommen werden können, sobald ein starkes Temperaturgefälle
hergestellt wird. Erreicht wird dies entweder, indem eine dünne Flüssigkeitsschicht von unten erwärmt
wird, und zwar gerade so, dass keine Konvektion entsteht, oder durch Erwärmung der Flüssigkeit von oben,
wobei Konvektion ebenfalls verhindert wird, so dass genauere Messergebnisse erzielt werden können.
Erste Forschungsergebnisse konnten zwar bereits bei Experimenten am Boden gewonnen werden, ein wesentlich deutlicheres
Bild dieser Schwankungen wurde jedoch in schwereloser Umgebung erwartet. Mit der Foton-Mission bot sich nun die
Gelegenheit, die Vorhersagen zu überprüfen, und die vorausgesagten wie die tatsächlichen Ergebnisse
erwiesen sich als deckungsgleich.
„Die ersten Aufnahmen des Experiments wurden zum Nutzlastbetriebszentrum im schwedischen Kiruna gesendet und konnten
bereits nach wenigen Erdumrundungen am Boden empfangen werden“, erläuterte Professor Marzio Giglio, der einem
Team aus Wissenschaftlern des Physikalischen Instituts der Universität Mailand und des CNR-INFM (Istituto
Nazionale per la Fisica della Materia) vorsteht.
Die Aufnahmen erbrachten nun zur Freude der Wissenschaftler die visuelle Bestätigung ihrer theoretischen Vorhersagen,
denn sie zeigten einen deutlichen Anstieg der Schwankungen. Die Datenanalyse ergab ferner einen erheblichen Anstieg
des Ausmaßes der Schwankungen in Bezug auf Temperatur und Konzentration.
„Es kommt nur selten vor, dass eine theoretische Vorhersage anhand einer Weltraummission in einer derartigen Rekordzeit
bestätigt werden kann“, erklärte Olivier Minster, Leiter der ESA-Abteilung für physikalische Grundlagenforschung.
„Diese Ergebnisse sind für uns deshalb so wichtig, da sie die von uns bereits vor zehn Jahren vorhergesagten
Auswirkungen erstmals beweisen.“
„Die Aufnahmen aus der Foton-Kapsel ermöglichen eine Neuausrichtung unserer Forschungen, so dass wir die wissenschaftliche
Ausbeute dieser Mission weiter optimieren können“, so Professor David Cannell von der Universität von
Kalifornien in Santa Barbara (UCSB). „Nach Bergung der Experimente werden wir in unseren Labors noch viele Tausend
Aufnahmen zu analysieren haben, womit wir sicherlich noch eine Weile beschäftigt sein werden.“
„Unsere Ergebnisse könnten auch andere Bereiche der Schwerelosigkeitsforschung beeinflussen, wie etwa das
Wachstum von Kristallen, und vielleicht sogar neue Technologien außerhalb der Raumfahrt ermöglichen“,
vermutet Professor Giglio.
GRADFLEX ist eines von 43 wissenschaftlichen und technologischen ESA-Experimenten an Bord der zwölftägigen
Foton-M3-Mission, die mit dem Wiedereintritt der Kapsel in die Erdatmosphäre und der anschließenden
Landung in Kasachstan am 26. September zu Ende gehen wird. Die Bordexperimente werden daraufhin wieder den einzelnen
Forschungsinstituten ausgehändigt, wo sie in den kommenden Monaten sorgfältig ausgewertet werden. |