Der Verzicht auf Aggression in der Evolution von Superkolonien  

erstellt am
14. 11. 07

Wien (boku) - Eine normale Ameisenkolonie ist eine geschlossene Gesellschaft von Verwandten, mit einer oder wenigen Königinnen. Die Gesellschaft muss geschlossen bleiben, weil in der Zusammenarbeit tausender Arbeiterinnen enorme Ressourcen angehäuft werden. Diese Ressourcen sollen der eigenen Verwandtschaft dienen, nicht dem Nachbarklan - es gilt, möglichst viele Kopien der eigenen Gene ins evolutive Wettrennen zu entsenden, der Nachbar ist dabei Konkurrent. Um jeden Preis muss also verhindert werden, dass die geschlossene Gesellschaft "Ameisenkolonie" von Nicht-Verwandten infiltriert und ausgenützt wird und tatsächlich reagieren Ameisen normalerweise sehr aggressiv auf Angehörige anderer Ameisenkolonien derselben Art.

Nicht so in einer Superkolonie. Eine Superkolonie von Ameisen ist ein Mega-Netzwerk von Ameisennestern der selben Art, mit sehr, sehr vielen Königinnen. Die verbittert umkämpften Grenzen zwischen den einzelnen Ameisenkolonien sind gefallen, die Tiere aus einem Teil der Superkolonie können sich ungehindert in einen anderen Teil begeben, nie erleiden sie Aggression. Diese Hochburgen der Harmonie können sich über Kilometer erstrecken. Naturgemäss ist hier von Verwandtschaft keine Rede mehr, eigen und fremd sind bunt vermischt.

Aber was ist der Vorteil von Harmonie? Richtig, der Preis von Aggression ist hoch. Durch Aggression kommte es zu Verlusten, von Zeit und Energie, im schlimmsten Fall sterben Arbeiterinnen bei Scharmützeln. Aber auch indirekte Verluste entstehen, beispielsweise dadurch, dass Angehörige der eigenen Kolonie versehentlich für fremd gehalten werden und Opfer von Aggression aus den eigenen Reihen werden. Herrscht aber einmal die Harmonie der Superkolonie, entfällt all das, die Ameisen können mehr Ressourcen aquirieren, was wieder der Vermehrung zugute kommt, und sich besser auf Aussenfeinde konzentrieren. Und tatsächlich zählen superkoloniale Ameisen zu den ökologisch erfolgreichsten Organismen überhaupt. Sie dominieren ganze Lebensräume. Ganz besonders folgenschwer ist das, wenn superkoloniale Ameisen durch den Menschen in einen neuen Kontinent verschleppt werden. Dort haben sie keine natürlichen Feinde und vertreiben die heimische Fauna, bringen Ökosysteme aus dem Gleichgewicht, zerstören die Ernten, belästigen den Menschen - ein naturschutzbiologisches und ökonomisches Problem, zentrales Forschungsthema vieler Biologen.

Die Entstehung von Superkolonien aber ist nach wie vor ungeklärt. Ab wann und wieso schalten die Ameisen von Aggression auf Harmonie um? Forscherteams auf der ganzen Welt kämpfen darum, das Rätsel zu knacken. Was lockt, ist nicht nur ein möglicher Schlüssel zur Bekämpfung eingeschleppter Superkolonien, sondern auch die Klärung einer der schwierigsten Fragen in der Erforschung sozialer Evolution. Manche Forscher haben vermutet, dass die Bildung einer Superkolonie dann begünstigt wird, wenn der Grad der Verwandtschaft innerhalb der einzelnen Kolonien sinkt. Sind die Bande der Verwandtschaft zu den Ameisen aus dem eigenen Nest nicht mehr so straff, ist der Schritt zur Superkolonie kein großer mehr, war der Gedanke. Andere brachten auf, die Ameisen hätten ganz einfach verlernt, zwischen eigen und fremd zu unterscheiden. Klappt die Erkennung nicht mehr so recht, ist es besser auf Aggression zu verzichten, fremd und eigen fallen ihr sonst gleichermaßen zum Opfer.

Keine der bisherigen Theorien zur Entstehung von Superkolonien war letztlich universell befriedigend. Einzelfälle konnten wohl erklärt werden, aber ein Problem bei all diesen Ansätzen war, dass man fertige Superkolonien betrachtete. Und in dem Stadium ist es naturgemäß schwierig, zwischen Ursachen und Folgen zu unterscheiden - die Entwicklung ist eben abgeschlossen und über den ersten Schritt lässt sich nur mehr spekulieren.

