Würzburg (idw) - Wenn Kinder an einer bestimmten Art von Nierentumoren
erkranken, spielt Retinsäure möglicherweise eine tragende Rolle. Dieses Molekül kontrolliert eine
Reihe von Genen, die für das Zellwachstum bestimmend sind. Welche Mechanismen das Tumorwachstum in Gang setzen,
untersucht jetzt eine Arbeitsgruppe um den Würzburger Mediziner Manfred Gessler. Ziel ist es, neue Ansätze
für eine Therapie zu entdecken und ein Verfahren zu entwickeln, das Vorhersagen über den Verlauf der
Krankheit erlaubt. Unterstützt wird die Arbeit von der Wilhelm Sander- Stiftung.
Wilms-Tumor oder Nephroblastom: So lauten die Fachausdrücke für eine Form von Nierentumoren, an der vor
allem Kinder erkranken. Es handelt sich um den am häufigsten auftretenden bösartigen Nierentumor im Kindesalter;
er zeigt sich meist zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr, etwa eines von 10.000 Kindern ist davon betroffen.
Embryonale Nierenvorläuferzellen, deren Entwicklung entartet ist, gelten als Verursacher. "In diesen
Tumoren ist die Funktion von Steuerungsmechanismen der Embryonalentwicklung beeinträchtigt", erklärt
Manfred Gessler. Dabei spielt anscheinend auch Retinsäure eine tragende Rolle: Dieser Botenstoff, ein Vitamin
A-Abkömmling, ist unter anderem für das Wachstum der Nierenanlagen im Embryo notwendig, "ein Mangel
führt zu verkleinerten und fehlgebildeten Nieren", so Gessler.
Damit sie ihren Auftrag erledigen können, docken die Moleküle an Rezeptoren im Zellkern an, die die Aktivität
bestimmter Gene kontrollieren und die Funktion der Zellen damit steuern oder sogar umprogrammieren können.
"Dieser Signalweg ist in einigen Wilms-Tumoren fehlreguliert", erklärt Gessler. Deshalb will Arbeitsgruppe
nun Tumorzellkulturen mit Retinsäure behandeln, um so die Auswirkungen auf das Wachstumsverhalten und das
Überleben der Tumorzellen zu studieren. Geplant ist außerdem, die Arbeit der von Retinsäure regulierten
Gene gezielt zu beeinflussen. Dafür will die Gruppe mit Hilfe von Viren, die als Transporter fungieren, veränderte
Gene in die Zellen einschleusen.
"Es ist bekannt, dass in Wilms-Tumoren insbesondere Retinsäure- regulierte Gene nicht ausreichend arbeiten",
so Gessler weiter. Diese Fehlregulation sei vor allem bei den Patienten zu finden, die nach erfolgreicher Behandlung
später erneut einen Tumor entwickelten. Für eine Therapie könnte dieser Punkt von Bedeutung sein:
"Wenn wir wissen, wie gut die Gene ihre Arbeit erledigen, können wir eventuell daraus Prognosen über
den Verlauf der Krankheit ableiten und somit gezielter eine Behandlung aussuchen". Bedeutsamer sei jedoch,
dass diese reduzierte Aktivität des Retinsäure-Signals möglicherweise auch direkt therapeutisch
nutzbar sein könnte. In ersten Versuchen konnten die Mitglieder der Arbeitsgruppe bereits an zwei Tumorzellkulturen
zeigen, dass die Zugabe von Retinsäure die entsprechenden Zielgene zur verstärkten Aktivität anregt.
"Somit erscheint auch eine direkte Umsteuerung der Genexpression in diesen Tumorzellen durch Retinsäure
möglich", so der Mediziner.
Retinsäure wird schon bei anderen Tumorarten mit Erfolg als Chemotherapeutikum eingesetzt. Daher ist eine
klinische Anwendung auch bei Wilms-Tumoren gut vorstellbar. Bevor es soweit ist, müssen allerdings die Effekte
der Retinsäure auf Wilms-Tumorzellen im Detail bekannt sein. Die Arbeitsgruppe am Biozentrum wird deshalb
Kulturen von möglichst vielen verschiedenen Tumoren anlegen, mit Retinsäure behandeln und anschließend
die Auswirkungen auf Wachstum und Überlebensfähigkeit der Zellen analysieren. Um die Funktion einzelner
Zielgene besser zu verstehen, werden diese mit Hilfe von Viren in die Zellen zusätzlich eingeführt oder
in ihrer Funktion unterdrückt. Die Ergebnisse können dann die Grundlage für einen möglichen
Einsatz von Retinsäure in der Therapie schaffen. |