Quantensprung in der Beinprothetik   

erstellt am
17. 10. 07

Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg versorgt erstmals in Deutschland einen Patienten mit einem revolutionären Prothesen- Kniegelenk
Heidelberg (idw) - Nach den Worten des Leiters der Orthopädie-Technik, Alfons Fuchs, steht die Versorgung oberschenkelamputierter Patienten vor einem Quantensprung in der Passteilversorgung. Mitte September hat die Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg damit begonnen, deutschlandexklusiv die Versorgung mit einem neuartigen Prothesen- Kniegelenk einzuführen. Als erster Patient übt zurzeit der 35-jährige Frederick Romberg aus Heidelberg bereits eifrig das Gehen mit dem neuen High-Tech-Produkt.

Was ist so anders an dem neuen System? Konventionelle Prothesenkniegelenke arbeiten allesamt passiv, d. h. die Bewegungen, die die Prothese beim Gehen ausführt, z. B. das Beugen und Strecken des Prothesenkniegelenkes, werden alleine vom Patienten gesteuert und entstehen durch die von ihm zur Verfügung gestellte Kraft. Damit das Gangbild möglichst natürlich aussieht, werden diese Bewegungen beim Schwingen des Prothesenbeins gebremst.

Das führt bei jedem Schritt zu einem kontrollierten Energieverlust und kostet Kraft. Selbst die am weitesten entwickelten Kniegelenke wie das C-Leg der Firma Otto Bock oder das Rheo-Knie der Firma Össur arbeiten auf dieser Basis, wenn auch elektronisch gesteuert. Seit etwa zehn Jahren ist dies der Stand der Technik, der nur in Details weiter entwickelt werden konnte. Nun führt die Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg die nächste Generation der aktiven Prothesenkniegelenke in Deutschland ein.

Das Produkt mit dem ausdrucksvollen Namen Powerknee stammt aus Island und wird von der Firma Össur hergestellt. Ein leistungsstarker Elektromotor, der über eine hochkomplexe Elektronik gesteuert wird, erlaubt dem Oberschenkelamputierten das aktive Steigen von Treppen oder Hinauflaufen von schrägen Rampen. Dies war bisher alles nicht oder nur sehr unbefriedigend möglich, da das Prothesenkniegelenk nur indirekt über die hüftstreckende Muskulatur in Streckung gebracht werden konnte. Die Kraft dieser Muskulatur reicht natürlich nicht aus, um einem Patienten mit einer Oberschenkelprothese ein "alternierendes", (Schritt für Schritt) Treppensteigen zu ermöglichen. Dies war bisher nur so möglich, dass das gesunde Bein eine Stufe vorgesetzt wurde und dann die Prothese nachgezogen werden musste. Ähnlich verhält es sich beim bergauf Laufen auf einer schrägen Ebene. Auch dies ist für einen Oberschenkelamputierten sehr mühsam und kräftezehrend.

Auf dem Gelände der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg marschiert der erste in Deutschland versorgte Patient Frederick Romberg zur Zeit, begleitet von Physiotherapeuten, alle zwei Tage für jeweils zweimal eine Stunde Rampen und Treppen auf und ab und fordert dem Kniegelenk auch beim Laufen im Gelände alles ab. Das Powerknee nimmt ihm mit seiner neuen Technik die Arbeit ab, das Knie zu beugen, zu strecken und den Fuß noch vorne oben zu bewegen - eine große Erleichterung für den Prothesenträger.

Etwa acht Wochen lang dauert die erste Übungseinheit, bis Frederick Romberg den Umgang mit dem neuen Prothesen-Kniegelenk gelernt und die komplexe Ansteuerung der Elektronik verinnerlicht hat. Es ist ein neues Gefühl für ihn, dass er nun nicht mehr bergauf hinken muss, sondern dass er die Prothese aktiv Schritt für Schritt nach oben, vorbei am gesunden Bein, setzen kann. Zum ersten Mal wieder seit sieben Jahren, als er bei einem Motorradunfall ein Bein verloren hatte.

Ständig betreut wird er von Orthopädietechniker-Meister Olaf Gawron, dem Leiter der Prothetik, der sich seit 14 Jahren der Weiterentwicklung der Beinprothetik verschrieben hat. "Anfangs stand mir wegen der hoch komplizierten Regeltechnik noch ein Experte der Herstellerfirma zur Seite", berichtete er, denn es müssen immer wieder Feineinstellungen, angepasst auf die ganz persönliche Bedürfnisse des Patienten, vorgenommen werden." So liegt beispielsweise auch im Schuh des gesunden Fußes eine Einlegesole mit Sensoren, die mit der Steuerungselektronik des Kniegelenks verbunden ist. Die Energie für den Betrieb des Gelenks stammt aus fünf eingebauten Akkus.

Das Powerknee ist mit 4,5 Kilogramm Gewicht immerhin etwa dreimal so schwer wie bisherige Prothesenkniegelenke, was insbesondere in der Eingewöhnungsphase bei bestimmten Bewegungen Schwierigkeiten bereitet Eine Videodokumentation hilft den Technikern bei der Feinjustierung und beim Sammeln von Erfahrungen mit dem neuen Produkt.

Ebenso wie Frederick Romberg wieder das normale Laufen lernt, lernen auch die Techniker der Orthopädischen Universitätsklinik hinzu. Sie gewinnen wie der Patient ständig neue Erkenntnisse im Umgang mit dem Kniegelenk aus dem Norden. Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist stärker gefordert denn je. Mit Frederick Romberg haben die Heidelberger Orthopädietechniker aber nun nicht etwa einen ganz besonders geeigneten Patienten für ihr erstes Prothesenknie ausgewählt. Zwar gilt er als guter Prothesenläufer, und korrektes Gehen ist wichtig für die exakte Einstellung der vielen Sensoren. Andererseits hat Frederick Romberg bei seinem schlimmen Unfall auch zwei Drittel des Oberschenkels verloren, und da bedarf es einer ganz besonders guten Schafttechnik, um die Prothese individuell optimal auszurichten. "Aber genau das ist ja eine unserer Stärken", vermerkt Alfons Fuchs dazu.

Erstmals vorgestellt wurde das Powerknee im vergangenen Jahr auf einer Fachmesse als Weltneuheit. In den USA, Kanada und Skandinavien gibt es bereits einzelne Träger des neuen Prothesen-Kniegelenks. "Und auch wir wollen bei dieser Innovation wieder ganz vorne mit dabei sein, wie es bei allen bedeutenden Entwicklungen der Orthopädietechnik in Europa bisher der Fall war", betonte Dr. Frank Braatz, der Oberarzt für Technische Orthopädie der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg. So ist die Orthopädietechnik der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg immer wieder an Forschungsprojekten in der Arm- und Beinprothetik und auf anderen Gebieten der technischen Orthopädie beteiligt und kann auf einige Patente und Publikationen aus eigenem Haus verweisen.

Die Krankenkassen hingegen dürften eher mit gemischten Gefühlen auf diese bahnbrechende Innovation blicken, denn billig ist die neue Technik nicht. Bis alles perfekt läuft, können schon mal 80.000 bis 100.000 Euro fällig werden. Aber wie es so ist bei neuen Techniken: Sind erstmal die Kinderkrankheiten beseitigt und wird das neue Produkt routinemäßig verwendet, gehen in aller Regel auch die Kosten runter.
 
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