Birgit Schlick-Steiner und Florian Steiner, Molekularökologen von der Universität für Bodenkultur in Wien, haben mit anderen Boku-Wissenschaftern ein multinationales Team auf einen ganz neuen Weg geführt. In einer Kooperation zwischen Österreich, Deutschland, Spanien und Australien wurde ein anderer, kaum erforschter Typ von Aggressionsverlust unter die Lupe genommen, jener zwischen Ameisenkolonien mit nur einer Königin. In der Top-Zeitschrift Current Biology berichten die Forscher, wie sie Methoden aus der Molekulargenetik, der Botenstoffchemie und der Verhaltensforschung kombiniert haben, um Licht in den rätselhaften Fall einer heimischen, unterirdisch lebenden Ameisenart, Lasius austriacus, zu bringen. Erst vor vier Jahren haben Schlick-Steiner und Steiner diese Ameisenart aus Niederösterreich, deren Arbeiterinnen gerade einmal 3 mm klein sind, als für die Wissenschaft neu beschrieben. Jetzt decken sie auf, dass Kolonien wirklich nur je eine Königin haben, dass aber zwischen den Kolonien jede Aggression verloren gegangen ist. Fallweise werden daher auch nicht-verwandte Arbeiterinnen einer Nachbarkolonie harmonisch aufgenommen. Trotzdem aber, und das ist das grundlegend Neue, bleibt der hohe Verwandtschaftsgrad innerhalb der Kolonie erhalten und die Tiere können sehr wohl noch zwischen eigen und fremd unterscheiden.

Es geht also doch auch friedlich! Die niederösterreichische Ameise hat, von der Wissenschaft bisher unbeachtet, einen eigenen Weg gefunden, auf Aggression zu verzichten. Lasius austriacus hat keine Superkolonien entwickelt, sondern unterhält ganz normale Ameisenkolonien. Lasius austriacus spart aber genau wie Superkolonien alle Kosten ein, die Aggression mit sich bringen würden. Schlick-Steiner auf die Frage, wieso gerade Lasius austriacus auf Aggression verzichten kann: "Wir vermuten, dass es die ökologischen Rahmenbedingungen sind, die es Lasius austriacus ermöglichen, auf Aggression zu verzichten. Die Ameisenart lebt von der Viehwirtschaft, züchtet Pflanzensaft saugende Wurzelläuse in den Nestern. Die Ameisen ernähren sich vom Honigtau, den die Wurzelläuse als Kot abgeben. Da ja die Nachbarkolonie ebenfalls ihr eigenes Vieh hat, dürfte der Konkurrenzdruck zwischen den Nachbarn gering sein. In dieser Situation zahlt es sich wahrscheinlich kaum aus, aggressiv zu sein - die Kosten würden die Nutzen der Aggression übertreffen. Und da Lasius austriacus nur selten aus seinem Nest heraus muss, ist trotz fehlender Aggression die Durchmischung zwischen Kolonien nicht groß und der Verwandtschaftsgrad innerhalb der Kolonien bleibt hoch, was ja so wichtig ist. Und übrigens ist Lasius austriacus kein zahnloser Feigling - die oft viel größeren Ameisen anderer Arten werden verbissen bekämpft."

Niederösterreich ein besonderer Nährboden des Friedens, Lasius austriacus die Ausnahmeerscheinung? Schlick-Steiner verneint. Daten zu 20 anderen Ameisenarten mit je einer Königin pro Nest - Vegetarier, Aasfresser und Mischköstler, quer durch den Stammbaum der Ameisen, aus allen Kontinenten, von der untersten Bodenschicht bis zum Baumwipfel - weisen auf ähnlichen Aggressionsverlust hin. So mancher Stein fehlt noch im Mosaik, und die Ursachen in all diesen Fällen müssen noch geklärt werden. Aber es zeichnet sich ab, dass Aggressionsverlust viel weiter verbreitet ist als bisher angenommen und dass die Soziobiologie ihr Bild von der Kolonie-Organisation bei Ameisen vielleicht grundlegend ändern muss.

Superkoloniebildung könnte, wie die Entdeckung an der BOKU erstmals glaubhaft macht, ganz einfach dadurch ausgelöst werden, dass der Verzicht auf Aggression als solcher erstrebenswert ist. Lasius austriacus selbst wird wahrscheinlich nie Superkolonien bilden, wie es für andere Ameisen offensichtlich die beste Lösung darstellt. Aber die niederösterreichische Ameise dient als Modell für das Prinzip Aggressionsverlust trotz hohen Verwandtschaftsgrads und trotz intakter Erkennung. Superkoloniebildung, so glauben die Wissenschafter, ist kein "Nebenprodukt" anderer Prozesse. Die explizite Berücksichtigung der Kosten und Nutzen wird der Ausgangspunkt für erfolgreiches ökologisches und evolutionäres Modellieren von Superkoloniebildung sein, meint Schlick-Steiner.

Die Moral von der Geschicht? Kooperation ist unwahrscheinlich in unserer Welt der Konkurrenz. Gelingt es aber, den brutalen Konkurrenzkampf durch friedvolles Miteinander zu ersetzen, gewinnen alle. Und wie auch aus anderen Winkeln der Biologie signalisiert wird, von Spinnen bis Bakterien: die Ökologie spielt bei der Evolution von Kooperation eine viel grössere Rolle als man sich noch bis vor kurzem erträumen ließ.
 
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